Die Rostocker Langzeitstudie von Szagun im Vergleich zur Stufentheorie nach Oser/Gmünder. Konsequenzen für die Religionspädagogik


Seminar Paper, 2014

19 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


1 Einleitung

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den Religionsunterricht haben sich in den letzten Jahrzehnten gravierend geändert: Es herrscht ein gesellschaftliches Klima, wo Religion und Glaube weder Relevanz noch Plausibilität zu haben scheinen, wo sich die Glaubensvorstellungen selbst kirchenverbundener Christen immer mehr von der offiziellen Glaubenslehre entfernen und wo die Erwachsenen diese nun fragwürdig gewordenen Vorstellungen, die sie selbst noch als Kinder prägten, nicht mehr an ihre eigenen Kinder weitergeben möchten. 1 Enttraditionalisierung, Individualisierung, Pluralisierung, moderne Informationstechniken und Globalisierung prägen unsere moderne westliche Gesellschaft. 2 Unsere Weltsicht ist naturwissenschaftlich ausgerichtet und Werte wie Rationalität, Effizienz und individu­elle Leistung stehen im Fokus.3 Vor allem für Religion und Glaube gilt: „Traditionen werden nicht mehr geerbt, sondern gewählt.“4 Kinder bringen heute eine Vielfalt von Wirklichkeitskonstruktionen mit in den Religionsunterricht, was vor allem die in der Religionspädagogik populären strukturgenetischen Konzepte religiöser Bildung mit ihrem universellen Geltungsanspruch in Frage stellt.5 Stufentheorien zur religiösen Entwicklung, wie die Studie „Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwick­lung“ (1984) von Fritz Oser und Paul Gmünder gehörten jahrelang zum religionspädagogischen Standardprogramm für Lehramtsstudenten in Theologie.6 Anna-Katharina Szagun bezweifelt, dass es sich bei den Stufentheorien tatsächlich um „gesichertes Wissen“ handelt, da diese auf Untersuchungen in christlichen Kontexten basieren;7 sie stellt „die Frage, ob mittels dieser Theorien die religiöse Ent­wicklung von Kindern in einem multikulturell-pluralen oder gar in einem mehrheitlich konfessionslosen Kontext erfasst wird.“8 Szagun entwickelt einen eigenen Ansatz zur Untersuchung des Gotteskonzeptes von Kindern, die in einem mehrheitlich konfessionslosen Kontext groß werden. Dieser Ansatz wird in Kapitel 2 dieser Arbeit im Kontrast zum strukturgenetischen Stufenkonzept nach Oser/Gmünder vorgestellt. Anschließend wird in Kapitel 3 die Methodik von Szaguns Rostocker Langzeitstudie erläutert und ihre Originalität anhand eines Vergleiches zum methodischen Vorgehen von Oser/Gmünder sowie dem von Anton Bucher und Helmut Hanisch bei ihren empirischen Untersuchungen der zeichnerischen Entwicklung des Gottesbildes von Heranwachsenden hervorgehoben. In der Schlussbetrachtung in Kapitel 4 soll noch einmal die Frage nach der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Rostocker Langzeitstudie zur Stufentheorie nach Oser/Gmünder thematisiert werden und daran anknüpfend auf die Bedeutung der Rostocker Langzeitstudie für die religionspädagogische Praxis eingegangen werden.

2 Ansatz: Jenseits der Stufentheorie von Oser/Gmünder

Die Stufentheorie von Oser/Gmünder steht in der Forschungstradition des strukturgenetischen Ansatzes von Jean Piaget zur kognitiven Entwicklung des Men­schen, der von Lawrence Kohlberg bereits auf die moralische Entwicklung übertra­gen worden war. Fritz Oser und Paul Gmünder bezogen diesen entwicklungspsychologischen Ansatz nun auf den religiösen Bereich, auf die Entwicklung von Gotteskonzepten. 9 „Entscheidend ging es darum, empirisch feststellbare Gotteskonstrukte als kognitive Strukturen zu beschreiben, um dann zu fragen, ob auch diese Strukturen sich in eine lineare und altersgemäße Entwicklungshierarchie einordnen lassen,“10 wie sie für eine klassische Stufentheorie kennzeichnend ist. Im Zentrum der Theorie von Oser/Gmünder steht das „religiöse Urteil“, d.h. die Art und Weise, wie Menschen eigene religiöse Denkstrukturen konzipieren, um Kontingenzereignisse ihres Lebens wie Sterben, Tod, Schicksalsschläge etc. bewältigen zu können.11 Nach Auffassung von Oser/Gmünder spiegelt sich im religiösen Urteil die grundlegende Beziehung des Menschen zu ei- nem „Ultimaten“, das inhaltlich wenig fixiert ist und sowohl ein personalisierter Gott als auch eine unpersönliche Schicksalsmacht sein kann.12 Insgesamt enthält ihr Kon­zept sechs Stufen plus eine (noch vorreligiöse) Vorstufe, erstellt aus empirischen Datenerhebungen, aber auch aus theoretischen Überlegungen: So wurden die tiefs­ten Stufen aus vorhandenen Stufenkonzepten abgeleitet und die höchste Stufe aus Experteninterviews und der Analyse verschiedener Modelle theologischer und philosophischer Argumentation gewonnen, ohne empirisch bestätigt worden zu sein.13 Der Übergang von Stufe zu Stufe geschieht durch krisenhafte Brüche bzw. durch eine Umgestaltung der Beziehungsstruktur des Menschen zum Ultimaten. Diese Beziehung wird dabei von Stufe zu Stufe differenzierter, autonomer und universeller sowie zugleich integrierter und inniger.14 Insgesamt ergibt sich folgendes Stufenschema:15

- Stufe 0 (frühkindlich): Perspektive der Innen-Außen-Dichotomie, wo noch nicht zwischen verschiedenen Wirkkräften außerhalb des eigenen Selbst entschie­den werden kann.
- Stufe 1 (Kleinkind): Orientierung an absoluter Heteronomie, wo der Mensch vom Ultimaten einseitig bestimmt wird und vollkommen von ihm abhängig ist.
- Stufe 2 (Grundschulalter): Orientierung an „do ut des“ („Ich gebe, damit du gibst“), wo der Mensch in ein Tausch- und Verhandlungsverhältnis mit dem Ultimaten eintritt.
- Stufe 3 (Jugendalter): Orientierung an Selbstbestimmung und Perspektive des Deismus, wo die Bereiche des Ultimaten und des Menschen als absolut ge­trennt wahrgenommen werden und der Mensch sich in seinem Lebensbereich als völlig autonom erlebt.
- Stufe 4 (Erwachsenenalter): Orientierung an Autonomie und Heilsplan, wo es zu einer formalen Vermittlung der Differenz zwischen Ultimatem und Mensch kommt.
- Stufe 5: Orientierung an Intersubjektivität, wo das Verhältnis von Ultimatem und Mensch intersubjektiv vermittelt wird und die absolute Freiheit des Ultima­ten die endliche Freiheit des Menschen ermöglicht und sinnhaft verbürgt.
- Stufe 6: Orientierung an universeller Kommunikation und Solidarität, wo das Verhältnis von Ultimatem und Mensch nicht mehr nur als Grund der eigenen Existenz gesehen wird, sondern als Grund von Geschichte und Wirklichkeit überhaupt und es so zu einem Ineinander von menschlichen und göttlichen Kräften kommt.

Die Stufentheorie zur religiösen Entwicklung nach Oser/Gmünder bietet zwar Orientierungshilfe für die Einordnung einer fremden religiösen Argumentation und kann Impulse zur Fortentwicklung liefern,16 aber sie hat sich auch in vieler Hinsicht als problematisch erwiesen. Die Kritik setzt insbesondere bei den von Kohlberg übernommenen vier stufentheoretischen Merkmalen der (1) qualitativen Verschiedenheit, (2) unumkehrbaren Sequentialität, d.h. Ausschluss von Sprüngen und Regressionen, (3) strukturierten Ganzheit jeder einzelnen Stufe und (4) der hierarchischen Differenzierung und (Re)Integration17 sowie beim universalen und kulturübergreifenden Geltungsanspruch der Theorie an. So hätte sich etwa für die Altersgruppe der 66-75jährigen eine nicht mit der Theorie übereinstimmende Regres­sion gezeigt, die Stufe 3 sei nicht notwendigerweise zu durchlaufen und die Stufensequenz könne so auch ganz anders aussehen, die höheren Stufen seien spezifisch christlich formuliert und so für Gläubige anderer Religionen unzugänglich und die Hierarchisierung der Stufen berge generell die Gefahr in sich, dass sie unter­schiedliche Wertschätzung und eine normative Verwendung provozieren würde.18 Bernhard Hofmann kommt so zu dem Fazit, dass ein derart formaler Theorierahmen der Vielfalt religiöser Entwicklungsmöglichkeiten nicht gerecht werden könne19 und Hermann-Josef Wagener bemüht sich um eine Modifizierung der Stufentheorie, die auch die wegen der stark kognitivistischen Orientierung vernachlässigten emotiona­len Aspekte der religiösen Entwicklung stärker berücksichtigen soll20.

Anna-Katharina Szagun verfolgt einen gänzlich anderen Ansatz. Auch ihr Interessengebiet ist die religiöse Entwicklung, allerdings beschränkt es sich auf die von Kindern und Jugendlichen. Szagun geht von der Annahme aus, dass religiöse Biographien weniger durch entwicklungstheoretische als vielmehr durch sozialisationstheoretische Faktoren erklärt werden können.21 Dementsprechend liegt ihr Schwerpunkt nicht auf der Ermittlung altersgemäßer und struktureller Entwicklungsstufen wie bei Oser/Gmünder, sondern auf der Erforschung der konkre­ten Lebenswelt, der familiären, schulischen und gesellschaftlichen Kontexte von Kin­dern und Jugendlichen, die den Rahmen für deren je spezifische Entwicklungen bil-den.22 Szagun sieht zuerst auf die Praxis und trifft dort heterogene Lerngruppen an, was sie massiv am Credo der Stufentheoretiker zweifeln lässt, dass alle Heranwachsenden abhängig vor allem von ihrer kognitiven Reife und unabhängig von Erziehung und umgebender Kultur prinzipiell die gleichen Stufen der religiösen Entwicklung durchlaufen würden.23 Eindrücklich beschreibt sie in ihrem Buch „Dem Sprachlosen Sprache verleihen“ (2006) im Kapitel „Zur Genese des Projektes“, wie sie bereits Mitte der 70er Jahre anhand privater Befragungen einen signifikanten Ein­fluss der sozialen Rahmenbedingungen auf Weltsichten und moralische Urteile von Kindern feststellen konnte, die Zweifel an Tragfähigkeit und Tragweite der Stufentheorien aufkommen ließen. 24 Denn diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich seit den ersten Datenerhebungen, auf die sich die Stufentheorien stützen, weiter gravierend geändert, wie bereits eingangs erwähnt wurde: Vom einst tragenden Leitbild der Glaubenstraditionen ist nur noch eine „kultu­relle Tapete“ übrig, deren sichtbare Symbole und Formulierungen den Menschen häufig so fremd geworden sind, dass sie sich nicht mehr mit der eigenen Lebenswelt verbinden lassen und so zur religiösen Sprachlosigkeit führen.25 Szaguns Hauptkritik­punkt an den Stufentheorien lautet daher:

„Die Untersuchungen wurden in kirchlichen Kontexten der 70/80er Jahre durchgeführt, dort, wo Traditionsabbruch, Konfessionslosigkeit, multikulturelle Milieus noch nicht aktuell waren.

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Details

Title
Die Rostocker Langzeitstudie von Szagun im Vergleich zur Stufentheorie nach Oser/Gmünder. Konsequenzen für die Religionspädagogik
College
Graduate School of Philosophy and Theology St. Georgen in Frankfurt am Main
Course
Proseminar Religionspädagogik
Grade
2,0
Author
Year
2014
Pages
19
Catalog Number
V1021839
ISBN (eBook)
9783346415943
ISBN (Book)
9783346415950
Language
German
Keywords
rostocker, langzeitstudie, szagun, vergleich, stufentheorie, oser/gmünder, konsequenzen, religionspädagogik
Quote paper
Janina Serfas (Author), 2014, Die Rostocker Langzeitstudie von Szagun im Vergleich zur Stufentheorie nach Oser/Gmünder. Konsequenzen für die Religionspädagogik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1021839

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