Gedichtinterpretation zu Goethes „Mächtiges Überraschen“
Das Gedicht „Mächtiges Überraschen“, welches Johann Wolfgang von Goethe 1807 verfasst hat, sagt schon durch seinen Titel aus, dass sich im Fortlauf des Gedichtes einiges tun wird, dass etwas Unerwartetes möglicherweise alles verändern wird.
Ob dies allerdings eine gute oder böse Überraschung sein wird, kann man zu Beginn noch nicht erkennen, lediglich deren Größe, ihre Mächtigkeit. An diesem Gedicht kann man deutlich ersehen, dass es der klassischen Epoche entstammt, was an Hand von zahlreichen Merkmalen im Folgenden genauer erläutert wird.
Die Klassik, welche sich in etwa in die Jahre von 1786 - 1805 einordnen lässt, zeigt dem Menschen ein völlig neues Weltbild: Er soll fortan durch die Eingebundenheit in die Natur, durch die Vereinigung von Verstand und Sinnlichkeit zu einem neuen, nahezu gottähnlichen Geschöpf werden. Der Leser des vorliegenden Gedichtes kann diese „Neuwerdung“ genauestens verfolgen:
Schon allein die Form, das Äußere, lässt eine Veränderung erkennen, wobei die ersten beiden der vier Strophen aus jeweils vier, die folgenden aus nurmehr drei Versen bestehen (Sonettform).
Wenn sich auch letztendlich alles zum Neuen wendet, so bleibt die Gesamtheit doch in einem gewissen Rahmen, da ja die Voraussetzung für das Ergebnis logischerweise notwendig ist.
Diese Einheitlichkeit wird durch die fünfhebigen Jamben ( xX ) und folglich die stets weiblichen Kadenzen, welche sich durch das gesamte Gedicht hindurchzieHen, unterstrichen.
Auch die Art des Reimes, der Klammerreim ( abba ), der, wie sein Name schon sagt, das Werk umklammert, zu einer Einheit zusammenhält, bleibt bis zur Hälte des Gedichtes der selbe, fortgehend erkennt man Kreuzreime.
Der eigentliche Inhalt des Gedichts zeigt vordergründig die gewaltige Flussströmung bergabwärts zum Ozean, welche plötzlich ganz unerwartet in Folge eines mächtigen Sturmes, welcher durch seine Naturverwüstung die Strömung blockiert, schließlich als ein nurmehr ruhiges Gewässerchen, ein See, weiterlebt. In der ersten Strophe kann man das Lärmen und Toben des Stromes nahezu mitempfinden, da durch Neologismen wie [„entrauschen“] (Z.1), „(umwölktem) Felsensaale“ (Z.1) die Stimmung lebhaft vermittelt wird. Der üblich gebrauchte Wortschatz reicht nicht mehr aus, um dieses Naturschauspiel darzustellen. Die nicht zu stoppenden Wassermassen steuern „unaufhaltsam“ (Z.4) auf den Ozean zu, um sich dort mit ihm „eilig zu verbinden“ (Z.2).
Das Wasser strömt nicht nur auf Grund seiner Erdanziehungskraft bergabwärts, es flieht auch vor der Bedrohung, dem „umwölktem Felsensaale“, um im Tale beim „Vater“ (Z.11) seine Ruhe zu finden.
Es scheint vorerst, als könne nichts in der Welt diese Strömung aufhalten, es bleibt keine Zeit für eine lange Beobachtung einer Spiegelung im Strome: „ was sich auch spiegeln mag (...), er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.“ (Z.3)
Mit der zweiten Strophe tritt eine unerwartete Überraschung - wie der Gedichtstitel schon vermuten lässt - ein: Die Natur selbst ist es, welche vermag, in den vorherigen Zustand einzugreifen und dadurch eine bedeutende Wende herbeizuführen:
„Mit einem Male“ (Z.5), also nicht vorhergesehen, setzt ein Sturm ein, welcher das gesamte Geschehen zerstört, er blockiert den Strom: „hemmt den Lauf“ (Z.8). Die Macht des Sturmes ist so gewaltsam, dass „Berg und Wald“ (Z.6) ihm folgen. Er selbst wird personifiziert als Oreas, dem Bergwinde dargestellt, welche sich bewusst als Ziel gesetzt hat, den Wasserfall zu zerstören, um nach vollbrachter Tat schließlich zufriedengestellt zu sein, „um Behagen dort zu finden“ (Z.7). Sie erreicht es mit ihren „[dämonischen]“ (Z.5) Fähigkeiten, den Fortlauf anzuhalten, „die weite Schale [zu] [begrenzen]“ (Z.8).
Im folgenden Fortlauf der dritten Strophe sträubt sich das Wasser vorerst noch, es möchte weiterhin auf sein Ziel zusteuern, doch es hilft alles Bemühen nicht, sie „[trinkt sich immer selbst]“ (Z.10).
Das unermüdbare Bestreben, es doch zu schaffen, wird durch Verbanhäufungen im Enjambement metaphorisch dargestellt: „Die Welle sprüht und staunt zurück und weichet und schwillt bergan“ (Z.9f). Die Welle selbst wird als Person dargeStellt, sie „staunt und weichet“ (Z.9).
Noch ein letztes Mal schwankt die Welle in der vierten Strophe, doch schließlich kommt sie zur Ruhe, und aus dem Wasserstrom ist ein See geworden.
Erst jetzt, in diesem See, können sich die funkelnden Gestirne spiegeln (Z.13), das eigentlich Schöne kommt erst jetzt, im Zustand der Ruhe zu Geltung. Durch das Enjambement „Gestirne (...) beschaun das Blinken (...) des Wellenschlags“ (Z.13f) wird die ruhige, fortlaufend gleichmäßige Atmosphäre dargestellt.
„Ein neues Leben“ (Z.14) hat begonnen, ohne hektische Zielbestrebungen kommt das Wasser, zwar unerwartet früh, aber dennoch wie es anfangs wollte, zur Ruhe.
Hinter diesem Weg des Wassers kann man durchaus das frühzeitige unerwartete Eingreifen des Todes sehen: Der Mensch läuft meist zielstrebig durch das Leben und denkt nicht an ein plötzlich eintretendes Ende, welches jeder Zeit naheliegen könnte.
Der Tod, welcher wohl von den meisten Menschen eher grausam wie erlösend gesehen wird, bringt den Menschen lau diesem Gedicht doch erst zum wahren Ziel, welches einen höheren Rang als all die kleineren Zielsetzungen in diesem Leben einnimmt.
Das Gedicht wirkt auch recht aufs Leben bezogen, da das Wasser, welches hier das Hauptsymbol darstellt, ja ohnehin das Zeichen des Lebens ist. Die Steigerung hin bis zum plötzlich eingreifenden Tode wird durch die zunehmende Unruhe des Wassers in den den ersten beiden Strophen gezeigt. Durch die darauf folgende Antiklimax tritt wieder die Ruhe, sowohl äußerlich als auch innerlich ein: Der See wird ruhig und in ihm spiegeln sich schließlich die Gestirne.
Der Mensch kommt also erst durch den Tod und das darauf folgende „neue Leben“ zur wirklichen innerlichen Ruhe.
Goethe, welcher dieses Gedicht in einer Zeit verfasst hat, in welcher er mit dem Tode einiger guter Freunde konfrontiert war, suchte möglicherweise eine Lösung, das Leid der Angehörigen zu lindern, und kam dabei zu dem Entschluss, den Tod als Anfang eines neuen, besseren Lebens zu sehen.