Etappen der NATO-Osterweiterung im Kontext der Reaktionen und Vorbehalte Russlands, 1991-1996


Hausarbeit, 1997

19 Seiten, Note: 1


Leseprobe


0. Einleitung

Das übergeordnete Thema dieser Arbeit ist die geplante Osterweiterung der NATO und die Reaktionen und Vorbehalte seitens der russischen Regierung. Von der Perspektive der NATO und der USA ausgehend werden die Maßnahmen dargestellt, welche die Vorbehalte der russischen Regierung gegen eine NATO-Osterweiterung zerstreuen sollen. Dabei werden die Etappen der Osterweiterung wie die Gründung des Nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR)1 und die "Partnerschaft für den Frieden" (PfP)2 zwischen 1991 und 1996 auf primär sicherheitspolitischer Ebene erörtert. Diese Etappen wurden vor allem durch den Widerstand Rußlands nötig. Die Ereignisse von Januar bis März 1997 finden keine Berücksichtigung, da eine fundierte Bewertung oder Analyse der politischen Ereignisse wie das Gipfeltreffen zwischen Clinton und Jelzin in Helsinki im März 1997 mir verfrüht erscheint und für diese Arbeit zu weit gefaßt wäre.

Darüber hinaus darf der übergeordnete Kontext der Osterweiterung nicht in Vergessenheit geraten. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Auflösung der Sowjetunion brauchte das westliche Bündnis eine neue Aufgabenstellung, und die NATO mußte sich neue Aufgabenfelder und Ziele suchen, um nicht ihre Existenzberechtigung zu verlieren. Die Euphorie, die in der Charta von Paris vom November 1990 zum Ausdruck kam, ist weitgehend verschwunden und die Diskussion in der Öffentlichkeit und in diplomatischen wie wissenschaftlichen Fachkreisen dreht sich um die Kontroverse, wie sich eine NATO-Erweiterung auf das Verhältnis zu Rußland auswirken wird. Die NATO-Partner suchen nach einer Lösung, die sowohl die Ausdehnung der Allianz nach Osten wie auch ein konstruktives und entspanntes Verhältnis zu Rußland ermöglicht. Rußlands Vorbehalte, die der NATO bei der Erweiterungsproblematik im Wege stehen, lassen sich verkürzt zusammenfassen: Rußland betrachtet nach wie vor die NATO in erster Linie als ein Militärbündnis und Überbleibsel aus dem "Kalten Krieg" und sieht mit der neuen NATO-Strategie das militärisch-strategische Gleichgewicht in Europa gestört. Nach russischer Lesart würde mit einer Osterweiterung die NATO auch faktisch internationale Abrüstungsverträge wie den Vertrag über Konventionelle Abrüstung in Europa außer Kraft setzen. Ein weiterer Vorbehalt ist die mögliche Stationierung von Atomwaffen und NATO-Truppen in den NATO-Beitrittsländern, die Rußland auf jeden Fall verhindern möchte, da eine Stationierung als potentielle Bedrohung angesehen würde.

Der inhaltliche Aufbau des Hauptteils ist zweigliedrig: Im ersten Teil soll die Idee einer Osterweiterung der NATO und ihr neues strategisches Konzept behandelt werden. Es schließt sich daran eine Darstellung der Außenpolitik der US-Regierung gegenüber der russischen Regierung seit 1991 an. Im zweiten Teil werden die wichtigsten Etappen hin zu einer NATO- Osterweiterung behandelt: Die Einrichtung des NAKR und der PfP sowie die Studie über die NATO-Erweiterung (Study on NATO Enlargement) 3. Die Reaktionen Rußlands auf diese drei Initiativen werden jeweils nachgezeichnet.

1. NATO, USA und Rußland seit dem Ende des Ost-West-Konflikts

1.1. Die Idee einer Osterweiterung der NATO

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zerfall der Sowjetunion drängten insbesondere die mittel- und osteuropäischen (MOE) Staaten auf eine möglichst schnelle Vollmitgliedschaft in der NATO.4 Insbesondere die sog. Visegrad-Staaten5 (Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn) haben die größten Chancen, bei einer Osterweiterung die ersten Beitrittskandidaten zu sein. Im Februar 1991 entschlossen sie sich zur Zusammenarbeit, da sie glaubten, schneller als andere Staaten in die Europäische Union (EU) und NATO aufgenommen zu werden. Doch die anfängliche Einheitlichkeit des Vorgehens ist nationalen Alleingängen der Regierungen gewichen. So distanzierte sich Tschechien - das wirtschaftlich stärkste Land der Gruppe - als erstes von der Visegrad-Gruppe.6

Tschechien verstärkte nach der Trennung von der Slowakei seinen Westkurs. Die NATOMitgliedschaft soll nach Meinung der tschechischen Regierung vor allem eine Sicherheitsgarantie der Vereinigten Staaten mit sich bringen. Auch eine mögliche neo-imperiale Politik Rußlands und die Gefahr eines "strategischen Vakuums"7 wird als latente Bedrohung angesehen.

Die ökonomische und politische Situation in der Slowakei ist weniger stabil als in Tschechien. Durch die angestrebte Mitgliedschaft in NATO und EU/ Westeuropäische Union (WEU) erhofft sich das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung. Da die Slowakei unmittelbar an die Ukraine grenzt, befürchtet sie eher sicherheitspolitische Gefahren als Tschechien.8

Die Regierung Polens war seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bemüht, Vollmitglied in der EU zu werden. Nach der Auflösung des Warschauer Pakts versuchte Polen möglichst schnell in die NATO zu gelangen, da es sich dadurch einen Schutz vor Rußland und auch Deutschland erhoffte, geprägt von den vormals expansionistischen Vorgehens Rußlands und Deutschlands. Auch die aktuelle Situation (z. B. russisches Militärpotential an Polens Nordgrenze) bereitet Polen Sorgen.

Ungarn baut vor allem auf die Unterstützung von Deutschland. Seine Sicherheitsinteressen werden von möglichen Konflikten in der Slowakei, Rumänien und Serbien geprägt. Auch der Grenznachbar Ukraine macht den Ungarn Sorgen, wenn es zu Turbulenzen in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kommen sollte, die sich via Ukraine auf Ungarn auswirken könnten.9 Juristisch ist eine Erweiterung der NATO möglich. Im Gründungsvertrag der NATO, der am

4. April 1949 in Washington unterzeichnet wurde, heißt es in Artikel 10:

"Die Parteien können durch einstimmigen Beschluß jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen."10

In der Geschichte der NATO gab es schon einige Erweiterungen. Griechenland und die Türkei wurden 1952 Mitglieder der NATO, die BRD wurde 1955 aufgenommen und Spanien trat 1982 der NATO bei. Diese Beitritte stehen natürlich in einem anderen Kontext als die jetzigen Beitrittswünsche der MOE-Staaten.

Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 16 NATO-Mitgliedsländer im Januar 1994 in Brüssel wurde die Offenheit der Allianz versichert und die NATO-Osterweiterung als ein Teil eines evolutionären Prozesses begrüßt. Das "why and how" der Erweiterung sollte in einem Prozeß der Untersuchung der internen NATO-Strukturen ausgelotet werden.11 Geoffrey Lee Williams beschreibt drei Ziele der Allianz12 in Bezug auf ihre Erweiterung:

(1) Aufrechterhaltung guter Beziehungen mit einem demokratischen Rußland.
(2) Unterstützung und Garantien für die Unabhängigkeit von Osteuropa.
(3) Integration der zentraleuropäischen Staaten in den Westen.13

Das "who and when" der Erweiterung14 wird in einigen NATO-Dokumenten auch the- matisiert. Bei der Frage, wer die ersten Beitrittsaspiranten sein können, haben die Visegrad- Staaten erste Priorität. Problematisch ist es bei den baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) sowie Rumänien und Bulgarien, da eine Ausdehnung der NATO um diese Länder mit ihrer geographischen Nähe zu Rußland die russischen Sicherheitsinteressen verletzen würde. Sie könnten höchstens in einer zweiten Phase einer NATO-Osterweiterung aufgenommen werden. Das Problem wird dadurch noch verschärft, daß einzelne NATO-Mitgliedsländer Präferenzen für bestimmte Beitrittskandidaten haben (z. B. möchte Italien, daß Slowenien mitaufgenommen werden soll.). Über das "when" einer Erweiterung besteht wenig Konsens, es wird eventuell 1997 entschieden. Ein detaillierter Zeitplan wurde jedenfalls noch nicht vorgelegt.

1.2. Das neue strategische Konzept der NATO

Die NATO mußte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einen Prozeß der inneren Erweiterung und Anpassung einleiten. Dieser hat nach offizieller NATO-Darstellung die Betonung des Militärischen auf politische und ökonomische Aspekte verlagert. Daher ist ein neues "Strategisches Konzept der NATO" ausgearbeitet worden, das als politisch-strategisches Gesamtkonzept geplant wurde.

Dieses neue strategische Konzept der NATO von 199115 soll die Grundsätze des Vertrags von Washington erneuern. Die NATO gibt als Ziele des strategischen Konzepts die Aufrechterhaltung von Frieden, Freiheit, Stabilität und Wohlergehen in Europa an. Es scheint aber eher dazu zu dienen, ihre Selbsterhaltung nach ihrer Sinnkrise zu rechtfertigen.

Dem Konzept liegen vier Prämissen16 zugrunde:

(1) "Es [das Nordatlantische Bündnis] bietet eines der unverzichtbaren Fundamente für ein stabiles sicherheitspolitisches Umfeld in Europa, gegründet auf dem Wachsen demo- kratischer Einrichtungen und auf dem Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitig- keiten; ..."17
(2) Es soll unter den Verbündeten als transatlantisches Forum der Konsultation über sicher- heitspolitische Fragen dienen.
(3) Es soll jeden Angriff auf das Hoheitsgebiet eines NATO-Mitglieds abwehren.
(4) Das strategische Gleichgewicht in Europa soll gewahrt werden.

Für das Erreichen dieser Ziele soll nach Ansicht der NATO die militärische Dimension des Bündnisses ein wesentlicher Faktor bleiben.18 Die legitimen Sicherheitsinteressen anderer Staaten sollen geachtet und eine friedliche Beilegung der Konflikte angestrebt werden. Nach NATOEinschätzung sind die Chancen zum Aufbau einer Partnerschaft (siehe Kapitel 2.2.) zu dem vormals antagonistischen Länderblöcken größer denn je.

Auf das Prinzip der kollektiven Verteidigung (Artikel 5 des NATO-Vertrages von 1949) will die NATO auch nach dem Ende des "Kalten Krieges" nicht verzichten; die Notwendigkeit nuklearer und konventioneller Streitkräfte in Europa auf absehbare Zeit wird bejaht. Dabei gibt die NATO vor, weiterhin rein defensiv ausgerichtet zu sein. Defensiv heißt für sie, bei Gefährdungen und Krisen aktiv zu werden. In solchen Krisen will sie u. a. auch eigene Interessen verteidigen ("flow of vital resources"). Diese Verteidigung geschieht nicht nur auf NATO- Gebiet: Nach 1991 wurde der militärische NATO-Aktionsradius um out of area -Einsätze erweitert. Dazu wurden spezielle Interventionsstreitkräfte und "schnelle Eingreif-truppen" aufgebaut. Diese neue Strategie beeinflußt die russische Wahrnehmung der NATO-Erweiterung nicht unerheblich.

1.3. Die Außenpolitik der US-Regierung gegenüber der russischen Regierung seit 1991

Die Politik der USA gegenüber der Sowjetunion bis zu deren Auflösung blieb mit Ein- schränkungen im Grunde eine Eindämmungspolitik ("containment"). Die Bush-Administration schwenkte ihre Rußlandpolitik hin zum Aufbau einer partnerschaftlichen Beziehung zu Rußland und den früheren sowjetischen Republiken.19 Nach 1992 führte die Clinton-Administration die begonnene außenpolitische Linie fort, die ehemalige Gegnerschaft in eine echte Partnerschaft zu transformieren. Der Erfolg der russischen Reformpolitik wird von amerikanischer Seite als Voraussetzung für dieses bilateral-partnerschaftliche Verhältnis angesehen. An die Stelle des "containment" hat die Clinton-Administration das Prinzip des demokratischen Liberalismus gesetzt.20

Unterstützungsmaßnahmen für Demokratie und Marktwirtschaft in Rußland finden große Zustimmung in der außenpolitischen Elite der USA, bis auf Teile des semi-isolationistischen Flügels. 1992 konnte Präsident Bush den "Freedom Support Act" (direkte finanzielle Hilfe für Rußland von 470 Mio. US-Dollar) nur mit großer Mühe im Kongreß durchsetzen. Diese schwierige innenpolitische Situation änderte sich auch unter Clinton nicht gravierend. Er versuchte im Rahmen der G-7 und des Internationalen Währungsfonds (IWF) stärkere Unterstützung für die ökonomischen und politischen Transformationsprozesse in Rußland zu erreichen. Der IWF aber wollte die Bedingungen für Kredite nicht entscheidend lockern, trotz großen Drucks und öffentlicher Kritik der Amerikaner. Der Wahlerfolg der rechtsextremen Parteien und Gruppierungen in Rußland im Winter 1993 verstärkte die amerikanische Kritik zusätzlich. So hieß denn als Konsequenz der Amerikaner das Motto für das Moskauer Gipfeltreffen im Januar 1994 "Mehr Reform, mehr Therapie".21 Trotzdem bleibt der finanzielle Umfang der direkten amerikanischen Hilfe aber insgesamt bescheiden. Weitere Unterstützungsmaßnahmen durch die Einschaltung privater und halbprivater Initiativen und Einrichtungen (z. B. Stiftungen) laufen aber letztendlich "... auf eine Transnationalisierung der amerikanischen Rußlandpolitik hinaus."22 Auch besteht die Gefahr, ein Gefühl der "Amerikanisierung" oder "Yankeeization" 23 könnte sich zunehmend in Rußland verbreiten.

Bei dem Komplex Konfliktmanagement läßt sich feststellen, daß die amerikanisch-russischen Beziehungen weiterhin von einer "strategischen Interdependenz"24, d. h. wechselseitigen Vernichtungsfähigkeit geprägt sind. Das Ziel einer "komplexen Interdependenz"25 mit weniger militärstrategischen Überlegungen ist noch nicht vollständig erreicht. Mit dem Friendship Act im

November 1993 beendete der US-Kongreß den "Kalten Krieg" endgültig: Hinweise in Verordnungen und Gesetzestexten auf eine "weltweite kommunistische Verschwörung" usw. wurden entfernt; ökonomische Kontrollinstanzen wurden aufgelöst.

Trotz Kooperation, welche die amerikanisch(-sowjetisch)-russischen Beziehungen seit etwa 1985 prägen, behielt die amerikanische politische Administration in Fragen von Regio- nalkonflikten und Rüstungskontrollen die Oberhand. Auf der russischen Seite geriet die ko- operative außenpolitische Linie vom damaligen Außenminister Kosyrew zunehmend unter Druck, der insbesondere von russischen konservativen und nationalistischen Kräften ausgeübt wurde.26 Die "euro-atlantische" Linie (Atlantizismus) der russischen Regierung verschob sich ab Herbst 1992 hin zu einer gemäßigt "eurasischen", da unter anderem die hochgesteckten Erwartungen an die westliche Hilfe nicht erfüllt wurden und die Außenpolitik der russischen politischen Administration als zu proamerikanisch (hauptsächlich von rechten Kräften vertretene Meinung) bewertet wurde.

Neben Konflikten bei den Themen Nonproliferation und russischer Rüstungs- und Tech- nologieexporte27, der Politik Rußlands auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion ("nahes Ausland")28 und den Interessendivergenzen bei dem Militäreinsatz in Ex-Jugoslawien erzeugt die Frage der Erweiterung der NATO enormes Konfliktpotential. Die Clinton-Administration war in der Frage einer NATO-Osterweiterung zunächst gespalten. Im Frühjahr 1992 äußerte sich der damalige amerikanische Verteidigungsminister Cheney eher unverbindlich und vorsichtig; auch das Pentagon wandte sich gegen eine schnelle Erweiterung. Die US-Regierung verhielt sich insgesamt eher zurückhaltend. Doch Ende 1994 fand eine scheinbare Kehrtwende des amerikanischen Präsidenten Clinton in der Frage der NATO-Osterweiterung statt: Auf dem Budapester Gipfel der KSZE im Dezember 1994 sprach sich Clinton in klaren Worten für eine nach Osten "expandierende" NATO aus, die seiner Ansicht nach den Osten stabilisieren helfe.29 Die westeuropäischen Staatsmänner und besonders Boris Jelzin waren über diese verwirrende Taktik Clintons verärgert. Dieser Richtungswechsel innerhalb der US-Politik hatte zum großen Teil mit den anstehenden Wahlen zum Kongreß zu tun.30 Nach Ansicht einiger Beobachter fürchtete Clinton um die demokratische Mehrheit im Senat und wollte durch den Kurswechsel auf dem Budapester Gipfel die starke polnische Minderheit im nördlichen Mittelwesten der USA auf seiner Seite halten.

Am Ende der Diskussionen innerhalb der Clinton-Administration kristallisierte sich ein "Kompromiß zwischen der Rücksichtnahme auf Rußland ... und dem Drängen der osteuropäischen Staaten in die NATO"31 heraus. Dieser Kompromiß war die "Partnerschaft für den Frieden", die in Kapitel 2.2. näher untersucht wird.

2. Die Etappen hin zu einer NATO-Osterweiterung

2.1. Der Nordatlantische Kooperationsrat

Der NAKR wurde Ende 1991 gegründet. Diese Gründung war das Resultat einer Reihe früherer Maßnahmen, zu denen sich das Nordatlantische Bündnis nach den tiefgreifenden Veränderungen in Osteuropa und den daraus entstandenen Handlungsdruck entschloß. Vorausgegangen war im Juli 1990 ein Gipfeltreffen in London, auf dem die NATO den Regierungen der UdSSR und anderen osteuropäischer Staaten32 anbot, ständige diplomatische Verbindung mit der NATO aufzunehmen. Die nächste Etappe war die Vereinbarung des "neuen strategischen Konzepts" der NATO (siehe Kapitel 1.2.) in Rom im November 1991. Im Dezember 1991 erfolgte dann die Gründung des NAKR.33

Der NAKR setzt sich aus den Außenministern (oder deren Repräsentanten) der 16 NATOStaaten und 24 Staaten Ost- und Mitteleuropas34 (inklusive Rußlands) zusammen. Am 20. Dezember 1991 fanden sich dann die Vertreter der Staaten zu einem konstituierenden Treffen zusammen, und bezeichnenderweise löste sich die UdSSR noch am selben Tag auf. Die anschließend gegründete GUS wurde mit allen ihren Staaten Mitglied im NAKR.

Der NAKR trifft sich mindestens einmal im Jahr. Nach Bedarf können auch weitere Treffen stattfinden. Im NAKR finden hauptsächlich Konsultationen und Kooperationen über politische und sicherheitspolitische Fragen statt. Ferner stehen ökonomische Themen, Öffentlichkeitsarbeit, wissenschaftliche und umweltpolitische Themen, militärische Kooperation zur Debatte.35

Nach Meinung von Meyer36 diente die Einrichtung des NAKR vorwiegend dazu, den KSE37 - I-Vertrag auch nach der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation zu sichern, da das austarierte militärische Gleichgewicht in Europa seit diesem Zeitpunkt hinfällig war. Die fristgerechte Einhaltung des Vertrages konnte bis 1995 gesichert werden. Auch die Erreichung des KSE-Ia-Vertrags über Streitkräfteumfänge sollte so gesichert werden.

Die Treffen des NAKR hatten auch eher die Funktion, die MOE-Länder über NATO- Beschlüsse aus erster Hand zu informieren. Einige MOE-Länder kritisierten den NAKR als "ein Moment der Hinhaltetaktik mit der vagen Perspektive einer späteren NATO-Mitgliedschaft".38

2.1.1. Die außenpolitischen Reaktionen Rußlands nach Gründung des NAKR

Boris Jelzin teilte der Weltöffentlichkeit am 8. Dezember 1991 mit, die Sowjetunion habe aufgehört zu existieren.39 Die Russische Föderation übernahm als Rechtsnachfolger der UdSSR dann alle Rechten und Pflichten aus internationalen Verträgen und Vereinbarungen. Die russische Europapolitik verlagerte sich von 1991 bis 1995 vom Primat des Außenministeriums hin zum Verteidigungsministerium. Dies hängt vor allem mit der Verabschiedung der neuen Militärdoktrin nach dem Sturm auf das russische Parlamentsgebäude am 4. Oktober 1993 zusammen, die ein Zugeständnis an die Loyalität der russischen Militärführung war. Auch das harte militärische Vorgehen Moskaus im Tschetschenienkonflikt zeigt den zunehmenden Einfluß des Militärs in der russischen Politik.

Die Entwicklung in der außenpolitischen Debatte bis 1993/1994 vollzog sich phasenweise40: Der außenpolitische Kurs des "neuen Denkens" wurde bis etwa Mitte 1992 eingehalten. Die Reformregierung und der damalige Außenminister Kosyrew vertraten einen universalistischenprowestlichen Kurs (Atlantizismus). Rußland sollte in die hochentwickelten und zivilisierten demokratischen Systeme eingebunden werden. Eine umfassende bi- und multilaterale Zusammenarbeit mit dem westlichen demokratischen Staaten wurde angestrebt.

In einer zweiten Phase wurde dieser prowestliche außenpolitische Kurs durch innenpolitische Strukturveränderungen und neue Machtverschiebungen in Frage gestellt. Die gewaltsamen Konflikte in der moldawischen Dnjestr-Region und in Georgien wurden durch konservative Oppositionskräfte gegen den Atlantizismus instrumentalisiert. Es bildeten sich als Gegenkonzepte der "Eurasismus" und der "geopolitische Realismus" heraus.41

In einer dritten Phase setzte Kosyrew aber die bisherige außenpolitische Linie weiter fort, obwohl der damalige Oberste Sowjet ab Sommer 1992 seinen Rücktritt forderte. Der russische Präsident jedoch unterstützte die Haltung Kosyrews. Trotzdem kam es seit Herbst 1992 zu einer langsamen Kursänderung der Außenpolitik hin zu eurasischen Zielen.

Die vierte Phase war von der Auflösung des ehemaligen Obersten Sowjet, dem gewaltsamen Sturm auf das "Weiße Haus" Anfang Oktober 1993 und den hohen Stimmengewinnen des Extremisten Schirinowski bei den Wahlen gekennzeichnet. Es kam zu einer weiteren Verschiebung der außenpolitischen Zielsetzung weg von atlantischen und partnerschaftlichen Positionen hin zu isolationistischen und revisionistischen Tendenzen.

Die russischen Vorstellungen von einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur strebten eine "UN-isierung" der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an, d. h. Rußland schlug ein neues Exekutivkomitee innerhalb der OSZE von nicht mehr als zehn Mitgliedern vor. Diese neue OSZE sollte dann in Zusammenarbeit mit dem nun eigenständig agierenden NAKR die Institutionen NATO, EU, WEU und GUS unter einem Dach koordinieren.42 Die Frage einer Vollmitgliedschaft Rußlands in der NATO wird von Rußland auf langfristige Sicht nicht ausgeschlossen: "Heute werfen wir die Frage nach Rußlands Beitritt in die NATO auf, betrachten diese aber als ein langfristiges politisches Ziel."43

Die grundsätzliche Bereitschaft Rußlands zur Partnerschaft mit den europäischen Staaten haben die Realitäten geschaffen, den ursprünglichen Gründungszweck der NATO fallenzulassen.

Im Prinzip ist Rußland - trotz aller internen und externen Kontroversen bereit, an einer gesamteuropäischen Friedensordnung mitzuwirken (siehe nächstes Kapitel).

2.2. Die "Partnerschaft für den Frieden"

Da die russische Regierung mit ihren Vorschlägen einer Aufnahme Rußlands und der Transformierung der NATO in eine kollektive Sicherheitsorganisation nicht der westlichen Interessenlage des Jahres 1993 entsprach, einigten sich die NATO-Verteidigungsminister am 20./21. Oktober 1993 in Travemünde auf einen Vorschlag des damaligen Pentagonchefs Aspin, eine "Partnerschaft für den Frieden" den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und neutralen Staaten wie z. B. Österreich und der Schweiz anzubieten.44

Auf dem Brüsseler NATO-Gipfel im Januar 1994 wurden dann auch die Staaten, die zu diesem Zeitpunkt im NAKR oder der OSZE Mitglied waren, eingeladen. Bis März 1996 sind 26 Staaten der Einladung gefolgt; auch die GUS-Staaten und die russische Föderation traten dem PFP-Rahmenabkommen bei.45

Der Zweck der PFP soll - von der Perspektive der NATO aus betrachtet - sein, die politische und militärische Kooperation in Europa auszuweiten und zu intensivieren, Stabilität zu erhöhen und Friedensbedrohungen zu vermindern.46 Das Verhältnis zwischen NAKR und PFP wird dahingehend beschrieben, daß der NAKR ein multilaterales Forum sei, während PFP die Kooperation zwischen NATO und individuellen Partnern fokussiere. Deshalb wurde ein "Partnership Work Programme" entwickelt, um dem jeweiligen Partner ein "Menü" von potentiellen kooperativen Aktivitäten bereitzustellen. Jeder PFP-Partner soll dann in einem zweiten Schritt zusammen mit der NATO ein "Individual Partnership Programme" (IPP) entwickeln, das konkrete Kooperationsaktivitäten auflistet.47

Als konkrete Ziele der PFP werden folgende genannt:48

(1) Ermöglichen von Transparenz bei nationaler Verteidigungsplanung und Haushaltspro- zessen.
(2) Sicherung der demokratischen Kontrolle von Verteidigungsstreitkräften.
(3) Erhaltung der Fähigkeit, Truppenkontingente bei UN/OSZE-Missionen bereitzustellen.
(4) Entwicklung eines kooperativen militärischen Verhältnisses mit der NATO (gemeinsame militärische Planung, Manöver) zum Zweck des Peacekeepings und humanitären Opera- tionen.
(5) Langfristige Weiterentwicklung und Angleichung der Streitkräfte der PFP-Länder an militärische NATO-Standards.

Interessant ist die starke Betonung des militärischen Aspekts, der sich in diesen fünf Zielen niederschlägt.

Staaten, die an der PFP partizipieren wollen, unterzeichnen ein öffentlich zugängliches Rahmendokument (Framework Document), in dem die Ziele der Partnerschaft und die Vor- stellungen und Werte (z. B. Schutz demokratischer Rechte) festgelegt sind. Nach Unterzeichnung dieses Dokuments legt der Partner ein individuelles Präsentationsdokument (Individual Presentation Document) vor, in dem verschiedene politische und militärische Aspekte der Partnerschaft thematisiert werden. In einem dritten Schritt werden individuelle Partnerschaftsprogramme (Individual Partnership Programme, IPP) ausgearbeitet. In diesen IPPs werden dann die Details der kooperativen Aktivitäten ausgearbeitet. Ein politisch- militärischer Lenkungsausschuß (Political-Military Steering Committee, PMSC) verhandelt während der Vorbereitung der IPPs allein mit dem jeweiligen Partnerland. Eine "Partnerschaftskoordinierungszelle"(Partnership Coordination Cell, PCC) mit Sitz im belgischen Mons, dem Sitz des militärischen NATO-Hauptquartiers, soll dann die Partnerschaftsprogramme unter der Obhut des Nordatlantikrates koordinieren.49

Im Januar 1995 wurde dann ein Planungs- und Prüfungsprozeß (Planing and Review Process, PARP) innerhalb der PFP eingeführt, um Interoperabilität und Transparenz zwischen NATO und Partnern zu erhöhen. Der erste Planungszirkel, in dem 14 Partner partizipierten, wurde im Frühjahr 1995 komplettiert.50

Insgesamt ist das PFP-Programm auch ein Versuch, sich folgenden drei Problemen anzunehmen und sie zu lösen:

(1) Die Forderungen der MOE-Staaten nach Vollmitgliedschaft und Sicherheitsgarantien in der NATO.
(2) Rußlands Bedenken, isoliert werden zu können.
(3) Die Suche nach einem neuen NATO-Auftrag in einem stark veränderten Sicherheitsum- feld.51

Das PFP-Programm bietet Osteuropa als auch dem Westen eine gewisse politische und strategische Vision für die nähere Zukunft und dämpft die allgemeine Orientierungslosigkeit etwas. Trotzdem kompensiert es nicht die Herausforderung, ein neues System kollektiver Sicherheit in Europa zu entwickeln. Stattdessen wird der Ausbau eines überholten Militärbündnisses forciert. Die PFP ist eher ein Kompromiß zwischen den Anhängern und Gegnern der NATO- Osterweiterung. Die Strategie des PFP-Programms eines Schritt-für-Schritt-Engagements soll der NATO helfen, ihren Transformationsprozeß weiter fortzuset-zen. Das eigentliche Dilemma der NATO-Osterweiterung bleibt aber die Rußlandpolitik, weshalb im nächsten Kapitel der Schwerpunkt auf dem Verhalten Rußlands zum PFP-Programm liegt.

2.2.1. Die Reaktionen Rußlands auf das PFP-Programm

Bis etwa Mitte 1994 begrüßte Rußland das PFP-Programm, allerdings forderte es einen eigenen Partnerschaftsvertrag, der Rußland ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht bei Entscheidungen geben sollte.52 Als Begründung wurde angeführt, daß innerhalb der NATO auch kleine Mitgliedsstaaten wie Island oder Luxemburg ein Vetorecht hätten, die Groß-macht Rußland hingegen nicht. Ex-Außenminister Kosyrew sagte die für den 21. April 1994 geplante Vertragsunterzeichnung kurzerhand ab. Am 22. Juni 1994 unterschrieb er schließ-lich nach weiteren Verhandlungen das PFP-Rahmenabkommen. Die NATO konnte Rußland dazu drängen, auf sein Vetorecht zu verzichten und daher legte Rußland am 5. Juli 1994 sein "Präsentationsdokument" vor.53

Im Sommer 1994 kündigte Clinton bei seinem Besuch in Polen an, daß die Mitgliedschaft Polens in der NATO nur noch eine Frage der Zeit und Modalitäten sei. Im Herbst 1994 entwickelte sich eine Kontroverse zwischen Verteidigungsminister Rühe und seinem US-Kollegen Perry über die Osterweiterung, in der Rühe sich für eine Aufnahme von einigen MOE-Ländern noch vor dem Jahr 2000 aussprach. Perry dahingegen wandte sich gegen eine vorschnelle Erweiterung in naher Zukunft.

Doch angestoßen durch den neuen Unterstaatssekretär für Europaangelegenheiten im State Department, Holbrooke, und eine Rede des Botschafters der USA bei der NATO, Kornblum, im Oktober 199454 trat eine Wende in der amerikanischen Außenpolitik bezüglich der Frage der Osterweiterung ein: "Eine auf ihre ursprüngliche defensive Rolle in ihrem ursprünglichen geographischen Grenzen beschränkte NATO könnte nicht prosperieren."55

Rußland wollte diesen außenpolitischen Schwenk nicht ohne weiteres mittragen, und russische Außenpolitiker warnten vor einer unüberlegten, überstürzten Erweiterung der NATO. So führte dieser Dissens am 1. Dezember 1994 in Brüssel zu einer Weigerung des damaligen russischen Außenministers, daß individuelle PFP-Programm für Rußland zu unterzeichnen. In der Folgezeit verschärfte sich die Lage weiter, als es auf dem eine Woche später stattfindenden KSZE-Gipfel in Budapest zu einem Disput zwischen Jelzin und Clinton über die NATO-Osterweiterung kam: "Ein solches Spiel macht es [Rußland] nicht mit."56

Auf russischer Seite hatte Kosyrew als Alternative zu einer Osterweiterung der NATO die Zusammenarbeit von Rußland mit der WEU vorgeschlagen, um den europäischen Frieden auf Dauer sicherzustellen. Die MOE-Staaten sollten zwar das Recht haben, selbst über einen Beitritt zur NATO zu entscheiden, dieser Prozeß dürfe aber nicht mit Nachdruck vorangetrieben werden. Von einer "überstürzten Erweiterung" wie Kosyrew es bezeichnet hat, kann aber nicht gesprochen werden, da u. a. in einem Kommuniqué des NATO-Rats beschlossen wurde, 1995 Studien zu erarbeiten, auf welche Art und Weise neue Staaten aufgenommen werden könnten.57 Ein fester Fahrplan existierte aber nicht. Auch die Herbsttagung der NATO- Verteidigungsminister am 14. und 15. Dezember 1994 in Brüssel brachte keine Anzeichen für eine Beschleunigung, vielmehr wurde ein Prüfungsprozeß für mögliche Neuaufnahmekandidaten initiiert.

Aus heutiger Sicht ist die Wende in der Ostpolitik der Clinton-Administration eng mit der Clinton immer wieder abgestrittenen Führungsfähigkeit in seinen außen- und innenpolitischen Entscheidungen verbunden. Ein angespannteres Verhältnis mit Rußland wurde von ihm bewußt in Kauf genommen.58 Das PFP-Angebot der NATO signalisierte wiederum, den Status quo auf mittelfristiger Ebene nicht entscheidend verändern zu wollen.

Diese inkohärente Ostpolitik oder "double-bind" -Politik59 von NATO und EU/WEU gegenüber Rußland und den MOE-Ländern hat insgesamt einige sicherheitspolitische Verwirrung und Orientierungslosigkeit im "Osten" wie auch im "Westen" hervorgerufen. Die Interessendifferenzen und die unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnisse der verschiedenen Staaten werden wohl auch in Zukunft schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sein. Abschließend soll die Studie über die NATO-Erweiterung von 1995 als weitere Etappe hin zu einer NATO-Osterweiterung analysiert werden.

2.3. Die Studie über die NATO-Erweiterung

Nach dem Gipfeltreffen in Brüssel im Januar 1994, auf dem die Erweiterung der Allianz als ein evolutionärer Prozeß bezeichnet wurde, gaben die Außenminister der Allianz im Dezember 1994 eine interne NATO-Studie in Auftrag, die analysieren sollte, wie die NATO sich erweitern und die Prinzipien der Erweiterung ausloten könne. Zu der Frage, wer und wann aufgenommen werden solle, äußerte sich von Moltke, stellvertretender Generalsekretär für politische Angelegenheiten der NATO, im Januar 1996: "The study deliberately does not address specific countries or time-frames for enlargement." 60 Auch spricht er von davon, daß die NATO den Prozeß der Erweiterung im "Geist" von Offenheit und Transparenz durchführen will.61

Die Studie selbst behandelt in sechs Kapiteln folgende Themenkomplexe:62

(1) Der Zweck und die Prinzipien der Erweiterung.
(2) Die Frage, wie die Erweiterung zu Stabilität und Sicherheit des gesamten euro-atlanti- schen Gebiets beitragen kann.
(3) Die Frage, wie der NAKR und die PFP den Erweiterungsprozeß unterstützen können.
(4) Die Stärkung der Effektivität der Allianz und Aufrechterhaltung ihrer Kernfunktionen wie allgemeine Defensivfähigkeit und Übernahme neuer Aufgaben (z. B. Peacekeeping in Ex-Jugoslawien).
(5) Die Frage der Implikationen der Mitgliedschaft von neuen Staaten.
(6) Die Modalitäten, wie der Erweiterungsprozeß fortgesetzt werden sollte.

Auf der Basis dieser Studie und der positiven Reaktionen innerhalb und außerhalb der Allianz - die aufnahmeinteressierten Ländern empfanden sie als ein solides und ausgewogenes Dokument zur Orientierung - wurde festgelegt, daß in der nächsten Phase der Erweite-rung (1996) der Prozeß aus drei Elementen bestehen soll:

(1) Intensivierter, individueller Dialog mit interessierten Partnern.
(2) Weitere Verbesserungen der PFP.
(3) Weitere Diskussion der Frage, was die NATO intern tun muß, um ihre Effektivität trotz der Erweiterung zu erhalten.63

Die Rolle Rußlands innerhalb des Erweiterungsprozesses wird weiterhin als wichtig eingeschätzt.64 Zu Rußland soll eine aktive, konstruktive und kooperative Beziehung als Eckstein einer neuen Sicherheitsstruktur in Europa unterhalten werden. Die russischen Vor-behalte65 werden wahrgenommen, deshalb soll der Zeitpunkt der Erweiterung nicht genau definiert werden. Insgesamt ist aber die vielbeschworene strategische Partnerschaft mit Rußland fragwürdig; Mutz bezeichnet den Versuch der Osterweiterung als "Affront gegen Rußland ohne wirklichen Nutzen."66 Die Ausgrenzung Rußlands in Gleichstellung verwandeln zu wollen bezeichnet er als eine Aufgabe, die man nicht erfüllen könne.67

3. Zusammenfassung

Ausgehend vom Ende des Ost-West-Konflikts haben die MOE-Staaten auf eine möglichst schnelle Mitgliedschaft in der NATO gedrängt. Mit dem neuen strategischen Konzept der NATO vom November 1991 leitete die NATO einen Prozeß der inneren Erweiterung und Anpassung ein. Die Außenpolitik der USA gegenüber Rußland schwenkte von einer Eindämmungspolitik zu Zeiten des "Kalten Kriegs" hin zum Aufbau einer partnerschaftlichen Beziehung. Die Frage einer Osterweiterung der NATO erzeugte enormes Konfliktpotential innerhalb der amerikanisch- russischen Beziehungen, insbesondere die außenpolitische Wende der Clinton-Administration von 1994 verärgerte russische Politiker. Ein Kompromiß zwischen der Rücksichtnahme auf Rußland und dem Drängen der MOE-Staaten bildete sich heraus: Die "Partnerschaft für den Frieden". Zuvor wurde der NAKR mit der Absicht gegründet, stärker mit den MOE-Ländern zu-sammenzuarbeiten und sie über die NATO-Beschlüsse aus erster Hand zu informieren. Das außenpolitische Verhalten Rußlands nach Gründung des NAKR vollzog sich in mehreren Phasen. Der zunächst prowestliche, atlantizistische Kurs wich besonders seit 1993 einem eurasischen Kurs mit isolationistischen und revisionistischen Tendenzen. Die russischen Vorstellungen bezüglich einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur unterschieden sich von westlichen Vorstellungen. Trotzdem ist Rußland weiterhin zur Partnerschaft mit europäischen Staaten bereit, was auch seine Teilnahme am Projekt "Partnerschaft für den Frieden" zeigt. Das PFP-Programm sollte den Forderungen der MOE-Staaten nach Vollmitgliedschaft nachkommen und die Bedenken Rußlands, isoliert werden zu können, zerstreuen.

Rußlands Verhalten zum PFP-Programm war zunächst positiv, allerdings forderte es einen eigenen Partnerschaftsvertrag. Auf die plötzliche Hektik in der Frage der Osterwei-terung und die Wende in der Clinton-Administration reagierte Rußland anfangs mit einer Verweigerungstaktik, lenkte aber später doch ein.

Die Studie über die NATO-Erweiterung schlug weitere Maßnahmen in Bezug auf die Erweiterung der NATO vor. Auf der Basis dieser Studie, die i. A. positiv rezipiert wurde, sollte die nächste Phase der Erweiterung aus intensiviertem Dialog mit den interessierten Partnern und Verbesserungen der PFP bestehen. Die Rolle Rußlands innerhalb des Erweiterungsprozesses bleibt aber weiterhin problematisch.

In letzter Zeit mehren sich die kritischen Stimmen aus dem Westen, die die NATO- Osterweiterung als "unvorbereitet" und konzeptlos bezeichnen. Auch der umstrittene Fünfer- Gipfel (USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Rußland) sorgt für Verstimmungen innerhalb der Allianz. Rußland hat mit seinem Vorschlag, unter bestimmten Bedingungen sich mit der NATO-Osterweiterung abzufinden, den Streit innerhalb der Allianz verschärft. Die Angebote des Westens die "Schmach" der Erweiterung Rußland erträglicher zu gestalten wie der Plan der Deutschen, den G-7-Kreis um Rußland zu erweitern, kann unübersehbare politische Konsequenzen haben. Rußland wird sich wohl längerfristig als politisches Mitglied des Bündnisses in Brüssel etablieren und Einfluß auf wichtige Entscheidungen der NATO nehmen. Die Sonderbedingungen für eine Akzeptanz der Erweiterung formulierte der russische Außenminister folgendermaßen: keine Truppen aus anderen Mitgliedstaaten, keine NATO- Stützpunkte, keine Atomwaffen. Auch schlägt Rußland einen NATO-Rußland-Rat vor, in dem Moskau mit den anderen NATO-Partnern gleichberechtigt sein soll. Auf dem Sondergipfel im Mai 1997 in Brüssel wird voraussichtlich dann eine neue Charta feierlich verabschiedet werden. Das eigentliche Ziel der Russen ist jedoch, daß sich die NATO mehr in Richtung einer politischen Organisation entwickeln soll. Aber auch nur eine partielle Gleichberechtigung der Russen wird den Charakter des Bündnisses verändern.

Ein weiteres Problem wird die Vergrößerung des bisher einzigen Entscheidungsgre-miums, der Nordatlantik-Rat, sein. Künftig wird es wahrscheinlich einen NATO-Rußland-Rat, den Atlantik- Partnerschaftsrat und ein kombiniertes Gremium von NATO und WEU geben. Wie diese neue

NATO funktionieren und politisch handlungsfähig bleiben kann, weiß NATO-Generalsekretär Solana bis heute nicht. Die Gegenleistungen, die Rußland for-dert, könnten aus dem einst mächtigen Militärpakt eine handlungsunfähige Allianz für das 21. Jahrhundert machen.

4. Bibliographie

4.1. Monographien

Meyer, Berthold. 1995. Die Ost-Erweiterung der NATO - Weg zur Einheit oder zur neuen Spaltung Europas? Frankfurt a. M. [Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktfor- schung (HSFK); HSFK-Report 5/1995]

NATO Information Service (Hg.). 111989 [11957]. The North Atlantic Treaty Organisation ,Facts and Figures. Brüssel.

NATO Presse- und Informationsdienst (Hg.). 1995. NATO-Handbuch. Brüssel.

Spero, Joshua B.; Frank Umbach. 1994. NATO ´ s Security Challenge to the East and the American-German Geo-Strategic Partnership in Europe. Köln.

[Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien]

Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.); Gettkant, Andreas (Red.); [Institut für Friedens- forschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)]. 1995.

Die Europäische Sicherheitsgemeinschaft: Das Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert. Bonn.

4.2. Zeitschriftenaufsätze

Kühnhardt, Ludger. 1996. "Die NATO im Prozeß der inneren und äußeren Veränderung". In: Aus Politik und Zeitgeschichte B5/96, S. 12-20.

Meyer, Berthold. 1995. "NATO: Go East?". In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/1995, S. 775-778.

Rudolf, Peter. 1994. "Die Rußlandpolitik der USA". In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/94, S. 30-39.

Schütze, Walter. 1995. "Sackgasse oder Königsweg? Die Ost-Erweiterung der NATO". In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/1995, S. 924-935.

Voigt, Karsten D. 1996. "Die Osterweiterung der NATO". In: Aus Politik und Zeitge- schichte B5/96, S. 21-26.

4.3. Zeitungsartikel

Kennan, George F. 1997. "Ein Fehler mit schlimmen Folgen. Die NATO-Erweiterung ist überflüssig und wird Rußland verbittern". Die Zeit, 14. Februar 1997, S. 8.

Leick, Romain (verantw. Red.). 1997. "´In Grauzonen entstehen Kriege´. Interview mit Amerikas früherem Bosnien-Unterhändler Richard Holbrooke über die umstrittene Ost-Erweiterung der Allianz". Der Spiegel, 17. März 1997, S. 151-152.

Mutz, Reinhard. 1996. "Gegen alle Vernunft. Die Osterweiterung der Nato ist kein Projekt mit Zukunft, sondern ein Affront gegen Rußland ohne wirklichen Nutzen". die tageszeitung, 29. Oktober 1996.

Spörl, Gerhard (verantw. Red.). 1997. "Mit schlechtem Gewissen". Der Spiegel, 3. März 1997, S. 22-24.68

4.4. Elektronische Dokumente (Internet/World Wide Web (WWW))

4.4.1. WWW-Zeitschriftenartikel

Binnendijk, Hans. 1995. "NATO Enlargement: Sailing between Scylla and Charybdis". In: Strategic Forum No. 55. [http://www.ndu.edu/ndu/inss/strforum/forum55.html (17. Februar 1997)]

Hunter, Robert E. 1995. "Enlargement: Part of a Strategy for Projecting Stability into Central Europe". In: NATO Review No. 3, S. 3-8. [http://www.nato.int/docu/review/articles/9503-1.html (19. Februar 1997)]

Moltke, Gebhardt von. 1996. "NATO Moves Toward Enlargement". In: NATO Review No. 1, S. 3-6. [http://www.nato.int/docu/review/articles/9601-1.html (19. Februar 1997)]

Rühe, Volker. 1993. "Europe and the Alliance: Key Factors for Peace and Stability". In: NATO Review No. 3, S. 12-15. [http://www.nato.int/docu/review/articles/9303-3.html (19. Februar 1997)]

Williams, Geoffrey Lee. 1995. "NATO´s Expansion: The Big Debate". In: NATO Review No. 3, S. 9-14. [http://www.nato.int/docu/review/articles/9503-2.html (19. Februar 1997)]

Wörner, Manfred. 1994. "Shaping the Alliance for the Future". In: NATO Review No. 1, S. 3-6. [http://www.nato.int/docu/review/articles/9401-1.html (19. Februar 1997)]

4.4.2. Sonstige WWW-Dokumente

[Focus on Partnership for Peace]. o. O. u. J. Focus on Partnership for Peace. [http://www.nato.int/pfp/pfp.html (19. Februar 1997)]

[NATO]. 1996. What is NATO? [NATO Factsheet No. 12]. o. O. [http://www.nato.int/docu/facts/fs12.html (19. Februar 1997)]

[NATO´s Enlargement]. 1996. NATO ´ s Enlargement. [NATO Factsheet No. 13]. o. O. [http://www.nato.int/docu/facts/fs13.html (19. Februar 1997)]

[North Atlantic Cooperation Council (NACC)]. 1996. The North Atlantic Cooperation Council (NACC). [NATO Factsheet No. 1]. o. O. [http://www.nato.int/docu/facts/fs1.html (3. April 1997)]

[Partnership for Peace (PFP)]. 1996. Partnership for Peace (PFP). [NATO Factsheet No. 9]. o. O. [http://www.nato.int/docu/facts/fs9.html (19. Februar 1997)]

[Study on NATO Enlargement]. 1995. Study on NATO Enlargement. o. O. [http://www.nato.int/docu/basictxt/enl-9501.html (4. Februar 1997)]

[...]


1 engl. North Atlantic Cooperation Council (NACC)

2 engl. Partnership for Peace (PfP oder PFP)

3 Fremdsprachliche Ausdrücke, die meinem eigenen Stil angehören, werden kursiviert.

4 Vgl. Meyer, 1995, S. 1.

5 Der Terminus Visegrad-Staaten war ein Bestandteil eines Titels einer Erklärung vom 15.2.1991, die auf der nordungarischen Burg Visegrad von den Präsidenten Havel, Walesa und Antall unterzeichnet wurde.

6 Vgl. Meyer, 1995, S. 4.

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. ebd., S. 5.

9 Vgl. ebd., S. 6.

10 NATO Presse- und Informationsdienst (Hg.), 1995, S. 251.

11 Vgl. [NATO´s Enlargement], 1996, Paragraph 3/4.

12 Vgl. Williams, 1995, Kapitel "How and Why?".

13 Siehe ebd.

14 Vgl. ebd., Kapitel "Who and when?".

15 Vereinbart von den Staats- und Regierungschefs auf der Tagung des Nordatlantikrates am 7. und 8. November 1991 in Rom; abgedruckt in: NATO Presse- und Informationsdienst (Hg.), 1995, S. 253ff.

16 Vgl. Kühnhardt, 1996, S. 16.

17 Ebd.

18 Vgl. NATO Presse- und Informationsdienst (Hg.), 1995, S. 44.

19 Vgl. Rudolf, 1994, S. 30, Anm. 2.

20 Vgl. ebd., S. 31.

21 Vgl. ebd., S. 32.

22 Ebd.

23 Ebd.

24 Vgl. ebd., S. 35.

25 Vgl. ebd.

26 Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.), 1995, S. 138ff.

27 Siehe Rudolf, 1994, S. 35/36.

28 Siehe ebd., S. 36/37; siehe Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.), 1995, S. 144.

29 Vgl. Schütze, 1995, S. 927ff.

30 Vgl. ebd., S. 928.

31 Rudolf, 1994, S. 38.

32 Siehe NATO Presse- und Informationsdienst (Hg.), 1995, S. 47.

33 Vgl. [North Atlantic Cooperation Council (NACC)], 1996, Paragraph 1.

34 Siehe ebd., Kapitel "Membership".

35 Vgl. NATO Presse- und Informationsdienst (Hg.), 1995, S. 51-55.

36 Vgl. Meyer, 1995, S. 21ff.

37 KSE = Konventionelle Streitkräfte in Europa

38 Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.), 1995, S. 29.

39 Vgl. ebd., S. 132/133.

40 Vgl. ebd., S. 139ff

41 Zur Definition dieser beiden Konzepte siehe ebd., S. 140/141.

42 Vgl. ebd., S. 151.

43 Boris Jelzin in einer Botschaft an den NAKR am 20.12.1991; zitiert nach ebd., S. 153.

44 Vgl. Meyer, 1995, S. 30.

45 Liste der Beitrittsstaaten bis März 1996 siehe [Partnership for Peace (PFP)], 1996, "Footnotes"; vgl. auch Meyer, 1995, S. 32.

46 Vgl. [Partnership fo Peace (PFP)], 1996.

47 Vgl. ebd., Kapitel "Relationship between the NACC and PFP".

48 Vgl. ebd., Kapitel "Aims of Partnership for Peace".

49 Für Einzelheiten der Modalitäten vgl. ebd., Kapitel "Obligations and Commitments of PFP", Kapitel "Implementation and Procedures", Kapitel "The PfP Machinery"; vgl. auch Meyer, 1995, S. 30/31/33.

50 Vgl. [Partnership for Peace (PFP)], 1996, Kapitel "PFP Planning and Review Process".

51 Vgl. Spero, 1994, S. 1.

52 Vgl. Meyer, 1995, S. 33.

53 Vgl. ebd., S. 34.

54 Vgl. ebd., S. 35.

55 Zitiert nach ebd.

56 Zitiert nach ebd., S. 36.

57 Vgl. ebd., S. 38.

58 Vgl. ebd., S. 39.

59 Vgl. ebd., S. 19ff

60 Moltke, 1996, Kapitel "The enlargement study".

61 Vgl. ebd.

62 Vgl. [Study on NATO Enlargement], 1995, "Contents".

63 Vgl. Moltke, 1996, Kapitel "The way ahead".

64 Vgl. ebd., Kapitel "Purposes and principles of enlargement".

65 Vorbehalte von russischer Seite vgl. Stern 8/97, S. 134-138.

66 Vgl. die tageszeitung vom 29. Oktober 1996.

67 Vgl. Mutz, 1996, [ohne Seitenangabe].

68 Vgl. Walker, Janice R. MLA-Style Citations of Electronic Sources. [http://www.cas.usf.edu/english/walker/mla.html (26. Oktober 1995)]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Etappen der NATO-Osterweiterung im Kontext der Reaktionen und Vorbehalte Russlands, 1991-1996
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Veranstaltung
Außen- und sicherheitspolitische Probleme der Entwicklung Europas - Bilanzen und Ausblick
Note
1
Autor
Jahr
1997
Seiten
19
Katalognummer
V101487
ISBN (eBook)
9783638999038
Dateigröße
383 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
studienbegleitende Hausarbeit
Schlagworte
Etappen, NATO-Osterweiterung, Kontext, Reaktionen, Vorbehalte, Russlands, Außen-, Probleme, Entwicklung, Europas, Bilanzen, Ausblick
Arbeit zitieren
Marius Weigel (Autor:in), 1997, Etappen der NATO-Osterweiterung im Kontext der Reaktionen und Vorbehalte Russlands, 1991-1996, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101487

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