Die Radbruchsche Formel und ihre Kritik. Eine Diskussion


Forschungsarbeit, 2016

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Literatur

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Die Radbruche Formel und ihre Anwendungen durch BVerfG
I. Die Radbruchsche Formel
II. Die Anwendungen der Radbruchschen Formel durch BVerfG
1. BVerfGE 3, 58 – G 131
2. BVerfGE 3, 225 – Gleichberechtigung
3. BVerfGE 6, 132 – Gestapo
4. BVerfGE 23, 98 – Ausbürgerung I
5. BVerfGE 54, 53 – Ausbürgerung II
6. BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen
III. Zwischenergebnis

C. Die Anmerkungen der Radbruchschen Formel und ihre Kritik
I. Die Befürworter
II. Die Kritiker
III. Eine mögliche Alternative für die Lösung des Streits zwischen dem Rechtspositivismus und dem Naturrecht

D. Schlusswort

Literatur

1. Adachi, Hidehiko, Die Radbruchsche Formel, Baden-Baden: Nomos, 2006.
2. Alexy, Robert, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg: Verlag Karl Alber, 1994.
3. Alexy, Robert, Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993, zitiert: Alexy, Mauerschützen.
4. Anderbrügge, Klaus, Völkisches Rechtsdenke, Berlin: Duncker & Humblot, 1978.
5. Bäcker, Carsten, Gerechtigkeit im Rechtsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015.
6. Degenhart, Christoph, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, Stuttgart: C.F. Müller, 2015.
7. Dreier, Horst, „Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?“ in: Borowski, Martin/ Paulson, Stanley (Hrsg.), Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, S. 1 ff.
8. Dreier, Horst, „Gustav Radbruch und die Mauerschützen“, in: Dreier, Horster, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 385 ff.
9. Dreier, Ralf und Paulson, Stanley, „Einführung in die Rechtphilosophie Radbruchs“ in: Radbruch, Gustav, Dreier, Ralf und Paulson, Stanley (Hrsg.), Rechtsphilosophie: Studienausgabe, Stuttgart: C.F. Müller, 2003, S. 237 ff.
10. Dreier, Ralf, Recht–Moral–Ideologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2015.
11. Dreier, Ralf, Recht–Staat–Vernunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991.
12. Formmel, Monika, „Die Mauerschützenprozesse“, in: Haft/ Hassemer/ Neumann/ Schild/ Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit: Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag, 1993, S. 81 ff.
13. Forschner, Steffen, Die Radbruchsche Formel, Tübingen: Dissertation zur Juristische Fakultät an der Eberhard-Karl-Universität, 2003.
14. Funke, Andreas, „Radbruchs Rechtsbegriffe, ihr Neukantianer Hintergrund und ihr staatrechtlicher Kontext““, in: Borowski, Martin/ Paulson, Stanley (Hrsg.), Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, S. 23 ff.
15. Funke, Andreas, „Überlegung zu Gustav Radbruchs ‚Verleugnungsformel’“, ARSP 89, 2003, S. 1 ff.
16. Hart, H. L. A., Hoerster, Norbert (Übs.), Moral und Recht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971.
17. Hoerster, Norbert, Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München: C.H. Beck, 2006.
18. Kaufmann/ Hassemer/ Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Stuttgart: C.F. Müller, 2004.
19. Kriele, Martin, Einführung in die Staatslehre, Stuttgart: Kohlhammer, 2003.
20. Kriele, Martin, Recht und praktische Vernunft, Göttingen: Kleine Vandenhoeck, 1979.
21. Lange, Richard, „Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone zum Verbrechen gegen die Menschheit“, SJZ 1948, S. 655 ff.
22. Pauer-Studer, Herlinde/ Fink, Julian (Hrsg.), Rechtfertigung des Unrechts, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2014.
23. Radbruch, Gustav, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in: Radbruch, Gustav, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, Stuttgart: C.F. Müller, 2003, S. 211 ff.
24. Radbruch, Gustav, Dreier, Ralf und Paulson, Stanley (Hrsg.), Rechtsphilosophie: Studienausgabe, Stuttgart: C.F. Müller, 2003, zitiert: Radbruch, Rechtsphilosophie.
25. Radbruch, Gustav, Vorschule der Rechtsphilosophie, in: Radbruch, Gustav, Kaufmann, Arthur (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe Bd.3: Rechtsphilosophie III, Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag, 1990, S. 121 ff.
26. Rotteleuthner, Hubert, „Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie im Nationalsozialismus“, in: Dreier, Ralf/ Sellert, Wolfgang (Hrsg.), Recht und Justiz im »dritten Reich«, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989, S. 295 ff.
27. Seelmann, Kurt/ Demko, Daniela, Rechtsphilosophie, München: C.H. Beck, 2014.
28. Sieckmann, Jan-R., „Die ‚Radbruchsche Formel’ und die Mauerschtüzen“, ARSP 87, 2001, S. 496 ff.
29. Von der Pfordten, Dietmar, „Gustav Radbruch – Über den Charakter und das Bewahrenswerte seiner Rechtsphilosophie“, JZ 2010, 1021ff.
30. Von der Pfordten, Dietmar, „Was ist Recht? Eine philosophische Perspektive“, in: Brugger, Winfried/ Neumann, Ulfrid/ Kirste, Stephan (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008, S. 261 ff.
31. Von der Pfordten, Dietmar, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn: mentis Verlag, 2009.
32. Von der Pfordten, Dietmar, Rechtsphilosophie: Eine Einführung, München: C.H. Beck, 2013.

A. Einleitung

Bei der folgenden Arbeit geht es darum, ob ein Gesetz noch Recht ist, wenn es unrecht ist. Dazu sind die Radbruchsche Formel und ihre Befürworter (Ralf Dreier und Robert Alexy) und Kritiker (H. L. A. Hart und Horst Dreier) hier zu diskutieren, indem sowohl ihr Inhalt und ihre Anwendungen durch das Bundesverfassungsgericht, als auch den Rechtsbegriff der Radbruchschen Formel zu analysieren versucht werden.

Gustav Radbruch, ein deutscher Rechtswissenschaftler während und nach dem Zweiten Weltkrieg, meinte, dass Recht eine Kulturerscheinung oder wertbezogene Tatsache sei. Er bezeichnet den Rechtsbegriff als die Gegebenheit, „die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen.1 “ Zudem behauptet er eine wesentliche Vorstellung für Gerechtigkeit: „Recht kann ungerecht sein, aber es ist Recht nur, weil es den Sinn hat, gerecht zu sein.2 “ Die Formel, die Radbruch stellte, stammte aus seinem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht.3 “ Grundsätzlich ist sie so zu verstehen: (1) Recht, das nur inhaltlich ungerecht ist, bleibt geltendes Rechts; (2) Recht, bei dem der Widerspruch zur Gerechtigkeit aus einer objektivierenden Perspektive ein „unerträgliches Maß“ erreicht, verliert seine Geltung als „Unrichtiges Recht“; (3) Verpflichtungen, bei denen Gerechtigkeit nicht einmal subjektiv erstrebt wird, wo also der Verpflichtende nicht einmal die Absicht hat, gerechtes Recht zu schaffen, entbehren überhaupt der Rechtsnatur4. Ohne Rechtsnatur ist das Gesetz damit kein Recht, vielmehr eigentlich Unrecht, Macht oder Gewalt. Was die Radbruchsche Formel vertritt, ist wie mir scheint eine Renaissance des Naturrechts, das dem Rechtspositivismus entgegengesetzt ist.

Über die unterschiedlichen Vorstellungen vom Rechtsbegriff und seiner Geltung hatte seit langer Zeit ein Streit bestanden. Im 19. Jahrhundert hatte der Rechtspositivismus in Deutschland einem Gipfel erreicht5 ; er vertrat die Ansicht, dass das Gesetz auch ohne Recht ein gültiges Gesetz sei. John Austin bezeichnete das Gesetz sogar als eine Autorität. Infolgedessen wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg problematisiert, ob es unrecht ist, im Dienst gemäß der NS-Gesetze zu handeln. Um diese Frage zu lösen, müssen vielleicht zuerst der Streit zwischen dem Rechtspositivismus und dem Naturrecht bzw. sog. Nichtrechtspositivismus zu lösen sein.

Der Rechtspositivismus vertritt grundsätzlich die Trennungsthese, die besagt, dass der Rechtsbegriff keine moralischen Elemente enthält. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Recht und der Moral, zwischen dem, was das Recht gebietet, und dem, was die Gerechtigkeit fordert, oder zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll6. Der Rechtspositivismus hat sogar zwei Definitionselemente: das der ordnungsgemäßen oder der autoritativen Gesetztheit, und das der sozialen Wirksamkeit7. Demgegenüber steht die Verbindungsthese. Diese wirf von dem Naturrecht oder dem sog. Nichtpositivismus vertreten, der moralische Elemente ins Recht miteinbezieht. Zudem enthält diese nicht nur den auf die existierten Tatsachen abstellenden Charakter, sondern auch den moralischen8. Die verschiedenen Vorstellungen und der Streit darum bestehen neben der Rechtswissenschaft auch im Staatsrecht, namentlich in dem Bereich des Verfassungsprinzips. Dies könnte als ein Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit bezeichnet werden.

Um eine rechtlich gesicherte Sphäre des Bürgers gegenüber dem Staat zu schützen, bedeutet Rechtssicherheit eine Ausübung staatlicher Gewalt im Rahmen der Rechtsordnung. Zudem enthält sie die Elemente wie Bestimmtheit, Klarheit, Verlässlichkeit der Rechtsordnung9. Genauer gesagt: Das rechtliche Gesetz muss bestimmt und klar gesetzt werden, sodass der Bürger sich darauf verlassen kann. Das bürgerliche Interesse kann garantiert werden, indem die staatliche Gewalt im Rahmen der Rechtsordnung beschränkt wird. Gleichzeitig ist Gerechtigkeit allerdings auch für den Bürger wichtig. Sie ist sowohl ein Baustein des demokratischen Verfassungsstaats,10 als auch das Ziel des Rechts11.

B. Die Radbruche Formel und ihre Anwendungen durch BVerfG

I. Die Radbruchsche Formel

Im Jahr 1946 schrieb Radbruch für die »Süddeutsche Juristen-Zeitung« einen Aufsatz mit dem Titel „Gesetzliches Unrecht und Übergesetzliches Recht“, in dem er über die Gesetze der NS-Zeit und ihre Gültigkeit diskutiert, um deren Rechtsprechungen zu kritisieren12. Einige Jahre später nannte Richard Lange in einem Aufsatz in der »Süddeutschen Juristen-Zeitung« die Vorstellung Radbruchs „die Radbruchsche Formel“13.

In seinem Aufsatz schrieb Radbruch Folgendes:

Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, ein schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihren Sinn nach bestimmt ist, die Gerechtigkeit zu dienen14.

Grundsätzlich kann das ungerechte Recht gemäß diesem Absatz in drei verschiedene Ebenen unterteilt werden: (1) Das positive Recht hat stets Vorrang, obgleich sein Inhalt ungerecht und unzweckmäßig ist. (2) Wenn die Ungerechtigkeit und Unzweckmäßigkeit des Rechtes unerträglich sind, bezeichnet man das Recht als unrichtiges Recht. (3) Wenn das Recht nicht die Gerechtigkeit und die Gleichheit anstrebt, ist es nicht mehr Recht, sondern es ist Unrecht überhaupt, weil es der Rechtsnatur entbehrt15.

Ferner kann man aus der Radbruchschen Formel ableiten, dass das positive Recht, das Gesetz, in der Regel gemäß der ersten Formel gültig ist. Die Ebene (2) und (3) können als die Grenze des Rechts verstanden werden. Sie sind die Unerträglichkeitsformel und die Verleugungsformel16. Der Unerträglichkeitsformel zufolge kann man ein positives Recht als unrichtiges Recht bezeichnen, wenn der Widerspruch dieses Rechts zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht. Wenn ein Recht nicht mehr die Gerechtigkeit oder die Gleichheit anstrebt, ist es wegen des Fehlens seiner Rechtsnatur als ein Recht zu verleugnen. Es ist somit vielmehr ein Unrecht. Die Wissenschaftler heutzutage kommentieren somit, dass die Radbruchsche Formel die Renaissance des Naturrechts darstellt ,und dass Radbruch für die Rechtsphilosophie eine Versöhnung im Konflikt zwischen dem Rechtspositivismus und dem Naturrecht repräsentiert und ja sogar eine Brücke zwischen letzteren ist17.

Allerdings ist die Radbruchsche Formel noch umstritten. Im Bezug auf die Unerträglichkeitsformel ist es unklar, wie die Unerträglichkeit des Widerspruchs des Recht zur Gerechtigkeit zu verstehen ist. Zudem ist es bei der Verleugnungsformel auch problematisch, das Recht zu erkennen; genauer gesagt, was Recht im Sinne Radbruchs ist. Bevor wir das unrichtige Recht bei Radbruch erkennen können, müssen wir versuchen, seine Vorstellung vom Begriff des Rechts zu verstehen. Radbruch meinte, dass Recht die Wirklichkeit sei, die den Sinn habe, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen18. Die Rechtsidee enthält die Gerechtigkeit, die Zweckmäßigkeit und die Rechtssicherheit. Detailliert gesagt, der Kern der Gerechtigkeit ist der Gedanke der Gleichheit19, die Gewährleistung der Menschenrechte, besonders der äußeren und inneren Freiheit. Dies ist der Zweck des Rechts20, und dass das Recht fest dargestellt werden muss, um den Zweck und die Gerechtigkeit zu erfüllen, indem es das postive Recht wird21. Zur Rangordnung der Rechtideen meint Radbruch, dass die Gerechtigkeit und die Rechtssicherheit vor der Zweckmäßigkeit stünden, weil die Zweckmäßigkeit keine allgemeingültige Feststellung gestatte und sie von der Willkür leicht missbraucht werde. Der möglicherweise entscheidende Streit bezüglich der Rangordnung betrifft somit die Reihenfolge von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Dazu meint er, dass die Ungerechtigkeit des positiven Rechts ein solches Maß erreiche, dass die Rechtssicherheit gegenüber dieser Ungerechtigkeit nicht mehr ins Gewicht falle, sodass das positive Recht in diesem Fall der Gerechtigkeit weichen muss. Aber in der Regel ist Rechtssicherheit eine mindere Form der Gerechtigkeit, weswegen sie außer der obigen Situation prinzipiell Vorrang vor ihr hat22. Somit verstehen wir die Rechtsideen und auch den Rechtsbegriff, und könnten so aus der Verleugnungsformel ableiten, dass ein positives Recht nicht mehr Recht sondern Unrecht ist, wenn es sich auf keiner Gerechtigkeit beruht oder die Gerechtigkeit schon verloren hat, damit es fehlt um die Rechtsnatur.

Zurück zur Problematik der Unerträglichkeitsformel: Zu welchem Maß kann man sagen, dass das ungerechte Recht unerträglich ist? Dabei könnten wir die Gewährleistung der Menschenrechte als das Kriterium nehmen. Beruhend auf der Gerechtigkeit und der Gleichheit als der Kern der Gerechtigkeit, meint Radbruch, dass es die Menschenrechte ungeachtet habe, weil die auf der Freiheit beruhen und in der individualen, überindividualen und transpersonalen Ebene entwickelnden Menschenrechte die Gerechtigkeit konkret repräsentieren. Dementsprechend gibt es einige Rechtsprechungen im Bundesverfassungsgerichtshof, die die Radbruchsche Formel benutzen, um den Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen.

II. Die Anwendungen der Radbruchschen Formel durch BVerfG

Seit Mittel des 21. Jahrhunderts hat der Bundesverfassungsgerichthof die Radbruchsche Formel anerkannt, namentlich für die Geltung von Gesetzen der NS-Zeit. Im Folgenden möchte ich auf einige Rechtsprechungen eingehen, um die Anwendung der Formel zu veranschaulichen23.

1. BVerfGE 3, 58 – G 131

Bei diesem Urteil geht es darum, ob das nationalsozialistische Beamtenrecht als gesetzliches Unrecht niemals gegolten hat. Hier diente die Radbruchsche Formel dem BVerfG als ein Kriterium, um die Geltung dieses Beamtenrechts zu beurteilen. So lautet die Aussage in der Rechtsprechung:

Eine solche Auffassung würde übersehen, dass es auch eine ‚soziologische’ Geltung von Rechtsvorschriften gibt, die erst dort bedeutungslos wird, wo solche Vorschriften in so evidentem Widerspruch mit den alles formale Recht beherrschenden Prinzipien der Gerechtigkeit treten, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte Unrecht statt Recht spräche24.

In dem obigen Auszug aus diesem Urteil können wir sehen, dass der Richter darin auf Basis der Unerträglichkeitsformel das nationalsozialistische Beamtenrecht für nichtig erklärt, weil es trotz einer tatsächlichen Geltung den evidenten Widerspruch zur Gerechtigkeit hat, die der Zweck allen formalen Rechts ist. Nach der Verleugnungsformel ist es zudem für den Richter, der ein Teil des Rechtssystems ist, nicht mehr ein Recht, sondern ein Unrecht.

2. BVerfGE 3, 225 – Gleichberechtigung

Bei diesem Urteil geht es darum, ob Art.117 Abs.1 GG aufgrund des Verstoßes gegen ranghöhere Normen für nichtig erklärt werden müsse25. Die Radbruchsche Formel wird in dieser Rechtsprechung deutlich zitiert, um diesen Konflikt zu lösen26. Hier befindet der Richter, dass eine Norm mit einem unerträglichen Widerspruch überhaupt erst keine Norm ist. So lautet die Rechtsprechung:

Würde eine Norm die dem Recht immanente Funktion der Friedensbewahrung verleugnen, verfälschen oder in unerträglichem Maße missachten, so könnte sie selbst in der Gestalt einer ursprünglichen Verfassungsnorm nichtig sein27.

[...]


1 Radbruch, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, Stuttgart: C.F. Müller, 2003, S. 12.

2 Ebenda.

3 Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in: derselbe, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, S. 211 ff.; auch in: Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe Bd.3: Rechtsphilosophie III (GRGA Bd.3 ), Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag, 1990. S. 83 ff.

4 dazu vgl. D. von der Pfordten, Rechtsphilosophie: Eine Einführung, München: C.H. Beck, 2013, S. 79.

5 Vgl. D. von der Pfordten, a.a.O. S. 27 f.

6 Dazu vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg: Verlag Karl Alber, 1994. S. 15; Hoerster, Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München: C.H. Beck, 2006, S. 65 ff.; Seelmann/ Demko, Rechtsphilosophie, München: C.H.Beck, 2014, S. 33 ff.; D. von der Pfordten, a.a.O., S. 66 f.

7 Alexy, a.a.O., S.16.

8 Ebenda.

9 Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, Stuttgart: C.F. Müller, 2015, S. 143.

10 vgl. Kriele, Einführung in die Staatslehre, Stuttgart: Kohlhammer, 2003, S. 177 ff.

11 D. von der Pfordten, a.a.O., S. 22.

12 Bei der Rechtsprechung geht es um die Geltung der die das Eigentum der Juden dem Staat für verfallen erklärten Gesetze, die mit dem Naturrecht in Widerspruch stehen und schon zur Zeit ihres Erlasses nichtig waren. Dazu vgl. SJZ 1946, S. 36.

13 “Er [der Senat] macht sich damit die Wendung gegen den Rechtspositivismus zu eigen, für die Radbruch die Formel von der Möglichkeit gesetzlichen Unrechts und übergesetzlichen Rechts geprägt hat, und bekennt sich zu einer materiellen Bestimmung des Unrechts” in: Lange, “Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone zum Verbrechen gegen die Menschheit”, SJZ 1948, S. 655.

14 Radbruch, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, S. 216; GRGA Bd.3, S. 89.

15 Zum weiteren Vergleich: D. von der Pfordten, Rechtsphilosophie: Eine Einführung, S. 78 f.

16 Dazu vgl. R. Dreier und S. Paulson, „Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs“ in: dieselbe (Hrsg.), Rechtsphilosophie: Studienausgabe, S. 248; Robert Alexy behauptet weiter, dass es bei der Unerträglichkeitsformel um den Rechtsbegriff aus der Beobachtungsperspektive unter dem Rechtspositivismus handelt, und es sich bei der Verleungungsformel um ihn aus der Teilnehmersperspektive handelt. Dazu vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 51ff., 63 ff.; Tiefere Untersuchung vgl. H. Adachi, Die Radbruchsche Formel, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 17 ff., 37 ff. und 77 ff.

17 vgl. Kaufmann/ Hassemer/ Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Stuttgart: C.F. Müller, 2004, S. 89 ff.

18 Radbruch, Rechtsphilosophie: Studienausgabe, S. 34.

19 Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, in: GRGA Bd.3, S. 142.

20 Radbruch, a.a.O., s.145f. Zu dem Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit meint Radbruch weiter, dass die austeilende Gerechtigkeit über das Wertverhältnis zwischen Menschenrechten und überindividualistischem Volksganzen oder transpersonalen Kulturwerten entscheide. Die völlige Leugnung der Menschenrechte vom überindividualistischen Standpunkt oder vom transpersonalen Standpunkt aus gesehen sei jedoch absolut unrichtiges Recht. Dazu vgl., Radbruch, a.a.O., S. 147.

21 Radbruch, a.a.O., S. 147.

22 Radbruch, a.a.O., S. 149 f.

23 Ich möchte in dieser Arbeit die Anwendungen der Formel aufgrund des gewählten Themas nur bei den Rechtsprechungen im BVerfG besprechen, obwohl es Anwendungen der Formel in den strafrechtlichen Rechtsprechungen gibt. Die folgende Formulierung der BVerfGE stammt von: C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, S. 86 ff.

24 BVerfGE 3, 58, 118.

25 BVerfGE 3, 225, Rn.13.

26 BVerfGE 3, 225, Rn.21.

27 BVerfGE 3, 225, Rn.33.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die Radbruchsche Formel und ihre Kritik. Eine Diskussion
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Juristische Fakultät)
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
26
Katalognummer
V1012457
ISBN (eBook)
9783346405050
ISBN (Buch)
9783346405067
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Die Radbruchsche Formel, Naturrecht, Rechtspositivismus, Rechtssicherheit, Hart, Alexy
Arbeit zitieren
Chao-Chin Chan (Autor:in), 2016, Die Radbruchsche Formel und ihre Kritik. Eine Diskussion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1012457

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