Brauchen wir noch Tabus? Gespräche auf dem Europäischen Markt


Ausarbeitung, 2000

51 Seiten


Leseprobe


Brauchen wir noch Tabus? -

Gespräche im Europäischen Markt

Eins

"Brauchen wir noch Tabus?"

"Wieso, gehst du sowieso gerade los?"

"Sonst würde ich ja nicht fragen."

"Warte mal einen Moment."

Während ich, den Autoschlüssel in der Hand, vor der Haustür warte, beginnt es drinnen zu klap- pern und zu rascheln. Zum Zeitvertreib lese ich das große Plakat am Zaun, obwohl ich den Text natürlich längst auswendig kenne: >Nachbarn ge- sucht: Noch Lebensraum frei im Gemeinsamen Eu- ropäischen Haus<. Diese Worte sind gedruckt. Handschriftlich hat jemand mit dickem Filzstift das Wort >vielleicht< eingefügt, und unten steht, ebenfalls von Hand geschrieben, der Satz: >Bitte rufen Sie nicht mehr an<.

Es dauert nicht lang, bis mein Partner für den Frieden wieder auf der Schwelle erscheint. Er zuckt die Schultern.

"Also, so auf Anhieb finde ich nichts dergleichen. Aber ich weiß auch nicht recht, wo suchen ... Hatten wir jemals welche?"

"Na, was ist denn jetzt?"

"Wenn du sowieso grad losgehst, kannst du ja mal gucken, was sie da haben."

Ich verstaue die Körbe im Wagen und mache mich auf den Weg zum Gemeinsamen Markt. Schon von Weitem sehe ich die Neonschrift über dem Gelän- de leuchten: >Globus Europa<, und wie immer denke ich dabei, dass die Anlage mit ihren rie- sigen Hallen und den weiten Betonflächen dazwi- schen eigentlich nicht europäisch aussieht, sondern mehr wie eine amerikanische Mall. Ich biege in den Parkplatz ein und passiere das Schild mit der Aufschrift >Freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital - hier gel- ten die Gesetze der Europäischen Union<.

Um es hinter mich zu bringen, frage ich gleich an der Information.

"Wo bitte finde ich Tabus?"

"Die Kosmetikabteilung ist gleich hier vorne, noch vor den Agrarprodukten."

"Das ist ein Missverständnis. Ich suche Tabus." "Na ... Warten Sie mal."

Der Computer wird angeworfen, das Mädchen schiebt die Ärmel ihres dunkelblauen Kittels zurück. Während sie auf den Monitor starrt, zähle ich zum Zeitvertrieb den Kreis aus gelben Sternen auf ihrem Rücken durch: Fünfzehn, stimmt.

"Ta-, Tabakwerbeverbot", murmelt sie. "Aha, hier, Tabus. Bei Naturvölkern die zeitweilige oder dauernde Heiligung eines mit Mana gefüll- ten ... Was sind denn Naturvölker?"

"Nein, nein, in anderer Bedeutung. Lesen Sie weiter."

"Etwas, das sich dem sprachlichen Zugriff aus Gründen einer unreflektierten Scheu entzieht - meinen Sie das vielleicht?"

Ich nicke.

"Warennummer gelöscht", sagt das Mädchen, "tut mir leid, ich kann Ihnen nicht recht weiterhelfen. Vielleicht fragen Sie mal in der WerteAbteilung nach."

Wo die ist, weiß ich, das ist meine Lieblings- abteilung. Für gewöhnlich wird man gut beraten. Man bekommt >Alles für die Demokratie< - Frei- heiten, Gleichheiten, Menschenrechte jeder Art, meist in guter Qualität. Wenn auch nicht ganz billig.

Hier ist mal wieder die Hölle los. Hinter einem Restposten Transzendenz entdecke ich die blauen Kittel zweier Angestellter, die sich miteinan- der unterhalten und dabei die Köpfe dicht zu- sammenstecken, um sich bei dem Lärm verständi- gen zu können.

"Was ist denn das für ein Krach?" rufe ich.

"Wie bitte?" ruft der ältere von beiden zurück.

Mir fällt es schon selbst ein: Sie bauen an, die Unterabteilung für Gemeinsame Grundrechte und Europäische Verfassung kommt hinzu. Ich trete näher.

"Entschuldigen Sie, ich suche Tabus!"

"Hier??"

Das ist keine vielversprechende Reaktion. Ich ziehe es vor, nichts weiter zu sagen, ich war- te.

"Also", sagt der ältere, "da müsste ich mal nachsehen."

Er macht aber keine Anstalten, sondern wendet nur den Kopf hin und her.

"Das ist jetzt nicht die Saison", sagt der an- dere.

"Fragen Sie doch mal in der Kosmetikabteilung."

"Oder bei OBI!"

Sehr witzig. So wichtig war es auch nicht, un- ser Haushalt hat ohne Tabus eigentlich immer gut funktioniert. Ich bedanke mich und ver- schwinde zwischen den Regalreihen, um nach den Waren zu suchen, die ich wirklich brauche. Auf dem Weg zur Kasse zupft es plötzlich an meinem Ärmel, und hinter mir steht der ältere der beiden Angestellten. Sein Atem geht schnell, wahrscheinlich ist er mir nachgerannt. Er ist kleiner als ich, trägt einen Schnauzbart wie Nietzsche, und als er zu sprechen beginnt, fällt mir auf, dass bei jedem Wort seine Nasenspitze zuckt.

"Hören Sie", sagt er, "das hat mir keine Ruhe gelassen. Ich muss Ihnen etwas zeigen." "Haben Sie noch welche gefunden?" "Nein, aber kommen Sie doch mal mit." Ich zögere, die vollen Warenkörbe ziehen mir die Arme lang, aber er läuft schon voraus. Wir passieren Rindfleisch und Bananen, Schildkröten und Thunfisch, dann schlagen wir einen Bogen um den Butterberg und stehen vor einer zweiflüge- ligen Metalltür.

"Das ist das Lager."

Da wäre ich auch von selbst draufgekommen. Die Skyline aus Pappkartons auf Europaletten zieht sich bis in neblige Ferne. Er geht weiter vor- aus. Gleich lasse ich alles fallen.

"Sehen Sie."

Ich sehe, aber erkenne nichts. Nur einen Stapel aus leeren Paletten und ein paar zusammengefal- tete Kartons. Er richtet einen für mich auf, und da ist der Aufkleber: >Tabus - Made in Ger- many <.

"Was bedeutet das?"

Er zuckt die Achseln.

"Wir hatten offensichtlich welche im Angebot", sagt er, "aber aus Gründen, die mir nicht be- kannt sind, ist jede Nachbestellung unterblie- ben."

Ich bedanke mich, ich muss jetzt zur Kasse, ich lasse ihn nachdenklich zurück, seinen Schnurr- bart zupfend und den Blick durch die leeren Kartons hindurch ins Endlose gerichtet.

Zwei

Beim Verlassen des Parkplatzes stecke ich im Stau. Vor mir kriecht im Schneckentempo ein LKW, auf dessen Heckklappe zu lesen ist: >Das Europäische Parlament - Wir können über alles reden<.

Der Verkäufer mit der zuckenden Nasenspitze sah aufgeregt aus, während er mir die leeren Kar- tons zeigte, als wittere er ein schreckliches Geheimnis hinter der Tatsache, dass der Europä- ische Markt keine Tabus made in Germany mehr vertreibt. Ich frage mich, was für ein Produkt diese Kartons ursprünglich enthalten haben mö- gen, und ob ich in meinem noch nicht so langen Leben überhaupt jemals einem Tabu begegnet bin.

Eine meiner Freundinnen und ihr großer Hund fallen mir ein. Häufig bemerken ihre Bekannten, das sei ja ein hübscher Hund, aber ob der nicht nachts mit seinen vielen Haaren im Bett liege? Daraufhin stößt meine Freundin immer entrüstet Luft durch die Zähne und antwortet: >Im Bett?? Das Bett ist für den Hund tabu !<

Was dieses Bettverbot ausmacht, ist klar: Es erhält sowohl das System häuslicher Ordnung als auch die hierarchische Beziehung zwischen mei- ner Freundin und ihrem Hund. Tabus sind also systemstabilisierend. Aber das kann man eigent- lich von jeder Regel behaupten, insbesondere von jedem Verbot. Jedes System hat seine Geset- ze, die den Unterworfenen Grenzen setzen, in- nerhalb derer ein einigermaßen friedliches Zu- sammenleben möglich ist. Es liegt also im Wesen einer Regel, das Funktionieren und den Fortbe- stand des Systems zu schützen, aus dem sie her- vorgegangen ist. Aber nicht jede Regel ist ein Tabu. Obsessives Betätigen der Hupe im Stau zum Beispiel gefährdet das Funktionieren des Straßenverkehrs und ist verboten; dennoch kann man es nicht als ein Tabu bezeichnen. Und ich höre auch wieder damit auf; der LKW-Fahrer vor mir hat sich wahrscheinlich schlafen gelegt. Was also unterscheidet ein Tabu von anderen, kodifizierten oder ungeschriebenen gesell- schaftlichen Normen?

Manchmal antwortet meine Freundin auch: >Ins Bett?? Da wagt der nicht mal dran zu denken!< - Diese Wendung benutzt sie synonym für >das ist tabu<.

Auch wenn der Hund wahrscheinlich sowieso nicht denken kann, lässt hier der Alltagssprachgebrauch Schlüsse zu auf zugrunde liegende Vorstellungen über die Bedeutung der Begriffe. Ein Tabu ist also, nach dem spontanen Ansatz meiner Freundin, ein Verbot, bei dem man an einen Verstoß nicht einmal denken will.

In einer amüsanten Formulierung im Preußischen Landrecht von 1794 wird auf Homosexualität Be- zug genommen als etwas, >das wegen seiner Ab- scheulichkeit hier nicht genannt werden kann<. Zweifellos: Tabu. Da schlägt sogar die Norm selbst sich die Hände vors Gesicht und verbie- tet etwas, das sie nicht einmal zu benennen wagt.

Endlich gelingt es mir, die Spur zu wechseln und mich an dem >Wir können über alles reden< - LKW vorbeizuschieben. Währenddessen einige ich mich mit mir selbst auf eine Definition: Ein Tabu ist ein Verbot, das seinen Inhalt, also letztlich sich selbst dem gedanklichen und erst recht dem sprachlichen Zugriff entzieht und daraus seine Wirksamkeit schöpft.

Bei diesen Überlegungen breitet sich ein seli- ges Lächeln auf meinen Lippen aus. Ein Verbot, dass sich selber durchsetzt! Eine Regel, die keiner Vollstreckung bedarf, die nicht auf die abschreckende Wirkung von Sanktionen angewiesen ist, weil der Handelnde gar nicht zur Abwägung der Vor- und Nachteile eines Verstoßes kommt, sondern bereits in einem Stadium vor dem ei- gentlichen Handlungsimpuls durch eine gedankli- che Schranke an einem Entschluss zu illegalem Verhalten gehindert wird ... Bei dieser Vor- stellung muss eine Völker- und Europarechtlerin ins Schwärmen kommen. Unseren internationalen Regeln fehlt es so schmerzlich an wirksamen Me- chanismen zu ihrer Durchsetzung, da mangels ü- bergeordneter Instanz Sanktionen auf zwischen- staatlicher Ebene nur in ganz begrenztem Maße oder gar nicht möglich sind. Damit bleibt der Wirkungsgrad internationaler Gesetze auf rela- tiv niedrigem Niveau, und immer wieder müssen wir der Tatsache ins Gesicht sehen, dass sich auch bei noch so sorgfältig ausgehandelten Ver- trägen und Konventionen die Auswirkungen auf die Realität hinter den noramtiven Erwartungen zurückbleiben. Vor diesem Hintergrund ist es eine verlockende Idee, es gäbe regulierende Me- chanismen, die zu ihrer Wirksamkeit gar nicht auf ein nachgeschaltetes Durchsetzungsverfahren angewiesen sind, sondern aus sich selbst heraus ihre Einhaltung erzwingen, indem ein Regelbruch bereits denkunmöglich ist! Menschenrechtsver- letzungen, Störungen des Weltfriedens, Eingrif- fe in den internationalen Handel und Verstöße gegen Grundsätze des globalen Umweltschutzes müssten genau das sein können: Tabu. Eigent- lich, träume ich für eine Minute, brauchen wir dringend ein paar internationale Tabus.

Jetzt hupt es hinter mir, weil der Stau sich auflöst und ich reglos und blöde lächelnd hin- ter dem Steuer sitze. Ich lege den Gang ein und kehre in die Realität zurück. Wer sollte denn, selbst wenn man solche Tabus nach Belieben er- zeugen könnte, deren Inhalt bestimmen? Ich selbst vielleicht? Der Dalai Lama? Kofi Annan? Beckenbauer? Dagegen steht die demokratische Idee: Die Entscheidung über ein Gesetz kann nur dann frei von Willkür und deshalb legitim sein, wenn sie von einem Gremium getroffen wird, das den Willen der Gesetzesunterworfenen repräsen- tiert. Und nur auf Grundlage dieser Legitimität können der erlassenen Regel die notwendigen Machtmittel zu ihrer Durchsetzung an die Seite gestellt werden.

Mit schneller werdender Fahrt laufen auch meine Gedanken immer flüssiger. Kommt ein Gesetz nun in diesem demokratischen Verfahren zustande, wird es nie als Tabu funktionieren können. Zu- nächst einmal gebietet in einer Demokratie der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und das dar- aus hervorgehende Rechtssicherheitsprinzip, dass jede Regel ihren Gegenstand klar und ein- deutig benennt und im Ganzen verständlich for- muliert ist. Ein Sachverhalt, der sich >dem sprachlichen Zugriff entzieht<, kann nicht Ge- genstand einer demokratischen Regel werden, und eine Norm, wie sie das Preußische Landrecht enthielt, wäre nach unseren heutigen Vorstel- lungen verfassungswidrig und deshalb nichtig. Schon daraus ergibt sich, dass die Inhalte de- mokratischer Gesetzgebung niemals Tabus sind, oder anders gesagt: Dass demokratische Regeln sich nicht auf tabuisierte Gegenstände beziehen können.

Vor allem aber wird in der parlamentarischen Debatte der Inhalt jeder geplanten Gesetzgebung zur öffentlichen Diskussion freigegeben und muss besprochen werden - jedes Verbot verliert spätestens hier seinen Tabucharakter, bevor es in Gesetzesform gegossen werden kann. Gezielter Tabuisierung von staatlicher Seite stehen immer die grundlegenden demokratischen Garantien der Rede- und Pressefreiheit entgegen. Und die wer- den in einer funktionierenden Demokratie von den Medien ausgiebig in Anspruch genommen.

Ich gehe vom Gas, als das Europäische Haus in Sicht kommt, und ziehe, während ich gemächlich die Einfahrt hinunterrolle, meine Schlussfolge- rung: Die Demokratie als Staatsform und das Phänomen des Tabus stehen in einem Verhältnis der Exklusivität zueinander - wo das eine ist, kann das andere nicht sein. Wo also demokrati- sches Denken und demokratische Gesetze eine Ge- sellschaft durchdrungen haben, werden Tabus Stück für Stück vernichtet. Und weil die Euro- päische Gemeinschaft ausschließlich vollständig demokratisierte Staaten miteinander vereint, gibt es auf dem Europäischen Markt keine Tabus made in Germany mehr. Und deshalb waren die Kartons leer.

Fertig, aus.

Der Motor steht still, ich sitze noch einen Moment im Wagen. Warum bleibt das Gefühl, dass dieses Ergebnis blanker Unsinn ist? - Vielleicht sollte ich jemanden fragen, der sich mit so etwas auskennt.

Drei

Ich drücke ein paar Mal kurz auf die Hupe, das verabredete Zeichen für >Rauskommen - Reintragen<. Nach wenigen Sekunden steht mein Partner für den Frieden vor mir und küsst mich.

"Na, alles gekriegt?"

"So ziemlich", murmele ich.

Er stutzt, hält mich auf Armlänge von sich weg und studiert mein Gesicht.

"Nanu", ruft er, "du hast ja wieder dieses supranationale Glänzen in den Augen!" Ich muss lächeln. >Supranationales Glänzen< diagnostiziert er mir immer, wenn ich, seiner Einschätzung nach, von einer Europäischen Frage infiziert wurde. Beim Hineintragen der Warenkörbe wage ich einen Vorstoß.

"Hör mal", sage ich, "wenn du spontan sagen müsstest, über was in Deutschland gegenwärtig weder gesprochen noch nachgedacht wird - was käme dir zuerst in den Sinn?"

Manchmal hat ein Überrumpelter in aller Naivität und Unschuld die beste Idee. Nur manchmal, wohlbemerkt, und nur dann, wenn der Überrumpelte nicht mit dem analytischen Verstand eines Naturwissenschaftlers begabt ist.

"Ganz langsam", sagt er. "Wenn darüber in Deutschland nicht nachgedacht wird, wie soll es dann mir als Deutschem überhaupt in den Sinn kommen können?"

Nebeneinander in der Küche räumen wir die Ein- käufe ein. Ich versuche es anders. "So als Mediziner", frage ich, "wie würdest du den Begriff des >Tabus< definieren?" "Ach, darum geht es!" ruft er und schaut in die beiden halb geleerten Warenkörbe. "Hast wohl keine gekriegt?"

"Nein", knurre ich, "ausverkauft und nicht nachbestellt."

"Macht doch nichts", sagt er, "mir war sowieso nicht klar, ob wir wirklich welche brauchen." "Freundlichst", sage ich, "beantwortest du bitte meine Frage."

"Also gut", sagt er, "nach Sigmund Freud. Das Tabu ist zwar ein Verbot. Aber es unterscheidet sich von allen moralischen oder religiösen Ver- haltensregeln dadurch, dass es seinem Ursprung nach nicht auf einen Gott oder eine andere Au- torität zurückgeführt werden kann. Anders als Moralverbote >verbietet es sich von selbst<, es ist keinem System eingereiht, das bestimmte Enthaltungen vorsieht und diese Notwendigkeit auch begründet. Im Gegenteil entbehrt das Tabu meist jeder nachvollziehbaren Begründung. Für Außenstehende ist es unverständlich, während es dem Unterworfenen selbstverständlich erscheint. Verstehst du?"

"Nein", sage ich. "Wo kommt es denn her?"

"Freud nimmt an, dass jedem Verbot ein Begehren zugrunde liegt, gegen welches das Verbot sich richtet. In bestimmten Fällen wird das Begehren ins Unterbewusste abgedrängt, um Konfliktminde- rung zu erreichen. Dabei wird das Verbot der Psyche introjiziert, wird Bestandteil der Per- sönlichkeit selbst. Damit erreicht es Tabu- Status."

"Und weil das alles so unbewusst ist", sage ich, "kannst du mir keine Auskunft darüber geben, welchen Tabus du selbst unterliegst?"

"Genau", sagt er und grinst.

"Das klingt nach Privatangelegenheit", sage ich. "Wieso haben sie dann so einen Kram über- haupt jemals im Europäischen Markt geführt?"

Mein Partner sortiert die letzte Tomate ein und wirft die Kühlschranktür ins Schloss.

"Weil ein Tabu nicht nur intra-psychisch wirkt", sagt er, "sondern auch inter- psychisch."

"Du meinst: Gesellschaftlich?"

"So in etwa. Im seelischen Haushalt des Einzel- nen hat das Bestehen eines Tabus stark verein- fachende Wirkung auf die Ökonomie ablaufender Prozesse. Weil es denkende Konfliktbearbeitung vermeidet, wird die Handlungsfähigkeit erhöht. Und im Zusammenleben mit anderen erleichtert es die Verständigung, stellt harmonische Gleich- stimmung her, ohne dass lange geredet werden müsste ..."

"Und weil das Tabu nach Freud keinem religiösen oder moralischen System entspringt oder einge- reiht ist, handelt es sich jedenfalls nicht um eine staatliche oder sonst autoritativ erlasse- ne Norm?"

"Könnte man wohl sagen."

"Komisch", sage ich, "zu einem ähnlichen Ergeb- nis bin ich auf anderem Weg auch gekommen." "Es scheint mir aber möglich", sagt er, "dass ein Tabu sich mit einer staatlich erlassenen Regel deckt."

"Aber nicht mehr in unserer modernen Gesellschaft", sage ich, "und weißt du, warum?" Er muss nicht lange nachdenken.

"Weil eine Demokratie die freie Presse kennt, sagt er, und demzufolge immer alles breitgequatscht wird, was Gegenstand von Politik und Gesetzgebung ist."

"Bravo", sage ich. "Aber das heißt nicht, dass es in Demokratien überhaupt nicht zu Tabubildungen kommt, oder?"

"Wahrscheinlich nicht", sagt er. "Ich kann mir sogar vorstellen, dass auch in Demokratien be- stehende Tabus von den Autoritäten im Dienst politischer Interessen instrumentalisiert wer- den. Wenn man an die Debatte der Nachkriegsjah- re denkt, an die Probleme mit der Vergangenheitsbewältigung ..."

"Aber", werfe ich eifrig ein, "vielleicht war der Demokratisierungsprozess damals noch nicht weit genug fortgeschritten, und Tabus entstan- den immer in Bereichen und wurden dort benutzt, wo der demokratische Diskurs noch nicht hin- reichte."

Er zuckt die Schultern und wendet sich zum Ge- hen.

"Hier verlassen wir definitiv den Bereich meiner ärztlichen Praxis", sagt er. "Wenn du was über den Tabubegriff der Soziologen wissen willst, geh doch mal zu der Rothaarigen aus Nummer 68. Die sieht ganz so aus, als hätte sie zu Zeiten der Frankfurter Schule lauschend auf der Hörsaaltreppe gesessen."

"Aber am Samstagabend einfach bei einer Wild- fremden anzuklopfen, das ist doch ..."

"Tabu?" fragt er ironisch und ist verschwunden.

Vier

Ihre Haare sind in der Tat rot, mit Sicherheit gefärbt, und sie trägt eine Bluse, deren Farben mir in den Augen brennen. Hier bin ich richtig. "Ich störe Sie mit einem seltsamen Anliegen", sage ich.

"Seltsame Anliegen sind mir die liebsten."

Sie öffnet die Wohnungstür sperrangelweit. Im Wohnzimmer versinke ich in einem Sitzsack, sie gießt mir Jasmintee ein.

"Ich wüsste gern", sage ich, "ob Sie mir etwas über die Entwicklung von Tabus in der deutschen Gesellschaft erzählen können."

"Ach", sagt sie, "es hat sich wohl herumgesprochen, dass ich mit Alexander Mitscherlich persönlich bekannt war?"

Davon hatte ich keine Ahnung.

"Ja", sage ich intuitiv.

Geschmeichelt streicht sie sich das rote Haar zurück.

"Dann sind Sie wohl von einer Zeitung?"

"Äh, nein", sage ich, "oder vielmehr, fast". Ich denke angestrengt nach.

"Ich arbeite an einem Essay", sage ich auf gut Glück. "An einer Abhandlung über die Frage: Brauchen wir noch Tabus?"

"Hochinteressant", nickt sie.

Sie lässt sich auf der Couch nieder und richtet den Blick zur Zimmerdecke, ich nippe an meinem Tee und verbrenne mir die Zunge.

"In der Tat war die Frage nach Tabus und deren Aufdeckung wichtiger Teil unserer damaligen De- batte", sagt sie. "In erster Linie ging es um die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit. Die Mitscherlichs stellten in ihrem berühmten Buch von 1967 die These auf, dass das deutsche Erin- nern während der Fünfziger Jahre durchweg vom Phänomen der De-Realisierung der faschistischen Zeit geprägt war. Nur bestimmte Teile der fa- schistischen Geschichte Deutschlands wurden in einem selektiven Prozess unter dem Stichwort >Vergangenheitsbewältigung< rekapituliert. Alle Ereignisse aber, die die volle Verantwortlich- keit Deutschlands für die Judenvernichtung, für den Weltkrieg und für die in die Gegenwart rei- chenden Konsequenzen im eigenen Land begründe- ten, waren tabuisiert, wurden totgeschwiegen und vergessen."

"Mich interessiert vor allem, was unter dem Begriff des Tabus verstanden und wie er gebraucht wurde."

"Nach unserem damaligen Verständnis", sagt sie, "war das Tabu ein Mechanismus, der im Umgang der Gesellschaft mit ihrer eigenen Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft wirkt. Es wurde de- finiert als das Nicht-Anerkennen von Folgen der Vergangenheit in der Gegenwart, als ein hoch- problematisches Werkzeug zur Garantierung von Kontinuität in der eigenen Geschichte. Mit- scherlich verstand unter Tabu das Festklammern an einer idealisierten Vergangenheit und eine Weigerung, die gegenwärtige Realität zu erken- nen. Das Nicht-Anerkennen der DDR durch die Bundesregierung war ein solches Phänomen. In der utopisch erscheinenden Forderung einer Wie- dervereinigung zeigte sich, dass der Zustand der deutschen Teilung nicht als selbstverschul- dete Folge des Weltkriegs und zu akzeptierende Tatsache gedacht werden durfte. Die deutsche Spaltung als unabänderlicher Teil der Realität war eins der am stärksten und am längsten wir- kenden Tabus."

"Ein Tabu", sage ich, "wurde also als Ordnungs- prinzip betrachtet, welches das Verständnis ei- ner Gesellschaft für die eigene Geschichte be- stimmt? Die Psychoanalyse würde widersprechen." "In diesem Sinne", sagt sie, "wurde der Begriff des Tabus für die gegebene politische Situation nutzbar gemacht; zugegebenermaßen nicht immer auf Grundlage einer präzisen, einheitlichen Begriffsbestimmung. Auch nahm uns die Gegensei- te bald das Wort aus dem Mund: Schon in den 70gern warfen die Revisionisten der Linken vor, sie habe durch die Debatte selbst Tabus errich- tet, mit der Folge, dass ein Deutscher einem Menschen, der ihn im Gedränge grob mit dem Ellenbogen anstößt, nicht mehr die Meinung sagen darf, sobald sich herausstellt, dass der Rüpel ein Jude ist."

"Lassen Tabus sich denn >errichten<?"

"Um derartige Fragen beantworten zu können", sagt sie, "analysierten einige von uns das Ver- halten der deutschen Gesellschaft unter dem Stichwort >Sozialpathologie< auch nach der Freudschen Methode. Ein Tabu ist nach diesem Ansatz der Druck, den das soziale Über-Ich auf das Ich ausübt, so dass bestimmte Tatsachen ins kollektive Unterbewusste abgedrängt werden. Davon ausgehend, ließe sich die Erzeugung eines Tabus vielleicht nicht planen, möglicherweise aber prognostizieren. Es entstände immer dann, wenn eine starke moralische Autorität - das >Ü- ber-Ich< - ihre Stimme mit Nachdruck zu einem so empfindlichen Thema erhebt, dass die Gesell- schaft nicht mit Auseinandersetzung, sondern mit Verdrängung reagiert."

"Was für Autoritäten wären das?" frage ich.

"In der Nachkriegszeit die Adenauer-Regierung", sagt sie, "unterstützt durch die Alliierten. Davor das faschistische Regime, noch früher der Kaiser, die Kirche. Später vielleicht tatsächlich die intellektuelle Linke."

"Die deutsche Gesellschaft als traumatisierte Persönlichkeit", sage ich.

"Eine Analysemethode. Der Tabubruch wurde als Therapie gesehen, als Mittel zur Ideologiekri- tik."

"Ob wir Tabus brauchen", sage ich, "wäre dann eine ganz überflüssige Frage?"

"Auch wenn wir das psychoanalytische Verfahren beiseite lassen, liegt jedenfalls im Bestehen von Tabus eine Gefahr für die Gesellschaft. Sie bleibt rückständig, wenn sie sich mit ihrer ei- genen Gegenwart und deren historischen Hinter- gründen nicht auseinandersetzen will. Tabus be- wahren Vorurteile und Ressentiments und ver- stellen den Blick auf die Realität. Und bei mangelndem Realitätssinn besteht immer das Ri- siko, von zukünftigen Entwicklungen überrumpelt zu werden, alte Fehler zu wiederholen."

"Aber möglicherweise könnten Tabus doch eine harmonisierende Funktion für die Gesellschaft haben, die nicht unbedingt negativ sein muss." Ich sehe das Funkeln in ihren Augen.

"Allgemein gesprochen", füge ich schnell hinzu.

"Nicht negativ?" fragt sie scharf. "Ich erinne- re daran, dass die Deutschen definitiv einmal zu viel in ihrer Geschichte von einer Angele- genheit alle >nichts gewusst< haben!"

Einen Moment schweigen wir beide. Die Judenver- nichtung, denke ich, als ein totalitär verord- netes Tabu.

"Wenn Harmonie bedeutet", sagt sie ruhiger, "dass über eine konfliktträchtige Angelegenheit nicht gesprochen werden kann, dann ist Harmonie etwas zutiefst Undemokratisches."

Ich beschließe, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

"Darauf wollte ich gerade kommen", sage ich. "Wenn in den Sechziger Jahren über all das ge- sprochen wurde, galten diese Tabus doch bereits nicht mehr?"

"Eine Gruppe von Intellektuellen trat als Tabubrecher auf", sagt sie, "und gesamtgesellschaftlich ausgeräumt waren die Tabus erst, als die Debatte endlich in aller Öffentlichkeit geführt wurde. Der Tabubegriff wurde ja vor allem im Rückblick auf die Fünfziger Jahre eingeführt, einen Zeitraum, in dem noch niemand wagte, das Thema zu behandeln."

Jetzt muss ich meine neue Theorie an ihr ausprobieren.

"Glauben Sie, dass Tabus dort nicht mehr vorkommen, wo ein gesellschaftliches Diskurssystem als demokratisiert gelten kann?"

"Naja", sagt sie, "den Deutschen war die Demo- kratie nach dem Krieg in der Tat verordnet wor- den, und manch einer sagte, wir hätten die De- mokratie ebenso gehorsam übernommen und ausge- führt wie einen Führerbefehl. Man muss diesen Ausspruch nicht mögen, aber feststeht, dass die Deutschen keine Bastille kannten, auf der sie für die Demokratisierung ihres Landes hätten kämpfen können. Vor 1945 galt die Demokratie den Deutschen als amoralisch und zersetzend, schon kurz nach 1945 war sie ein Heilsverspre- chen. Viele gingen deshalb davon aus, dass weit in die Nachkriegszeit hinein die deutsche Gesellschaft einen guten Nährboden für Tabus, für Verdrängungen und Nicht-Thematisierungen aller Art abgab. Mitscherlich vertrat die An- sicht, die Deutschen hätten die Demokratie nicht verinnerlicht, sondern einfach gegen das Wertesystem des Dritten Reichs ausgetauscht: Die Dogmen des Hitlerregimes, unter den Stich- wörtern Herrenrasse und Großdeutschland, waren nach 1945 schlagartig tabuisiert, während die vormals tabuisierten demokratischen Werte zum Dogma erhoben wurden. Zusätzlich wies er eine Wechselwirkung nach, in dem Sinne, dass eine undemokratische Gesellschaft zu Tabuisierungen neigt und andersherum Tabus die Demokratisie- rung einer Gesellschaft hemmen."

"Und heute", dränge ich, "können dann heute noch Tabus bestehen?"

Sie senkt den Blick von der Zimmerdecke herun- ter, an der sich ihre Erinnerungen abzuspielen scheinen, und schaut mich unsicher an.

"Heute? Mit heute kenne ich mich nicht so aus." Sie denkt nach.

"Kindesmissbrauch", schlage ich vor. "Oder Gen- technik. Atomkraft. Neonazismus. Aufarbeitung des Kommunismus. Zwangsarbeiterentschädigung. Internet."

"Sind doch alles Talkshowthemen", sagt sie.

"Sie glauben also auch, dass es wegen der inflationären Gesprächskultur keine mehr gibt", sage ich enttäuscht.

"Ganz spontan", sagt sie, "würde ich mich vor allem fragen, welche gesellschaftliche Kraft derzeit noch genug Autorität besitzt, um eine Verdrängung überhaupt erzeugen zu können. Die Intellektuelle bestimmt nicht, und die Regierung Schröder auch nicht."

Sie verzieht spöttisch den Mund, ich nicke resigniert.

"Oder wir warten alle noch auf die nächsten, echten Tabubrecher", sagt sie tröstend.

Ich stehe auf und bedanke mich. Auf der Treppe ist mir schwindelig vom Jasmintee.

F ü nf

Zwei Wochen später bin ich wieder mal im Gemeinsamen Markt. In der Werteabteilung geht es zu wie auf dem Jahrmarkt, eine große Menschenmenge drängt sich um einen Stand, an dem eine neues Produkt namens >Leitkultur< präsentiert wird. Ich sehe zu, dass ich schnell wieder nach draußen komme. Meinen Verkäufer mit der zuckenden Nase entdecke ich nirgends.

Beim Beladen des Kofferraums tippt mir jemand auf die Schulter. Ich erkenne ihn erst auf den zweiten Blick. Sein Schnauzer geht in einen wachsenden Backenbart über, er trägt jetzt Brille und ist gekleidet wie ein Landstreicher. "Achten Sie nicht auf meine Erscheinung", sagt er, "das ist Tarnung."

"Was machen Sie hier draußen?" frage ich.

"Es mag seltsam klingen", sagt er, "aber ich warte auf Sie. Ich muss mit Ihnen reden."

Ich schütze vor, keine Zeit zu haben; er hört nicht zu und zieht mich mit sich um das Gebäude herum, bis in einen Winkel des Geländes, in dem nur ein paar ausrangierte Einkaufswagen stehen. "Hier sind wir ungestört", sagt er.

Und dann erzählt er mir, wie er seinen Job im Europäischen Markt verloren hat.

Die Entdeckung der leeren Kartons im Lager hat- te ihm keine Ruhe mehr gelassen, und deshalb beschloss er, den Abteilungsleiter danach zu fragen. Der antwortete barsch mit einer Gegen- frage:

>Brauchen wir denn noch welche?<

Damit gab der Verkäufer sich nicht zufrieden. Wieso >noch<? Haben wir jemals welche gebraucht? Und wenn ja, wozu? Und warum jetzt nicht mehr? Und wer ist überhaupt >wir<? Die Deutschen? Die Bürger der Europäischen Gemeinschaft? Oder die Regierung?

Sein Vorgesetzter antwortete, er solle sich nicht in Fragen der Geschäftsleitung einmi- schen. Als er fragte, ob es etwas zu verheimli- chen gäbe, erhielt er eine Verwarnung. Am nächsten Tag erwischte man ihn dabei, als er versuchte, einen der leeren Kartons aus dem Ge- bäude zu entfernen. Fristlose Kündigung.

"Das ist ein Skandal", sage ich.

"Merken Sie nichts?" fragt er triumphierend. "So behandelt man nur einen: Den Tabubrecher, der einer Heiligen Kuh zu nahe gekommen ist." Seine Nasenspitze zuckt nicht nur, sie zittert regelrecht. Es hat etwas Manisches, wie er sich nach vorne beugt, um meinen Arm zu fassen.

"Ich habe Nachforschungen angestellt", sagt er. "Bei Tabus handelt es sich nicht um Artikel aus der üblichen Werteproduktion. Wir hatten sie immer nur zu Schleuderpreisen im Angebot, nachdem das Verfallsdatum schon überschritten war." "Ich muss gehen", sage ich.

"Einen Moment", sagt er, "ich kann sonst mit niemanden darüber reden, und immerhin haben Sie mich in diese Situation gebracht."

Ich resigniere und setze mich auf einen der kaputten Einkaufswagen.

"Es gibt einen paradoxen Zusammenhang zwischen der Ungültigkeit und der Marktfähigkeit dieses Produkts. In dem Moment, wenn sich ein Tabu als solches ausgezeichnet in unserem Angebot findet, können Sie sicher sein, dass es keins mehr ist oder nie eines war."

Darin erkenne ich meinen eigenen Gedankengang wieder.

"Selbstverständlich", sage ich, "ein Tabu ent- hält eine Sprachregelung. Wenn es benennbar wird, ist es schon im Zerfall begriffen."

"Sie können mir folgen", sagt er. "Dann werden Sie auch meine nächste Schlussfolgerung verste- hen. Was bedeutet es also, wenn auf dem Markt keine Tabus made in Germany erhältlich sind? Wenn niemand etwas davon weiß oder wissen will?"

Eigentlich ist das die Frage, die ich mir selbst immer wieder während der letzten Tage gestellt habe. Ich merke, wie ich wider Willen Feuer fange.

"Also was?" dränge ich.

"Sie sind nicht selbst darauf gekommen. Ich er- kläre es Ihnen. Ich selbst kann mich rühmen, den gesamten Zusammenhang durchschaut zu ha- ben."

"Die Frage", beginnt er, "ob wir noch Tabus brauchen und die Vorfrage, ob in unserer heuti- gen Gesellschaft noch welche bestehen, setzen eine Gegenwartsdiagnose voraus. Ein schwieriges Unterfangen, da sich beim Nachdenken über die eigene Zeit die gesellschaftlichen und politi- schen Gegebenheiten, die eigentlich Objekt der Betrachtung sein sollen, im Betrachtenden selbst reproduzieren. Bei der Suche nach Tabus kommt erschwerend hinzu, dass es sich um Mecha- nismen handelt, die auf unbewusster Ebene wir- ken. Das erkennen wir am besten im historischen Rückblick. "

- Ob ich ein Beispiel wolle? Natürlich will ich.

"Das geozentrische Weltbild", sagt er. "Aus heutiger Sicht würde man sagen: Die Vorstellung einer sich um die Sonne bewegenden Erde war zu Zeiten vor der Aufklärung tabuisiert. Dem Durchschnittschristen aber war die Annahme, sich auf der Erde im Mittelpunkt von Gottes Schöpfung zu befinden, so selbstverständlich wie die Existenz des Stuhls, auf dem er gerade saß, oder die Existenz der Farbe rot. Er emp- fand also gar nicht das Bestehen eines Verbots, an der geozentrischen Idee zu zweifeln, sondern nur die Absurdität der Vorstellung, die Erde könne sich um einen anderen Himmelskörper dre- hen. Eine solche Ansicht war nicht nur verbo- ten, sie war in erster Linie - Unsinn."

"Bis Kopernikus und Galilei", sage ich.

"Wenn der erste Tabubrecher auftaucht", sagt er, "erkennt man an der Reaktion seiner Umwelt die wahre Natur des Verbots."

"Ein extremes Beispiel", sage ich.

"Ja", gibt er zu, "es soll nur die Erkenntnisschwierigkeiten verdeutlichen, vor denen wir stehen, wenn wir nach gültigen Tabus fragen, die im Gewand selbstverständlicher Wahrheiten auftreten können."

"Wenn aber vor Kopernikus einfach niemand auf die Idee von einem heliozentrischen Sonnensystem und die entsprechenden Forschungsergebnisse gekommen ist?"

"Abgesehen davon, dass bereits aus der Antike Berechnungen zur tatsächlichen Gestalt des Son- nensystems überliefert waren, müssten wir fra- gen: Und warum ist niemand darauf gekommen? Weil ein Tabu bereits verhindert, sich dem ver- botenen Gegenstand als einer ausforschbaren Gegebenheit der Realität zu nähern."

Ich nicke.

"Auch in den Sechziger Jahre", sage ich, "wurde das Tabu als eine besondere Form der Gegenwartsblindheit betrachtet, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang."

"Das Erkennen eines Tabus, das heißt: Seine I- dentifizierung als solches gelingt immer erst, wenn die Kluft zwischen der Realität und der durch das Tabu erzeugten Nicht-Kenntnis oder Nicht-Akzeptanz von Realität so groß geworden ist, dass die Waage, welche das Erkenntnisinte- resse und die verinnerlichte Scheu vor Tabu- bruch im Gleichgewicht hält, schließlich zu- gunsten des ersteren ausschlägt."

Ich bin einverstanden und nicke noch eine Weile weiter vor mich hin.

"Gut", sagt er, "jetzt machen wir einen Zwi- schenschritt und formulieren eine Definition: Eine Schranke, die es verbietet, eine Abmachung in Frage zu stellen, auf die sich irgendein System menschlichen Zusammenseins stützt, ist dann ein Tabu, wenn sie soweit verinnerlicht wird, dass sich nicht mehr als Verbot wahrge- nommen werden kann, sondern nur als Grenze der bestehenden Realität, als Grenze des Mögli- chen."

"Okay", sage ich. "Das Tabu als erkenntnistheoretisches Problem."

"Wir können die Entwicklung eines Tabus in drei Phasen unterteilen", sagt er. "Zuerst bildet sich das System heraus - sei es eine Familie, ein Verein, eine Gruppe von Angehörigen einer bestimmten Religion; sei es ein ganzer Staat. In diesem Prozess werden die notwendigen Unter- scheidungen getroffen, zwischen Dazugehörigem und Außenstehendem, zwischen richtigen und fal- schen Annahmen, zwischen gut und böse. In der nächsten Phase wird das adaptierte System ver- absolutiert, es erreicht das Maximum seiner Funktionsfähigkeit. Dies ist gleichzeitig die Blütezeit von Tabus."

"Moment mal", sage ich, "und welche Regeln wer- den zu Tabus, zu individuell bei jedem Einzel- nen funktionierenden psychischen Verhaltens- schranken, und welche bleiben bewusst und re- flektierbar?"

Er zögert.

"Eine schwierige Frage", sagt er, "wahrscheinlich die schwierigste von allen Fragen zu diesem Thema. Ich möchte die These aufstellen, dass solche Einwände tabuisiert werden, die das Fundament des Systems angreifen, die also existenzbedrohende Wirkung haben."

"Das macht Sinn", sage ich. "Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch als soziales Wesen seine Identität über seine Gruppenzugehörigkeit definiert, ist es für die individuelle Integri- tät wichtig, dass alles, was die Gemeinschaft und seine Einbindung in diese in Frage stellt, in den Bereich des Unmöglichen, Undenkbaren ab- geschoben wird. Damit werden sozio-politische Realitäten zu individual-psychologischen Prob- lemen. Sie können nicht nur den Zusammenschluss bedrohen, sondern auch den Einzelnen selbst, und unterliegen deshalb den Mechanismen der Verdrängung. Stimmt's?"

"Wahrscheinlich", sagt er vage.

Anscheinend hat er Freud nicht gelesen, und er hat auch keinen Lebensgefährten, der Freud gelesen hat.

"In der dritten Phase", nimmt er seinen Faden wieder auf, "beginnt der Niedergang des Sys- tems. Zwei Zweifler begegnen sich und bestäti- gen sich gegenseitig, dass sie nicht verrückt sind, nur weil sie das nicht glauben, was alle glauben. Sie erheben die Stimme, werden mögli- cherweise von den Selbstreinigungsprozessen der Gemeinschaft erfasst und zum Schweigen ge- bracht, aber einige haben sie gehört, es kommen neue nach. Die Tabus sind gebrochen, es beginnt ein geistiger und manchmal auch körperlich- blutiger Kampf, und das System geht unter oder reformiert sich. Und schließlich, während neue Strukturen herausgebildet werden, erleben wir ein großes Kopfschütteln und Belächeln des Unsinns, den vor gar nicht so langer Zeit tatsächlich alle noch geglaubt haben: Eine unbewegte Erde, meine Güte."

Er starrt mich an, als würde er auf etwas warten. Ich starre zurück.

"Was also bedeutet es", fragt er, "wenn auf unserem gegenwärtigen Markt keine Tabus made in Germany gehandelt werden?"

Ich muss nicht lange überlegen.

"Dass die bundesdeutsche, demokratische Gesell- schaft sich in Phase Zwei befindet", sage ich. Feierlich legt er mir beide Hände auf die Schultern.

"Sie haben es erfasst", sagt er und setzt sich.

Sechs

"Na dann, schönen Tag noch!"

"Hiergeblieben."

Schon wieder fasst er mich am Ärmel.

"Wollen Sie nicht wissen, welche Tabus das sind, die unsere Epoche beherrschen und uns die Sicht auf die Gegenwart verstellen?"

"Doch", sage ich. "Aber ich warte einfach auf den Beginn von Phase Drei."

"Phase Drei", sagt er, "wird hiermit eingeläu- tet."

Er sieht fiebrig aus, als stände er im Begriff, eine konspirative Zelle zu gründen.

"Und wie sollen wir finden", frage ich, "was niemand finden kann?"

"Mit Hilfe eines Tricks", sagt er. "Aus einer fiktiven Zukunft betrachten wir die Gegenwart als Vergangenheit."

Ich will gerade >hä???< sagen, da habe ich es verstanden.

"Wir simulieren einen Rückblick?"

"Als eine Methode des Brainstormings", sagt er. "Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Histori- kerin im Jahr 2100, die sich vorstellt, eine Völkerrechtlerin im Jahr 2000 zu sein. Ich hin- gegen werde mich in einen Journalisten des Jah- res 2100 hineinversetzen, der sich in einen entlassenen Verkäufer des Jahres 2000 hinein- versetzt. Wir treffen uns und geraten ins Plau- dern."

Ich zögere. Mein Partner für den Frieden würde mir jetzt wahrscheinlich nicht nur supranationales Augenglänzen, sondern supranationale Geistesverwirrung diagnostizieren.

"Wovor haben Sie denn Angst", fragt er, "Sie waren doch so neugierig?"

Ich habe keine Angst. Nur das Gefühl, mich ei- ner Schwelle zu nähern, die ich auf keinen Fall betreten, geschweige denn überschreiten sollte. Er mustert mich aufmerksam, dann lächelt er. "Keine Sorge", sagt er, "auch wenn wir etwas finden sollten: Hier hört uns keiner."

Für ein paar Sekunden sitzen wir reglos, jeder auf seinem Einkaufswagen, und konzentrieren uns. Der Wind hat aufgefrischt, mir ist ein bisschen kalt.

"Westeuropa im Jahr 2000", fängt er an, "gut dreihundert Jahre nach Beginn der Aufklärung. Die Macht der Religion war längst gebrochen; jetzt glaubte man auch die Ideologien abge- schafft. In allen Bereichen regierte die Rati- onalität. Die Menschen lebten in hochdemokrati- sierten Gesellschaften, unternahmen erste Geh- versuche in der Kommunikationstechnologie, sa- hen sich kurz vor der endgültigen Aufschlüsse- lung des genetischen Codes des Menschen. Eine durch und durch tabulose Gesellschaft."

"Man durfte alles denken, denn es herrschte Meinungsfreiheit."

"Glaubensfreiheit."

"Redefreiheit."

"Ein Zeitalter", sagt er, "in dem nicht mehr von Freiheit, sondern von Freiheiten gesprochen wurde ..."

"... in dem höchstens Tabus tabu waren ..."

"... und die Devise der Medien lautete: Geben Sie mir ein heißes Eisen, damit ich es anfassen kann."

"Man kannte Werte ..."

"... keine Tabus oder Dogmen."

"Es gab keine Propaganda", sage ich, "sondern Werbung. Keine Wahrheiten, sondern Mehrheiten." Er lacht beifällig.

"Die demokratischen Werte waren über jeden I- deologieverdacht erhaben", sagt er.

"Sie orientierten sich an der einfachsten Sache der Welt: Das Beste für den Menschen."

"Zwar dachten auch die Kreuzritter, die Kommu- nisten und die Spanische Inquisition, sie hät- ten recht und handelten zum Besten ..." "... Wir aber hatten recht und handelten zum Besten."

"War es für einen Menschen des Jahres 2000 vor- stellbar, dass elementare demokratische Prinzi- pien, wie sie in den Menschenrechten verkörpert sind, nicht das in höchstem Maße Wünschens- und Beschützenswerteste darstellen?"

"Nein", sage ich.

"Bei angestrengtem Nachdenken, fiel jemandem ein Grund ein, warum diese Menschenrechte nicht auf der ganzen Welt gelten sollten?"

"Nein", sage ich, "undenkbar."

"Un-denkbar", wiederholt er langsam.

Wir schauen uns an.

"Wir sind nah dran", flüstert er, "machen Sie weiter."

"Im Jahr 2000", sage ich, "gab es keine Gegenkonzepte mehr zur geltenden Staatsform, was niemandem auffiel, obwohl zu allen Zeiten in der Geschichte Gegenkonzepte existiert hatten."

"Interessant", sagt er. "Niemand suchte nach Alternativen, nicht einmal aus akademischem Interessen, nicht einmal, um den Blick auf das Bestehende zu klären. Warum?"

"Weiß ich nicht", sage ich.

"Wo waren die Jungen Rebellen", ruft er, "die schon aus Prinzip immer etwas Anderes wollen als ihre Väter?"

"Die Begründung für die Alternativlosigkeit der Demokratie kam eigentlich nie über die Bemer- kung hinaus, dass die Demokratie die schlech- teste aller Staatsformen sei - abgesehen von sämtlichen anderen. Trotz nachlassenden Inte- resses der Bürger an der Politik brachte nie- mand, noch nicht einmal aus Provokationslust, die These in die öffentliche Debatte ein, dass die Demokratie sich überlebt habe, dass die Po- litikverdrossenheit der Gesellschaft kein vorü- bergehendes Phänomen, sondern ein Zeichen dafür sei, dass der Wille aufhörte, vom Volke auszu- gehen. Niemand wagte zu behaupten, die politi- schen Themen seien im Zeitalter von Computer- technologie, Genforschung, Internetkommunikati- on und globaler Marktwirtschaft viel zu kom- plex, um auf verständlichem Niveau in einer allgemeinen Debatte behandelt zu werden. Das demokratische Entscheidungsverfahren sei zu träge, um mit den hochdynamischen Veränderungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Internationaler Politik Schritt zu halten."

"Was wäre passiert", fragt er, "wenn, zum Beispiel, ein entlassener Angestellter des Europäischem Markts, öffentlich für eine Abschaffung der Demokratie plädiert hätte?"

"Man hätte ihn ausgelacht", sage ich, "oder als Verfassungsfeind verfolgt."

Sein Schweigen hat etwas Triumphierendes. Ich hole tief Luft.

"Aus dem Rückblick", sage ich, "aus Sicht des Jahres 2100, ist leicht zu erkennen, dass sich hinter der Überzeugung, bei der Demokratie han- dele es sich um die einzig mögliche Staatsform, ein Tabu verbarg."

Lange sagt keiner von uns ein Wort.

"Ende des Gedankenspiels", fordere ich dann. Und füge sachlich hinzu: "Wenn wir bei der An- nahme bleiben, ein Infragestellen der demokra- tischen Staatsform sei bei uns tabu, dann inte- ressiert mich vor allem eins: Brauchen wir die- ses Tabu?"

"Wir alle", sagt er nachdenklich, "also auch ich selbst, glauben daran, dass die Demokratie zu einer gewissen Stabilität im Inneren eines Staates führt, indem sie widerstreitende Inte- ressen in einen mehrheitsfähigen Kompromiss ka- nalisiert. Außerdem ermöglicht sie in Verbin- dung mit den Grundsätzen einer freien Markt- wirtschaft ein gewisses Wohlstandsniveau für eine möglichst breite Bevölkerungsschicht."

"Und weiter", sage ich, "ergibt sich aus Erfahrung, dass Kriege zwischen demokratischen Staaten sehr unwahrscheinlich sind."

"Prüfen wir unsere Herzen", sagt er und sieht mir in die Augen. "Wollen wir die Demokratie abschaffen?"

"Nein", sage ich. "Oder?"

"Nein", sagt er, "wahrscheinlich nicht. Viel- leicht käme es auf die Alternative an. Aber darum geht es jetzt nicht. Wenn das Tabu den Frieden in der Gesellschaft aufrechterhält und Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems garantiert, brauchen wir es."

"Jetzt unterliegen Sie einem Denkfehler", sage ich. "Das Bestehen eines Tabus ist nicht iden- tisch mit dem Bestehen des tabuisierten Gegens- tands. Ein Tabu kann gebrochen werden, der Ge- genstand dennoch weiterexistieren. Nur dass er zu kritischer Betrachtung freigegeben ist."

"Sie haben recht. Man müsste fragen, wovor die Demokratie sich überhaupt zu fürchten hätte, wenn sie nicht mehr als etwas Absolutes, Alternativloses betrachtet würde."

"Oft weckt die Infragestellung einer Sache ge- rade erst die Leidenschaft für sie. Man lernt Nachteile zu erkennen und Vorteile neu zu schätzen, man erinnert sich daran, dass man das tatsächlich will, was einem selbstverständlich geworden ist."

"Aber dann", sagt er, "lautet die Frage nicht: Brauchen wir Tabus, sondern präziser: Wofür braucht die Demokratie ein Tabu?"

Jetzt habe ich einen Geistesblitz. Ich bedeute ihm sitzen zu bleiben, während ich mich erhebe und Haltung einnehme. Die Handtaschenablage des Einkaufswagens ist mein Rednerpult.

"Weil das Tabu", beginne ich, "den Blick auf die Realität verstellt."

Der Wind spielt mit meinen Haaren. Die Kunstpause dauert meinem Zuhörer zu lange.

"Welche Realität?" fragt er.

Sieben

"Ich muss ein bisschen ausholen", kündige ich an. "Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem und die Demokratie als Staatsform, sind von ihren Wurzeln an miteinander verschränkt, bedingen einander und treten bislang nur paarweise auf. Am Beispiel der Europäischen Union zeigt sich, wie das ökonomische Bedürfnis nach Vergrößerung eines Handelsraums schließlich auch die politi- sche Vernetzung einer Gruppe ehemals unabhängi- ger Staaten herbeiführt. Auch außerhalb Europas ist der Handel zwischen demokratischen Staaten am fruchtbarsten; wo Wirtschaftshilfen gewährt werden, gibt es diese nur im Paket mit demokra- tischen Werten, meist eng geschnürt durch strenge Konditionalitätsauflagen.

Nun hat sich die Europäische Union, ehemals ei- ne Internationale Organisation auf Grundlage eines Abkommens zwischen souveränen Staaten, inzwischen zu einer Supranationalen Institution entwickelt, ist also mit Kompetenzen ausgestat- tet, welche die Befugnisse ihrer Mitglieder ü- berlagern und verdrängen. Das Europäische Recht zählt nicht mehr zum Völkerrecht, sondern zu einer Rechtsordnung eigener Art, die nicht nur zwischenstaatliche, sondern auch überstaatliche Regeln enthält. Diese kommen ohne Beteiligung der nationalen Parlamente zustande, können aber dennoch unmittelbar für jeden einzelnen Bürger auf EU-Gebiet wirken. Bei Setzung des Europäi- schen Rechts fehlt es nach wie vor fast voll- ständig an der Mitwirkung eines demokratisch legitimierten Organs. Nicht das Europäische Parlament, sondern Kommission und Rat, die kei- ne demokratisch gewählten Repräsentanten ent- halten, sind Legislativinstanzen der EU. Und man schätzt, dass heute bereits 80% aller nati- onalen Gesetze von der europäischen Gesetzge- bung mindestens beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt oder ersetzt werden."

Weil ich Luft holen muss, gelingt meinem Zuhörer ein Zwischenruf.

"Das lässt eigentlich eine schockierende Aussa- ge über den Zustand unserer Demokratien zu!" "Und es markiert einen fortgesetzten Trend", erwidere ich. "Es besteht nämlich ein prakti- scher Grund für das Demokratiedefizit in der EU. Die Organisation folgt den Bedürfnissen der Wirtschaft. Der Integrationsprozess ist inner- halb eines Zeitraums von wenigen Jahrzehnten mit hoher Geschwindigkeit abgelaufen, die Reaktionsmöglichkeiten sind flexibel und dynamisch. Das parlamentarische Entscheidungsverfahren aber ist langsam, gekennzeichnet durch manchmal endlos erscheinende Verhandlungen, die zwar dem demokratischen Interessenausgleich dienen, aber lähmende Wirkung auf die Handlungsfähigkeit ha- ben. Wäre die europäische Integration als demo- kratischer Prozess abgelaufen, gäbe es die EU in ihrer heutigen Form noch lange nicht."

"Sie wollen sagen, hier schubst die Wirtschaft die Demokratie vom Spielfeld, auf einer Ebene, die dem Blick der Bürger immer noch weitgehend entzogen ist."

"Noch ein zweites Beispiel nach diesem Muster", sage ich nickend, "auf noch höherer als der eu- ropäischen Ebene. Im Völkerrecht kollidieren seit einiger Zeit zwei elementare Grundsätze miteinander: Auf der einen Seite steht das Prinzip staatlicher Souveränität, das Eingriffe auf fremdem Territorium und Einmischung in fremde Angelegenheiten verbietet, auf der ande- ren Seite das Prinzip der Einhaltung grundle- gender Menschenrechte. Die jüngste Geschichte zeigt, dass sich der Schwerpunkt zugunsten der letztgenannten Grundsätze zu verschieben be- ginnt."

"Der Fall Kosovo", sagt er. "Der doch eigentlich ein Indiz für eine globale Stärkung demokratischer Werte sein müsste."

"Auf den ersten Blick", sage ich. "Es ist aber auch eine andere Sichtweise möglich. Bedenken Sie, dass in den Menschenrechten auf Ideenebene zwar demokratisches Gedankengut verkörpert ist, dass es sich bei diesen Prinzipien auf normati- ver Ebene aber um unzureichend legitimiertes Völkerrecht handelt. Und auf dieser Grundlage sollen nun Eingriffe in souveräne Staaten mög- lich sein - auch in demokratische Staaten, wenn man den Ansatz konsequent weiterführt. Das Missverständnis besteht darin, die Demokratie mit ihren materiellen Inhalten identisch zu glauben. Richtig verstandene Demokratie defi- niert sich aber vor allem über ein legitimie- rendes Verfahren, in dem die Entscheidungsge- walt des Volkes an die politischen Vertreter übermittelt wird. Und diese Verfahren erweisen sich, ohne dass das Problem thematisiert würde, im dynamischen Zeitalter der Globalisierung als bremsend, als zu träge."

"Warum trägt die Wirtschaft dann überhaupt noch demokratische Werte in die Welt hinaus?"

"Weil die Werte, das Gelten von demokratischen Freiheiten, das Funktionieren eines kapitalis- tischen Wirtschaftssystems erst ermöglicht. Ein Tabubrecher würde möglicherweise danach fragen, ob Menschenrechte nicht vielleicht in erster Linie dem Erhalt konsumfähiger Verbraucher für einen funktionierenden Exporthandel dienen? In letzter Zeit hört man ständig den Satz: Die neue globale Sicherheitsarchitektur stütze sich auf ökonomische Stabilität. Wenn eine Überzeu- gung mit so hoher Frequenz wiederholt wird, muss ein Tabubrecher schon routinemäßig fragen, ob es sich nicht um eine Sprachregelung handelt, deren Sinn sich umdrehen lässt."

"Drehen Sie", sagt er.

"Habe ich doch schon", sage ich, "ich wiederho- le es noch einmal anders: Wer im Knast sitzt oder ethnisch gesäubert wird, trinkt nicht Coca Cola!"

Ich sehe ihn zusammenzucken.

"Sprechen Sie leiser", bittet er. Und fügt nach einer Pause hinzu: "Es ist aber nicht so, dass der neue Wertekolonialismus nicht ab und zu kritisch diskutiert würde."

"Stimmt", sage ich. "Aber nur an der Oberflä- che. Nach den Hintergründen wird nicht gefragt: Hat sich die Demokratie auf dem Weg in die Eu- ropäische Integration, in die Globalisierung von Werten und Wirtschaft nicht längst von ih- rem siamesischen Zwillingsbruder Kapitalismus zur Hälfte aufzehren lassen? Ist sie nicht da- bei, ihr wichtigstes Instrument, die parlamen- tarische, demokratisch legitimierte Gesetzge- bung, Stück für Stück aus der Hand zu geben? Und Deutschland hat durch seine Stellung in der EU durchaus eine Vorreiterrolle beim Vorantrei- ben dieser Entwicklungen inne."

"Wollen Sie für mehr Demokratie im Rahmen der Europäischen Integration plädieren?"

"Ich plädiere hiermit für mehr Klarsicht", sage ich, "dafür, den demokratischen Schein nicht gegen bestehende Realitäten aufrechtzuerhalten und lieber herauszufinden, was wir wirklich wollen und brauchen."

"Und gegebenenfalls nach Alternativen zu suchen, bevor die Demokratie faktisch ausgehöhlt ist und uns das Ergebnis der Entwicklungen unvorbereitet trifft."

Mein Zuhörer erhebt sich ebenfalls, einen Mo- ment stehen wir uns aufrecht gegenüber.

"Ich formuliere das Gesamtergebnis", sagt er. "Nicht nur, dass wir dieses Tabu nicht brau- chen, es ist sogar gefährlich. Wenn die Demo- kratie an einen Punkt gelangt, an dem sie nicht mehr hinterfragt werden kann, steuert sie auf ihr Ende zu; sie verlässt sich nicht auf die Mündigkeit ihrer Bürger, sondern auf verinner- lichte Anpassungszwänge. Und wir laufen Gefahr, von den Konsequenzen überrascht zu werden."

Dann drückt er mir die Hand.

"Auf Wiedersehen", sagt er.

"Aber", sage ich, "was machen wir denn jetzt?" "Machen?" fragt er über die Schulter. "Wieso? Es ging doch um ein Erkenntnisproblem. Danke für die Hilfe."

Und damit ist er um die Ecke des Europäischen Markts verschwunden.

Schluss

Auf dem Heimweg fahre ich absichtlich langsam, um noch etwas Zeit zum Nachdenken zu haben. Hinter mir hupen die Autos. Und je länger ich nachdenke, desto stärker werden die Zweifel an dem Ergebnis unserer seltsamen Diskussion. Kei- ne begründbaren Zweifel. Mehr emotionaler Na- tur. >Es geht uns doch allen gut<, denke ich, >es funktioniert doch alles wunderbar. Was soll daran falsch sein.< Aus Sicht des Jahres 2100 würde ich möglicherweise erkennen, wie hier die Kraft eines gesellschaftlichen Über-Ichs in mir am Werke ist, vielleicht die der Wirtschaft, unterstützt durch die gewaltige soziale Macht der Werbung, wie sie mir zuruft: Weitergehen, keine Rückschritte, nicht Umschauen - grundle- gende Zweifel bedrohen den Wohlstand, den inne- ren und äußeren Frieden; nur stetiges Wachstum und kontinuierliche Expansion im Windschatten demokratischer Werte sichern unsere Existenz. Aber trotzdem. Die Demokratie tabuisiert ... Wir können doch über alles reden. Ich fühle mich komisch.

Mein Partner für den Frieden empfängt mich auf der Schwelle und nimmt mir die Einkäufe ab.

"Heute habe ich etwas Besonderes dabei", sage ich, "ein echtes, frisches Tabu. Auf dem Schwarzmarkt erworben."

Er schaut mich misstrauisch an.

"Zeig mal", sagt er.

Ich packe aus:

"Man kann in unserer Formaldemokratie schlechterdings alle Tabus besprechen", sage ich, "womit sich zeigt, dass es keine echten Tabus sind. Aber die Demokratie selbst darf man nicht in Frage stellen: Sie ist tabu."

Er schaut noch misstrauischer.

"Wie findest du das?" frage ich.

"Absurd", sagt er, "bist du jetzt überge- schnappt. Du solltest schon ein bisschen auf- passen, gerade in deinem Beruf ... Die Demokra- tie selbst ein Tabu ... Wer braucht denn so was ..."

Und er trägt kopfschüttelnd die Einkäufe ins Haus.

"Na dann", flüstere ich vor mich hin, während ich ihm folge, "hatten wir wahrscheinlich recht."

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Brauchen wir noch Tabus? Gespräche auf dem Europäischen Markt
Autor
Jahr
2000
Seiten
51
Katalognummer
V101170
ISBN (eBook)
9783638995917
Dateigröße
454 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei dieser Arbeit handelt es sich um einen Essay, der sich auf nicht-wissenschaftliche Weise mit der Entwicklung des Demokratieprinzips seit Ende des zweiten Weltkriegs auseinandersetzt - für Studienzwecke nicht so gut geeignet.
Schlagworte
Tabuisierung
Arbeit zitieren
Juli Zeh (Autor:in), 2000, Brauchen wir noch Tabus? Gespräche auf dem Europäischen Markt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101170

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