Darf der Staat foltern?
Ein konstruierter Fall: Ein Erpresser hat in einer baden-württembergischen Großstadt eine Bombe mit chemischen Kampfstoffen gelegt und fordert nun die Freilassung von zehn rechtskräftig verurteilten Terroristen, die Übergabe von zehn namentlich genannten Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik als Geiseln, sowie 100 Millionen DM. Er droht mit der Detonation der Bombe, was nach seiner überzeugenden Darstellung den "qualvollen Tod von Hunderttausenden" zur Folge hätte, und setzt eine Frist von 5 Stunden. Nach 2 Stunden wird der Erpresser gefaßt und außerdem die Bombe gefunden. Sie ist jedoch mit einem Code versehen, den nur der Erpresser kennt, und in der verbleibenden Zeit ist eine vollständige Evakuierung der Stadt unmöglich. Für die eingeweihten Polizisten stellt sich die Frage: Sollen sie angesichts der vernichtenden Gefahr den Erpresser mittels körperlicher Gewalt zur Preisgabe des Codes zwingen?
(Fall nach W. Brugger, Examensklausur im öffentlichen Recht - Übungsklausur -, VBlBW 1995, 414)
Nach dem baden-württembergischen Polizeigesetz (PolG) hat der Erpresser in diesem Fall die Pflicht auszusagen. Er hat die Tat bereits gestanden, eine weitere Aussage zum Code wäre höchstens ent-, aber nicht belastend, d.h. das strafprozessuale Recht, nicht gegen sich aussagen zu müssen, steht hier der Pflicht nicht entgegen.
Die Anwendung von Zwang zur Durchsetzung von polizeilichen Anordnungen ist im Polizeigesetz ausdrücklich geregelt, jedoch besagt § 35 PolG: "Die Polizei darf bei Vernehmungen zur Herbeiführung einer Aussage keinen Zwang anwenden." Fraglich ist, ob man trotzdem eine staatliche Befugnis für die Folter begründen kann:
Nach § 54 II PolG darf die Polizei unter bestimmten Bedingungen sogar tödliche Schüsse abgeben. Möglich wäre hier nun ein Erst-recht-Schluß (a maiore ad minus): Wenn man das Recht einer Person auf Leben einschränken darf, müßte das erst recht für das Recht auf körperliche Unversehrtheit gelten. Allerdings würde bei der Erzwingung einer Aussage nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die Würde des Menschen verletzt, die nach dem Grundgesetz nicht einschränkbar ist.
Würde der Staat in Gestalt der Polizisten durch Notwehr oder Notstand (§§ 32, 34 StGB) gerechtfertigt sein, wenn er eine Aussage erzwingt? Im Falle des Notstands muß das geopferte Gut von beträchtlich geringerem Wert sein als das geschützte Gut. Letztlich geht es hierbei um eine Abwägung der Würde des Menschen gegen die Würde der qualvoll sterbenden Stadtbevölkerung. Diese Abwägung von Menschenwürde gegen Menschenwürde allein aufgrund der Zahlenmäßigkeit stellt sich ebenfalls bei der Überprüfung anhand der Verfassung (s.u.). Bei der Notwehr geht es nicht um eine Abwägung zwischen den Rechtsgütern. Bei der Verteidigung eines Rechtsgutes gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff kann ein zweites Rechtsgut verletzt werden.
Jedoch beziehen sich Notwehr und Notstand eigentlich auf Privatpersonen und nicht auf den Staat, der aus diesen Vorschriften somit keine direkte Befugnis ableiten kann.
Prüft man den Sachverhalt anhand der Verfassung, so stehen sich wieder die Würde des Einzelnen und die Würde der Bevölkerung gegenüber. Folter ist einerseits ein nicht zu duldender Eingriff in die Würde des Einzelnen; andererseits hat der Staat eine Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung, deren Würde durch die Bombe ebenfalls bedroht ist. Einer quantitativen Abwägung steht aber die Unantastbarkeit der menschlichen Würde entgegen.
Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, Artt. 3, 15 Abs. 2) ist Folter ausdrücklich und ohne Einschränkung verboten. Die EMRK steht nach herrschender Meinung unter der Verfassung und über den allgemeinen Gesetzen.
Diese Darstellung zeigt, daß unser geschriebenes Recht eine Folter ausnahmslos verbietet, der Schutz der Bevölkerung aber nur durch sie erreicht werden kann und diese Tatsache dem Staat u.U. ihren Einsatz erlauben müßte.
Davon zu trennen wäre die Frage der Strafbarkeit des einzelnen Polizisten. Wenn man aufgrund der Gesetze zu dem Schluß kommt, daß die Folter auch unter diesen Bedingungen nicht von offizieller Seite her erlaubt sein darf, gäbe es immer noch die Möglichkeit, die Entscheidung den Polizisten zu übertragen, die sich dann als Individuen auf Notstand oder Notwehr berufen könnten (s.o.) und nicht strafbar wären. Es ist allerdings umstritten, ob man hier zwischen dem Polizisten in seiner staatlichen Eigenschaft und dem Individuum trennen kann, und ob Notwehr und Notstand auch für die Polizei gelten.
Letztlich muß man bei einer Entscheidung zur staatlichen Befugnis abwägen zwischen den Standpunkten, die beide eine nur unbefriedigende Lösung bieten. Man kann behaupten, die Situation sei eine extreme Ausnahme, oder man kann die Entscheidung für Folter als einen "Dammbruch" ansehen, durch den der Staat seine eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien verletzt. Aber will man diese Rechtsstaatlichkeit um jeden Preis aufrecht erhalten? Es stehen Hunderttausende von Leben auf dem Spiel und die Erzwingung der Aussage ist die einzig übriggebliebene Alternative, wobei man wiederum nicht sicher sein kann, daß dieses Mittel auch zum Erfolg führt. Kann man den Polizisten zumuten, einen anderen Menschen zu foltern? Und wo bleibt die Rechtssicherheit, wenn der Staat einmal angefangen hat, Grundrechte seiner Bürger zu verletzen und die Grenzen hierbei fließend sind? Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn der Staat sich von seinen selbstgesetzten Prinzipien so gängeln läßt, daß er erpreßbar wird, daß er nicht mehr in der Lage ist, die Grundrechte der unschuldigen Bevölkerung vor dem Terrorismus zu schützen und letztlich gegenüber einer solchen Erpressung völlig handlungsunfähig wird?
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