Herausbildung von Staat, Nation und Demokratie in Europa


Seminararbeit, 2002

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Cleavage-Theorie

3 Die territoriale Strukturierung Europas
3.1 Bedingungen der Staats- und Nationenbildung
3.2 Modell: Kombinatorik von Prozessen des Zusammenbruchs
3.3 Zentrumsbildung
3.4 Nationenbildung und Sprache

4 Rokkans Theorie – ein Forschungsprogramm
4.1 Thematische Schwerpunkte
4.1.1 Strukturvergleich
4.1.2 Grenzbildung und Grenzkontrolle
4.1.3 Staats- und Nationenbildung in Europa
4.1.4 Territorialität und Mitgliedschaft
4.1.5 Die interne Strukturierung politischer Systeme

5. Der Identitätsbegriff
5.1 Die territoriale Identität
5.2 Die europäische Identität

6. Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Staat, Nation und Demokratie in Europa

1. Einleitung

„Das geteilte Europa wird vereinigt“[1] – diese Schlagzeilen sind aktuell zu lesen, denn die Brüsseler Kommission hat die Aufnahme von acht Nationen in Mittel- und Osteuropa sowie Malta und Zypern vorgeschlagen. Im EU-Parlament sprach Kommissionspräsident Romano Prodi von einer „historischen Entscheidung“, die zur „Vereinigung unseres künstlich geteilten Kontinents“ führe. Nach Meinung der Brüsseler Kommission werden zehn Länder bis zum Januar 2004 für einen EU-Beitritt bereit sein: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern würden als Demokratien und Rechtsstaaten schon heute den politischen Bedingungen Europas gerecht.

Wenn man sich mit der Theorie Stein Rokkans beschäftigt, fällt auf, dass er sich bei seinen Studien auf die politischen Systeme Westeuropas konzentriert hat. Man könnte ihm vorwerfen, den östlichen Teil Europas zu sehr vernachlässigt und sich Entwicklungslinien verschlossen zu haben. Er begründete seine Auswahl damit, der osteuropäische Aspekt würde seine Modelle in hohem Maß komplizieren.

Nach genauerer Analyse seines Werks stellt sich die Frage, wofür Stein Rokkan mit seiner Theorie als Sozialwissenschaftler stand und welche Bedeutung das Kapitel über die Territorialordnung Europas im Gesamtwerk einnimmt.

2. Die Cleavage - Theorie

Stein Rokkans Einfluss als Komparativist in den 60er und 70er Jahren ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht unumstritten, nicht nur aufgrund seiner wissenschaftlichen Originalität und Produktivität.

Zusammen mit M.Lipset gilt Rokkan als der Begründer der Cleavage-Theorie[2]. Diese wurde als sozialwissenschaftliches Instrumentarium entwickelt, um historische Entwicklungen vergleichen und sozialstrukturelle Bezüge innerhalb unterschiedlicher nationaler Parteiensysteme untersuchen zu können. In diesem Zusammenhang wird „cleavage“ als eine politisch wirksame Konfliktlinie institutionalisiert und in die Sozialstruktur verankert.

Rokkan unterscheidet bei seiner wissenschaftlichen Arbeit vier verschiedene Kategorien – sozialstrukturelle, interessensorientierte, wertorientierte und parteipolitische Kategorie[3]. Seine strukturellen Studien lassen in Hinblick auf eine europäischer Demokratisierung vier zentrale Konfliktfelder erkennen. Er nennt erstens den Konflikt Zentrum versus Peripherie, zweitens Kirche gegen Staat (Herausbildung Nationen und Staaten), drittens den Widerstreit zwischen ländlich – agrarischen gegen städtisch – handwerkliche Interessen und viertens Kapital versus Arbeit als Folge der industriellen Revolution. Weiterhin sieht er einen Konflikt in entwickelten Demokratien, denn der gesellschaftliche und soziale Wandel bewirken Wertewandelprozesse. Mit diesem Wandel entsteht eine Frontstellung des Materialismus gegen den Postmaterialismus.

Im zweiten Teil der „Cleavage -Theorie“ beschreibt der Sozialwissenschaftler die Ursachen dauerhaft institutionalisierter Konfliktlinien („cleavages“). Wenn Eliten gesellschaftliche und soziale Konflikte aufgreifen, können sie diese in Parteipolitik je nach Rahmen des politischen Systems umsetzen. Im Hintergrund dieser Politik steht, dass Parteien regelmäßig Konflikte aktivieren, um politische Identität und Parteibindung zu aktivieren und zu erneuern. Die „Cleavage – Theorie“ verknüpft Auswirkungen sozio-ökonomischen und sozialen Wandels mit dem Handeln politischer Eliten. Diese Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichen Konflikten und Parteiensystemen berührt zentrale Felder der Demokratietheorie, da Parteien einen wichtigen Teil moderner Massendemokratien darstellen. So repräsentieren die Parteien eine intermediäre Organisation, die zwischen Gesellschaft und Politik vermittelt. Zudem werden gesellschaftliche Interessen zu alternativen Programmangeboten. Im parteilichen Diskurs findet politische Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen statt: Sie mobilisieren regelmäßig Anhänger und Wähler, stabilisieren und legitimieren auf diese Weise repräsentative Demokratien.[4]

Kritische Stimmen als Antwort auf Rokkans Theorie deuten an, er könne gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme nicht vergleichen, ohne Länderstudien voranzustellen. Die „Cleavage – Theorie“ wurde am Beispiel Westeuropas entwickelt, wobei unterschiedliche historisch – kulturelle Kontexte und demokratische Entwicklungsstände beispielsweise in Osteuropa, Nord- und Lateinamerika, Afrika und Asien nicht berücksichtigt sind. Im historischen Vergleich entsteht ein Spannungsfeld zwischen landeskundlich – historischen Interessen und singulären Entwicklungslinien. Jedoch liegt das sozialwissenschaftliche Interesse darin, Entwicklungslinien- und –Bedingungen zu generalisieren. Um die Cleavage Theorie auf demokratische Systeme Westeuropas übertragen zu können, sollten mehrere Parteien als intermediäre Institutionen zwischen Gesellschaft und Staat eine wichtige Rolle spielen. Ein Aspekt ist die Tatsache der unterschiedlichen Zeithorizonte. In Westeuropa entwickelten sich die Parteiensysteme entlang der Konfliktlinien über einen Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten. Zumindest erstreckten sich die erste und zweite Demokratisierungswelle insgesamt über 50 Jahre. In den Ländern der dritten Welle[5] ab 1970 und in den neuen Demokratien Osteuropas gab es je nach geschichtlichem und kulturellen Hintergrund eine unterschiedliche Abfolge, wenn man den Demokratisierungsprozess betrachtet. Dennoch erweisen sich Fragen nach der staatlichen Einheit („nation – building“), nach dem Umgang mit ethnischen Minderheiten, nach dem Verhältnis Kirche und Staat und nach dem Umfang wohlfahrtstaatlicher Leistungen als ein hohes politisches Konfliktpotential.

Nach dem 2.Weltkrieg entwickelten und etablierten sich westeuropäische Demokratien unter günstigen ökonomischen Bedingungen, während Systemalternativen durch Nationalsozialismus und Sozialismus in Osteuropa diskreditiert wurden.

3. Die territoriale Strukturierung Europas

Stein Rokkan zeichnet mit seinem Entwurf ein Gesamtbild von Westeuropa. Er versucht, jedes Land in einen breiteren geo-ethnischen, geo-ökonomischen oder geo-politischen Kontext einzuordnen. Hierbei orientiert er sich an verschiedenen politischen Konfliktlinien und entwirft den sogenannten Konfliktlinienansatz. Sein Ziel ist es, die Territorialsysteme Westeuropas nach Zentrum–Peripherie–Strukturen zu analysieren.

3.1 Bedingungen der Staats- und Nationenbildung

Der Ausgangspunkt seiner Analyse ist von verschiedenen Faktoren („Vorgegebenheiten“) bestimmt. Zunächst das Erbe des römischen Reiches, welches eng mit dem kaiserlichen Supremat, systematischen Rechtsregeln und der Idee der Staatsbürgerschaft verbunden ist. Weiterhin nennt er die supraterritoriale Organisation der katholischen Kirche, die ethnische Grenzen überschreitet. Die Invasionen germanischer Stämme in das Weströmische Reich und der starke Handel zwischen Orient, Mittelmeer und Nordsee nach der Niederlage des Islam werden als weitere Faktoren erwähnt. Da der Handel zunimmt, entwickelt sich ein Netzwerk von unabhängigen Städten durch den Westen. Zudem wurden die feudalen und gutsherrlichen Strukturen gefestigt. In kultureller Hinsicht muss die volkssprachliche Literatur Erwähnung finden.[6]

Die Staats- und Nationenbildung betreffend geht Rokkan von drei Bedingungen aus, die die Entwicklung beeinflussen. Erstens besteht eine Abhängigkeit von der Stärke des Städtenetzes. Zweitens hat die Stärke der Kernzonen im Fall der Staatenbildung einen gewissen Einfluss und drittens findet sich eine Form von Widerstand gegen kulturelle Vereinheitlichung.

3.2 Modell: Kombinatorik von Prozessen des Zusammenbruchs

Rokkan entwirft ein Modell zur Peripheralisierung, welches die Teilprozesse in den militärisch-administrativen, ökonomischen und kulturellen Bereich gliedert. Diese Teilprozesse sind durch zunehmend wichtigere Fernkommunikations- und Kontrollsysteme entstanden. Im Fall Europas sind diese drei Prozesse der Peripheralisierung phasenverschoben, das heißt es gibt Unterschiede in der zeitlichen Abfolge. Staaten bilden sich in unterschiedlichen Konfigurationen von Süd nach Nord und von Westen nach Osten. Die Geschichte Europas wird von verschiedenen Prozessen des Zusammenbruchs bestimmt. In diesem Fall ist die Desintegration des Weströmischen Reichs durch drei unterschiedliche Arten von Desintegration näher beschrieben: Feudalisierung, Durchsetzung von Volkssprachen und Bildung von Zentren an der Peripherie des zusammengebrochenen Reichs. Stein Rokkan teilt die Peripheralisierung in drei Teilprozesse: militärisch-administrativ, ökonomisch und kulturell.

Das Modell behandelt einen Prozess des Zusammenbruchs, in diesem Fall die Desintegration des Weströmischen Reiches. Da im Fall Europas diese drei Prozesse phasenverschoben sind, entstehen unterschiedliche Konfigurationen von Süd nach Nord und West nach Ost. Die Entstehung des Städtegürtels von Süden in den Norden Europas muss hervorgehoben werden, da sie im Mittelpunkt des Modells steht. Mit dieser Entwicklung endet die feudale Fragmentierung während Fernkommunikation und Grenzüberschreitung beginnen. Als volkssprachliche Kulturen und territoriale Zentren an Bedeutung gewannen, wird der Zusammenbruch des alten Systems beschleunigt. In der Folge bilden sich neue Grenzen, so dass politische Systeme innerhalb Westeuropas klarer abgegrenzt werden. Weiterhin entstehen starke Nationalstaaten und eine Form merkantilistischen Kapitalismus: Es entsteht ein weltweites Netzwerk wirtschaftlichen Handels, innerhalb dessen territoriale Identität und Staatsbürgerschaft zunehmend betont werden. Die Völkerwanderungswellen weisen auf die Desintegration Westeuropas und Versuche der Territorialbildung nach Norden, Westen und Osten hin, die stark von Bewegungen verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen beeinflusst sind. Divergenz in Sprache und Traditionen, aber auch unterschiedliche Vorstellungen über Regierungs- und Staatsformen prägen das Bild Westeuropas.

3.3 Zentrumsbildung

Stein Rokkkan befasst sich neben der Peripheralisierung auch mit dem Begriff Zentrumsbildung:

„Paradoxerweise ist die Geschichte Europas die Geschichte der Zentrumsbildung an der Peripherie eines Netzwerkes von unabhängigen Städten: Dieses Faktum erklärt auch die große Vielfalt von Konfigurationen und das außerordentliche Durcheinander wechselnder Allianzen und Konflikte.“[7]

[...]


[1] Vgl. http://www.sueddeutsche.de vom 10.10.2002

[2] Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein (Hrsg.) (1967a): Party Systems and Voter Alignments. New York: Free Press.

[3] Vgl. Knutsen, Oddbjørn/Scarbrough, Elinor (1995): Cleavage Politics. In: Deth/Scarbrough (1995): 492-523

[4] Vgl. http://www.politik.uni-freiburg.de/publikat/pubeithi.htm vom 13.10.2002

[5] Huntington, Samuel P. (1991): The Third Wave. Democratization in Late Twentieth Century. Norman: University of Oklahoma Press.

[6] Rokkan, Stein: Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S.185-186

[7] ebd., S.197

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Herausbildung von Staat, Nation und Demokratie in Europa
Hochschule
Universität Osnabrück  (Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Theorien der Vergleichenden Politikwissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
19
Katalognummer
V10155
ISBN (eBook)
9783638166706
ISBN (Buch)
9783640985920
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Historische Entwicklung Europas
Arbeit zitieren
Stefanie Brückner (Autor:in), 2002, Herausbildung von Staat, Nation und Demokratie in Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10155

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Herausbildung von Staat, Nation und Demokratie in Europa



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden