Toynbee Hall und Hull House. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, Differenzen, Vorformen der Gemeinwesenarbeit und dem Einfluss auf die Soziale Arbeit


Seminararbeit, 2020

28 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Toynbee Hall
2.1 Gesellschaftliche Situation
2.2 Samuel Augustus Barnett und Henrietta Barnett
2.3 Idee der Barnetts
2.4 Umsetzung
2.5 Ziele

3 Hull House
3.1 Gesellschaftliche Situation
3.2 Jane Addams
3.3 Die Idee von Jane Addams und Ellen Gates Starr
3.4 Umsetzung
3.5 Ziele

4 Gemeinsamkeiten

5 Differenzen

6 Definition Gemeinwesenarbeit
6.1 Welchen Vorformen der Gemeinwesenarbeit lassen sich in den jeweiligen Settlements erkennen?

7 Welchen Einfluss übten die Toynbee Hall und das Hull House auf die Soziale Arbeit aus?

8 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Settlement-Bewegung in Amerika, Großbritannien und auch Deutschland hatte ihren Ausgangspunkt zu Zeiten der Toynbee Hall - Gründung (vgl. LAMBERS 2010, S. 158). Die Settlements entstanden aufgrund der verschiedenen gesellschaftlichen Probleme, welche sowohl durch das unkontrollierte Wachstum der Städte als auch durch die Ausweitung der Industrie aufkamen (vgl. LANDHÄUSER 2009, S. 31). Das wesentliche Merkmal der Settlementarbeit stellt- entsprechend der Wortbedeutung ,(to) settle‘ - die Niederlassung wohlhabender und gebildeter Menschen innerhalb einer Nachbarschaft, in welcher überwiegend arme Menschen unter unguten Lebensbedingungen wohnen, dar (LANDHÄUSER 2009, S. 32). Eine zentrale Charakteristik war hierbei, dass die Angehörigen höherer Gesellschaftsklassen sich in einem ärmlichen Stadtteil ansiedelten, um die vorliegenden Lebensbedingungen aus eigener Auffassung kennenzulernen sowie um mit den dort lebenden Menschen gemeinsame Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten (vgl. ebd.). Gebildete und Begüterte sollten ihr Leben und damit ihre Kultur und Zivilität mit den bedürftigen Menschen teilen und nicht ihr Geld (vgl. WENDT 2017 a, S. 341). Der Erfolg oder auch Misserfolg der Mitwirkenden des Settlements hing im Wesentlichen von dem persönlichen Einsatz ab, da der Einzelne überzeugen, animieren und gewinnen musste (vgl. ebd. S. 345).

Das Hull House und die anderen amerikanischen Settlements konnten sich ausbreiten, weil die sozialen Dienste und die amerikanische Stadtverwaltung unentwickelt waren (vgl. BRACHES- CHYREK 2013, S. 133). Die Wohltätigkeit auf Spendenbasis prägte die amerikanische Sozialarbeit samt der Gründung der Settlements (vgl. EBERHART 2009, S. 180). In England gab es derzeit die Armengesetze (vgl. MÜLLER 1994, S. 30). Die Funktion der Settlements verringerte sich später aber deshalb, da der Wohlfahrtsstaat die gesundheitlichen, sozialen, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen größtenteils zu unterhalten begann, welche einst in der Eigenhilfe geschaffen sowie auf Vereinsbasis getragen wurden (vgl. WENDT 2017 a, S. 358). Nach der Jahrhundertwende verstanden sich die Settlement- Bewohnerinnen dann als Sozialarbeiterinnen (vgl. EBERHART 2009, S. 84).

In dieser Ausarbeitung werde ich genauer auf die Toynbee Hall eingehen, auf das Hull House sowie auf deren Gemeinsamkeiten und Differenzen. Im Anschluss werde ich untersuchen welche Vorformen der Gemeinwesenarbeit sich derzeit schon zeigten und wie die beiden Settlements die Entwicklung der Sozialen Arbeit beeinflussten.

2 Toynbee Hall

Im Folgenden werde ich auf die damalige gesellschaftliche Situation eingehen, da die ge- sellschaftlichen Bedingungen auch immer die Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit darstellen. Aufgrund dessen, dass die Einrichtungen auch immer von den handelnden Personen abhängig sind und von diesen geprägt werden, werde ich kurz auf die Gründer*innen eingehen. Anschließend erläutere ich deren Ideen um darzustellen, wie diese umgesetzt wurden und welche Ziele sich daraus entwickelt haben.

2.1 Gesellschaftliche Situation

Inmitten des 18. Jahrhunderts beginnt die Industrialisierung in Europa vorerst in England (vgl. LANDHÄUSER 2009, S. 23). Mit der Industrialisierung folgten, abgesehen von den positiven Veränderungen, die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Pauperismus und damit die Bildung der sozialen Frage (vgl. ebd.). Hilfsbedürftige Bürgerinnen wurden zum einen der privaten Wohltätigkeit vermögender Bürgerinnen überlassen und zum anderen den ideellen und materiellen Zuwendungen ihrer Kirchengemeinden (vgl. MÜLLER 2013, S. 37). Das mehrmalige erneute bitten um Gelder war zum einen demütigend und zum anderen zerstörte es die Reste der Selbstachtung (vgl. ebd.).

Whitechapel war ein englischer Slum, im Osten von London, in welchem die Bewohnerinnen an der Grenze inmitten des Lumpenproletariats und der industriellen Reserve- Armee lebten (vgl. ebd. S. 47). In Krisenzeiten war die Mehrzahl der Londoner Nachbarschaft chancenlos, ihren eigenen Lebensunterhalt durch die Arbeit zu verdienen (vgl. ebd.). Das Viertel besaß so gut wie keine kulturellen und ökonomischen Ressourcen mehr (vgl. ebd.). In diesem Elendsquartier war Samuel Barnett als Gemeindepfarrer tätig (vgl. ebd. S.37). Fast die Hälfte der Bewohnerinnen erhielten milde Gaben und Armenhilfe (vgl. MÜLLER 1994, S.23). Arbeitslose Frauen und Männer wurden vom Staat in Arbeitshäuser und die Kinder in Armenschulen geschickt (vgl. ebd.). Die milden Gaben wurden von den bürgerlichen Wohlfahrtsverbänden wahllos verteilt und reichten in allen Belangen nicht (vgl. ebd.). Die Bürger*innen versuchten durch alle Mittel zu verhindern, Armenhilfe beantragen zu müssen, da sie wussten, dass sie daraufhin in ein Arbeitshaus eingewiesen werden (vgl. ebd. S. 35). Dieses ähnelte eher einem Zuchthaus als einem Ort, an welchem den erwerbslosen eine Arbeit vorgeschlagen werde (vgl. ebd.).

Anders als in Nordamerika, gab es derzeit in England die Armengesetze (vgl. ebd. S. 30). Diese wurden aber mitunter von den Steuerzahlern dahingehend kritisiert, dass die Armen kein Interesse für die Arbeit bekommen könnten, solange diese auch ohne Lohnarbeit die notwendigen Mittel zum Überleben, durch die Unterstützung der öffentlichen Wohlfahrt, erhalten würden (vgl. ebd. S. 32). Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung veränderte sich der Charakter der sozialen Hilfen (vgl. BOULET u. a. 1980, S. 25). Man wendete sich ab von dem individuellen Almosengeben, welche die Not nicht mehr lenken konnte und entwickelte ein Hilfesystem, welches die Eigenkräfte der Empfänger durch die Vertiefung und Entwicklung der Nachbarschaftshilfe und der Vermittlung bürgerlicher Bildungsinhalte antrieb, verbunden mit den Initiativen in die staatliche Richtung um die Sozialgesetzgebung zu entwickeln (vgl. ebd.).

2.2 Samuel Augustus Barnett und Henrietta Barnett

Samuel Augustus Barnett war der Sohn eines Gießereibesitzers und der Enkel eines Reedereibesitzers mütterlicherseits und eines Holzhändler väterlicherseits (vgl. MÜLLER 1994, S.27). Nach Barnetts Studium der Geschichte, der Religion und des Rechts in Oxford wurde er Diakon in der Sankt Mariengemeinde in Bristol, welche seine Heimatstadt war (vgl. ebd. S. 26-27). Seine Frau Henrietta lernte er durch die örtliche „Liga der Wohlfahrtsverbände“ kennen, in welchem er ehrenamtlich tätig war (MÜLLER 1994, S. 27). Henrietta kam aus einem wohlhabenden Hause und machte derzeit ehrenamtliche Hausbesuche bei armen Menschen, mit der Absicht, die Wohlfahrtsverbände darauf aufmerksam zu machen, welche Familien Unterstützung brauchten und welche nicht (vgl. ebd.). Diese Tätigkeit bezeich- nete man auch als friendly visiting (vgl. ebd.).

Henrietta und Samuel Barnett waren sozial überaus engagiert (vgl. LAMBERS 2010, S.158). In Hinblick auf das alltägliche Elend in den Häusern und Straßen von Whitechapel, zeigten sich das Ehepaar empört über die nach ihrer Auffassung menschenverachtende Art, mit welcher die Engländer mit Elend und Armut umgingen (vgl. MÜLLER 2013, S.37). Im Pfarrhaus begegneten sich des Öfteren die Armen und die Studenten (vgl. LAMBERS 2010, S.158). Die Studenten teilten das Leid mit den Armen vor Ort, um auf diese Weise eine persönliche Beziehung aufzubauen (vgl. ebd.). Das Interesse, welches die Studenten zeigten, regte Samuel 1884 an die erste Settlement-Einrichtung in seinem Gemeindehaus zu gründen (vgl. ebd.). Diese wurde zu Ehren des verstorbenen Vorarbeiters benannt (vgl. WENDT 2017 a, S. 341). Toynbee war ein Nationalökonom und setzte sich, in den von ihm gehaltenen Vorträgen, besonders für die Arbeiterklasse ein (vgl. LAMBERS 2010, S.158). Des Weiteren besuchte er oftmals Whitechapels Slums um sich ein Eindruck von den Lebensverhältnissen zu machen und um in Kontakt mit den Menschen zu treten (vgl. ebd.). Toynbee kannte die Barnetts aus Whitechapel (vgl. ebd.).

Samuel hielt außerdem öffentliche Vorträge und schrieb Artikel in Wochenzeitungen (vgl. MÜLLER 1994, S.50). Später widmete er sich vermehrt der wissenschaftlichen Untersuchung (vgl. ebd. S. 51). Seine Aufmerksamkeit richtete sich besonders auf die wirtschaftliche Lage der arbeitenden Bevölkerung in London (vgl. ebd.). Im Jahre 1913 starb er nach langer Krankheit (vgl. ebd. S. 46). Nach seinem Tod schrieb Henrietta eine zweibändige Biographie über ihren Mann, deren gemeinsame Arbeit und über ihre gemeinsamen Freunde (vgl. ebd. S. 29). Ihre darin verfassten lebendigen Erinnerungen geben ausführliche Einblicke in deren Leben und Handeln.

2.3 Idee der Barnetts

Die Barnetts gingen davon aus, dass man den Hilfebedürftigen, Erwerbslosen und Armen nicht mit den milden Gaben helfen könnte, sondern damit, dass diese lernen müssten, ihr eigenes Leben eigenständig zu meistern (vgl. ebd. S. 38). Sie sollten zudem die notwendigen Mittel, welche man zum Leben braucht, durch die eigene Arbeit verdienen. Demnach setzten sie auf die Erziehung und nicht auf die Abschreckung (vgl. ebd.). Samuel Barnett war darüber hinaus der Auffassung, dass man die damaligen soziale Probleme lösen könne durch die Zusammenarbeit zwischen den Unwissenden und den Kultivierten, durch die „wechselseitige Durchdringung“ der sozialen Bevölkerungsschichten, durch das gemeinsame Leben in einem Stadtteil sowie durch die Einrichtung einer akademischen Außenstelle, welche sich im Londoner Osten befinden sollte (MÜLLER 1994, S.23).

2.4 Umsetzung

Im Winter 1883 gründeten die Barnetts einen Verein, welcher in Whitechapels Zentrum ein Haus als eine Wohngemeinschaft einrichten sollte für junge Akademiker (vgl. MÜLLER 2013, S. 38). Aus dieser Wohngemeinschaft entstand das erste Settlement: Die Toynbee Hall (vgl. BOULET u. a. 1980, S. 24). Die Überlegungen der Barnetts über das Settlement waren an den englischen Clubs orientiert (vgl. MÜLLER 2013, S. 38). Diese stellten insbesondere für derzeit noch unverheiratete aus der englischen Oberschicht so etwas wie einen verlängerten Salon dar, in welchem man isst, trinkt, liest, korrespondiert, seine Freizeit verbringt und Gäste empfängt (vgl. ebd.).

Samuel wollte und konnte die Anhänger*innen nicht für ihre Arbeit bezahlen (vgl. MÜLLER 1994, S.43). Daraus entwickelte sich die geniale Idee, das Settlement in Form eines akademischen Clubs, mit Verpflegung und Übernachtung für Studenten im höheren Semester als auch für junge Universitätsabsolventen zu gründen sowie sich deren unterschiedlichen Fähigkeiten für die Arbeit in der Toynbee Hall zunutze zu machen (vgl. ebd.). Die Toynbee Hall wurde schließlich von Cambridge- und Oxford- Studenten bewohnt (vgl. EBERHART 2009, S. 22). Diese betrachteten ihre Niederlassung als christliche Pflicht, ihre Dienste für die arme Bevölkerung bereit zu stellen (vgl. ebd.). Zudem legten sie einen Wert darauf, von der armen Bevölkerung zu lernen (vgl. ebd.). Die Akademiker verpflichteten sich, durch ihren Einzug, für eine gewisse Zeit als Rechtsanwälte, Gymnasiallehrer, Ärzte und eben andere Vertreter akademischer Berufe die kulturellen und sozialen Verhältnisse in dem Elendsquartier zu verbessern sowie den dort wohnenden Menschen neuen Lebensmut und neue Perspektiven zu geben (vgl. MÜLLER 2013, S. 38). Es ging demnach nicht darum, dass Geld gespendet wird sondern darum, dass die jungen Akademiker einen Teil ihrer sozialen Kompetenzen und ihrer Arbeitszeit nach dem Abschluss dazu opfern, um in ein Elendsquartier zu ziehen um eben da als engagierte Bürger zu versuchen, die soziale Infrastruktur innerhalb des Wohngebietes zu bessern (vgl. ebd. S. 37- 38). Inbegriffen sind hierbei die Müllabfuhr, Straßen, Volksbibliotheken, Armenschulen und andere Einrichtungen des beschränkten kulturellen und sozialen Lebens im Wohnquartier (vgl. ebd. S. 38).

In Bezug auf die Unterschiede von Bildung und Stand war es nicht leicht eine neue Gemeinschaft entstehen zu lassen (vgl. WENDT 2017 a, S. 342). Die Mitwirkenden animierten in der Praxis zur Geselligkeit, luden arme und reiche zu kulturellen und bildenden Veranstaltungen ein, organisierten Schulungs- und Vortragsabende, Kunstaustellungen und gründeten viele Clubs, welche selbstständig agierten (vgl. ebd.). Zu diesen Clubs zählten Lesezirkel, literarische Vereine, Schach-, Foto-, Wander-, Fußball- und Reiseclubs (vgl. ebd.). Mit der Zeit entstanden eine History School, eine Leihbibliothek, eine naturgeschichtliche Vereinigung, eine Shakespeare- Gesellschaft, eine Gesellschaft ,,für gefallene Mädchen" sowie eine für die Erste Hilfe (WENDT 2017 a, S. 342). Zudem gab es eine Rechtsauskunftsstelle hauptsächlich für Mieter sowie Jugendtreffs und eine Gemäldegalerie (vgl. ebd. S.342- 343). Freizeitangebote und Erwachsenenbildung standen für Samuel in einem engen Verhältnis zueinander, weshalb er einen großen Wert auf Ferienverschickungen, Sommerlager und Kinderspielplätze legte als auch auf den Ausbau des Travellers' Club (vgl. MÜLLER 1994, S.48). Henrietta kümmerte sich überwiegend um die Organisation und Finanzierung des Hauses, um die Dienstboten, die Mädchen-Clubs, Besucher*innen, ausländische Gäste und um ein Wohnheim, welches für alleinstehende Frauen war (vgl. ebd. S. 48-49). Auf diese Weise kamen die Bestandstücke einer lokalen als auch sozialen Infrastruktur zusammen (vgl. WENDT 2017 a, S. 343). Die Toynbee Hall als auch andere Settlements unterstützten außerdem die Arbeiterinnen bei Kampagnen gegen die Mietwucher, in Lohnkämpfen, im Gesundheitsschutz durch die Krankenpflege und bessere sanitäre Bedingungen und förderten überdies Selbsthilfegruppen (vgl. ebd. S. 345). Später engagierten sich das Ehepaar für den sozialen Wohnungsbau und für weitergehende sozialpolitische Reformen (vgl. ebd. S. 343). Sie versuchten sich auch in den kommunalen Initiativen mit der Absicht, eine Sanierung der bedenklichsten Elend-Blocks zu bewirken, gründeten eine private Baugesellschaft und erschufen Wohnräume für circa 1000 Menschen (vgl. MÜLLER 1994, S. 49).

Die Barnetts als auch die Mitwirkenden hatten erkannt, dass bildungspolitische und sozialpolitische Unterprivilegierung sich einander bedingten und aufgrund dessen auch zur geistigen und sozialen Emanzipation gehörten (vgl. OELSCHLÄGEL 2005, S. 655). Diese Erkenntnis veranlasste ihn wahrscheinlich auch zu seiner Forderung, dass der Staat für öffentliche Büchereien, kostenlose Arbeitsvermittlung, freie ärztliche Versorgung, Schwimmbäder, frisches Wasser, frische Luft, eine Altersrente ab 60 Jahren, kostenlose Schulspeisung, Gemäldegalerien und öffentlichen Nahverkehr zu sorgen habe (vgl. MÜLLER 1994, S. 53). Barnett plädierte zudem für eine Umverteilung des Einkommens durch neue Steuergesetze, da er die bestehenden Armensteuern als auch die private Caritas für unzureichend und unwürdig fand (vgl. ebd. S.48).

Die geistlichen Londons sahen in den Tätigkeiten der Barnetts eine weltliche Konkurrenz, welche mit der tatsächlichen Aufgabe eines Gemeindepfarrers unvereinbar sei (vgl. ebd. S. 51). Als Samuel noch daran ging, die Kirche sonntags als eine Gemäldegalerie zu öffnen, verbreitete sich die Empörung, sodass er sich vor seinem Bischof verantworten musste (vgl. ebd.). Daraus wird ersichtlich, dass die Barnetts alles taten, um den Armen unter anderem die Kultur zu vermitteln. Doch nicht nur die Armen sollten gebildet werden, sondern auch die Mitarbeitenden. Samuel machte es sich zur Gewohnheit jeden einzelnen akademischen Bewohner des Settlements einmal wöchentlich in sein Arbeitszimmer einzuladen um mit ihm sozialpädagogische als auch soziale Fragen zu besprechen sowie um ihn zu beraten (vgl. MÜLLER 2013, S. 39). In der angelsächsischen wissenschaftlichen Literatur wurden diese Gespräche später Praxisberatung bzw. Supervision genannt (vgl. ebd.). Entscheidend für die Funktionalität der Toynbee Hall waren demnach auch die gesellschaftlichen, politischen und persönlichen Kompetenzen der Barnetts (vgl. ebd.). Die Toynbee Hall ist auch heute noch aktiv und fördert und entwickelt soziale Programme auf regionaler Ebene (vgl. LANDHÄUßER 2009, S. 47).

2.5 Ziele

Die Barnetts verfolgten das Ziel der Bevölkerung von East London die Möglichkeit zu bieten an der Kunst und an den kulturellen Errungenschaften teilzuhaben (vgl. EBERHART 2009, S.22). Aufgrund dessen, boten sie in ihrem Settlement künstlerische und kulturelle Aktivitäten an (vgl. ebd.). Ein weiteres übergeordnetes Ziel der Toynbee Hall bestand darin, eine Verbindung zwischen reichen und armen Menschen herzustellen (vgl. LANDHÄUßER 2009, S.33). Die Kernidee der Barnetts war, Angehörige der bürgerlichen Intelligenz wie beispielsweise Professoren, Studenten und Pfarrer in die Armen- und Arbeiterviertel umzusiedeln (vgl. LAMBERS 2010, S. 158). Diese sollten sich in unmittelbarer Nähe zu den Ausgestoßenen befinden und diese in einem kulturellen Austausch (Konzerte, Feste, Ausstellungen, Gemeinschaftsaktivitäten) aktivieren und inspirieren (vgl. ebd.). Durch das Zusammenleben sollten den armen Menschen Bildung und Erziehung und den reichen Einsicht und Lernen ermöglicht werden (vgl. LANDHÄUßER 2009, S.33). Die Mitwirkenden der Toynbee Hall sollten aus erster Hand Anschauungsmaterial und Erfahrungen gewinnen bezüglich der Armutsverhältnisse und der Lebenswelt der Slumbewohner*innen (vgl. ANHORN 2012, S. 241). Die Barnetts hofften, dass die zukünftigen ökonomischen, kulturellen und politische Elitenangehörige des Landes geprägt werden von den erlebten Eindrücken und sich diese in künftigen Sozialreformen niederschlagen (vgl. ebd.). Ein weiteres Ziel wird nach eigener Auffassung gewesen sein, die Armen unabhängig von der Armenhilfe und den milden Gaben zu machen sowie deren Selbsthilfe zu bestärken. Darüber hinaus bestrebten die Barnetts wahrscheinlich auch Ressourcen für die Armen durch die Veranstaltungen und Clubs aufzubauen.

3 Hull House

Dieses Kapitel ist bezüglich der Unterkapitel gleich aufgebaut wie das vorherige, da jedes wichtig ist um ein allumfassendes Verständnis zu erlangen. Die beiden Settlements werden auch deshalb auf die selben Punkte untersucht um diese im Anschluss besser vergleichen zu können.

3.1 Gesellschaftliche Situation

Nordamerika machte im 19. Jahrhundert sozial, wirtschaftlich, demografisch und politisch eine auffallend schnelle Entwicklung durch (vgl. ENGELKE u. a. 2014, S. 189). Eine gewaltige Bevölkerungsvermehrung in den USA wird besonders zwischen 1860 und 1914 deutlich, da die Bevölkerungszahl in diesem Zeitraum von 31,3 Millionen auf 91,9 Millionen stieg (vgl. ebd.). Davon waren rund 21 Millionen Einwandererinnen, welche überwiegend aus Europa kamen (vgl. ebd.). Diese wurden von den Siedlungsmöglichkeiten und den offenen Stellen in der Industrie angelockt (vgl. EBERHART 2009, S. 48). Auch Chicago erlebte eine schnelle Entwicklung und wuchs bis zur Jahrhundertwende zur bedeutendsten Stadt der USA an, mit dem größten Vieh-, Fleisch-, Getreide- und Holzmarkt und das obwohl einige Teile der Stadt durch einen Brand im Jahre 1871 vernichtet wurden (vgl. ENGELKE u. a. 2014, S. 191). Im Verlauf von zehn Jahren verdoppelte sich die Einwohner*innenzahl so- dass drei Viertel der Bürgerinnen Einwanderer waren (vgl. ebd.). Es herrschten untragbare hygienische Zustände, Wohnungsnot, politische Korruption, Mangel an Nahrungsmitteln und eine zunehmende Kriminalität (vgl. ebd.). Den Einwandererinnen blieb nichts anderes übrig als sich in den ethnischen Ghettos zusammenzudrängen (vgl. MÜLLER 2013, S. 39). Derzeit waren die Arbeits- und Lebensverhältnisse unerträglich und lebensgefährlich und die Arbeitskraft der Einwandererinnen wurde ausgebeutet (vgl. ebd.). Die armen Familien waren überdies auf den Verdienst der Kinder angewiesen, weil dieser nicht selten das Überleben sicherten (vgl. BRACHES- CHYREK 2013, S. 146). Damals standen demnach Luxus und Reichtum sowohl Kinderarbeit, elenden Wohnverhältnissen als auch bitterer Armut gegenüber und erzeugten paradoxe gesellschaftliche Verhältnisse (vgl. ebd. S. 135). Auf der einen Seite führte die Ausbeutung der Rohstoffe und Menschen, welche von der herrschenden Klasse ausging, zu gewalttätigen Widerständen (vgl. ebd.). Auf der anderen Seite spendeten vor allem die Wohlhabenden große Summen für private und öffentliche Wohltätigkeitsorganisationen um diverse Angebote der Kunst, Kultur und Bildung allen Gesellschaftsschichten zur Verfügung zu stellen (vgl. ebd.). Es herrschte zudem ein Spannungsfeld zwischen Arm und Reich, Karitas und Not, Philanthropie, Macht der herrschenden Gesellschaftsklasse und Machtlosigkeit der unprivilegierten, zu welchen vor allem die Einwande- rer*innen zählten (vgl. ebd.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Toynbee Hall und Hull House. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, Differenzen, Vorformen der Gemeinwesenarbeit und dem Einfluss auf die Soziale Arbeit
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart
Note
1,7
Jahr
2020
Seiten
28
Katalognummer
V1012217
ISBN (eBook)
9783346403865
ISBN (Buch)
9783346403872
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hull House, Toynbee Hall, Gemeinwesenarbeit, Soziale Arbeit, Barnett, Addams, Definition Gemeinwesenarbeit
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Toynbee Hall und Hull House. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, Differenzen, Vorformen der Gemeinwesenarbeit und dem Einfluss auf die Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1012217

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