Die mögliche politische Bedeutung der Europäischen Grundrechtscharta - Vorstufe zu einer Europäischen Verfassung?


Seminararbeit, 2001

16 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt:

1.Einleitung

2.Die Bedeutung einer Verfassung für ein politisches Gemeinwesen

3.Eine Verfassung für Europa?

4.Hat die Union schon eine Verfassung?

5.Die politische Bedeutung der Europäischen Grundrechtscharta

6.Zusammenfassung und Ausblick

7.Bibliographie:

1. Einleitung

Eine Verfassung für Europa - das klingt fortschrittlich und sollte vorangetrieben werden, sagen die einen. Das klingt sinnlos bis gefährlich angesichts eines bestehenden Europas der Nationalstaaten, sagen andere. Zwischen diesen Extrempositionen findet, grob gesagt, die Diskussion über eine Verfassung und einen Grundrechtskatalog nicht für Europa, sondern „nur“ für die EG/EU statt.

Die Erarbeitung einer Europäischen Grundrechtscharta wurde durch den Beschluss der EU-Staats- und Regierungschefs bei dem Treffen des Europäischen Rates in Köln am 3./4. Juni 1999 in die Wege geleitet. Die Charta selbst wurde nach einen besonderen, auf der Tagung des Rates in Tampere am 16. 10. 1999 beschlossenen Modus ausformuliert, vom Europäischen Parlament und der Kommission angenommen und auf der Regierungskonferenz in Nizza vom 7.-9. Dezember 2000 feierlich proklamiert.

Die nachfolgenden Überlegungen werfen zunächst die Frage nach dem Ursprung, der Bedeutung von und den Anforderungen an Verfassungen auf, fragen dann nach der Notwendigkeit einer Verfassung für die Europäische Union und beha n- deln daraufhin die Rolle einer Grundrechtscharta als Vorstufe und Teil einer (E u- ropäischen) Verfassung.

2. Die Bedeutung einer Verfassung für ein politisches Gemeinwesen

„Eine Verfassung ist das -fast ausnahmslos- in einer Urkunde festgelegte, nur unter erschwe rten Bedingungen abänderbare Grundgesetz eines Staates, in dem (...) Rechtsnormen festgelegt sind, die die Bestellung, Struktur, Zuständigkeiten und Funktionen der höchsten Staatsorgane regeln und außerdem die grundlegend wichtigen individuellen Freiheitsrechte gegenüber der gesetzgebenden, gesetzesvollziehenden und richterlichen Gewalt gewährleisten“(Ernst Fraenkel).1

Dieser Fraenkelschen Definition sind die allgemeinen Anforderungen an eine Ver- fassung zu entnehmen2: Sie gibt einem politischen Gemeinwesen eine rechtliche Verfasstheit, ist dessen Grundordnung, die vor und über allem anderen staatlich geschaffenen Recht gilt und ist (meist) schriftlich hinterlegt. Sie enthält die organi- satorische Struktur des Gemeinwesens sowie Verpflichtungen auf definierte Ziele dieses Gemeinwesens, die als Leitbilder für alles staatliche und sonstige öffent- lich-rechtliche Handeln gelten sollen. Die Verfassung bestimmt weiterhin, welche Organe auf welchen Ebenen der (staatlichen) bestimmte Funktionen nach be- stimmten Entscheidungsregeln ausfüllen, wie sie sich zusammensetzen, auf we l- che Art sie bestellt - bestimmt oder gewählt - werden und in welchem Verhältnis sie zueina nder stehen. Wichtige Elemente einer Verfassung sind Bestimmungen über die allgemeine Rechtsbindung der legislativen, exekutiven und iudikativen Gewalten, was letztendlich Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit gewährleistet und staatliche Willkür verhindert. Elementarer Teil einer Verfassung ist ein Grund- rechtskatalog, der die individuellen Menschen- und Bürgerrechte und -freiheiten auflistet, die die öffentliche Gewalt zu schützen, zu gewährleisten bzw. zu gewä h- ren hat.

In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ist die Verfassung also „Grundlage aller Gesetze, Verordnungen und Satzungen (..), Richtlinie des Handelns aller öffentlichen Organe und Schutzgesetz für alle Menschen vor möglichem Missbrauch öffentlicher Gewalt“3.

Als oberste Rechtsnorm kann und soll eine Verfassung allerdings nicht alle Einze l- fragen beantworten - dies ist die Aufgabe der Politik unter demokratischer Einbe- ziehung der Bevölkerung nach dem Mehrheitsprinzip. Vielmehr ist sie der festgeschriebene Konsens über die Grundfragen eines politischen Gemeinwesens. Ge- rade die demokratische Konsensfindung - die oft von einer konstituierenden Ver- sammlung übernommen wird - ist eine wesentliche Voraussetzung für ihre Aner- kennung in der Bevölkerung sowie Legitimationsgrundlage für staatliches Ha n- deln4.

In der Geschichte der Verfassungsentwicklung finden sich unterschiedliche Auf- fassungen zur Hauptfunktion einer Verfassung: Während in liberalen Staatsaufas- sungen v. a. des 19. Jahrhunderts der Aspekt der festgelegten individuellen Frei- heitsrechte - also der Schutz des Bürgers vor staatlichen Eingriffen - besonders hervorgehoben wurde, dominiert in konservativen Denkrichtungen der Gedanke, dass die abrupte Neugestaltung eines Gemeinwesens durch Verfassungsgebung ein „Eingriff in das natürliche Gewachsensein staatlicher Ordnungen“ sei. Daher müsse es vielmehr zu einem allmählichen, sich aus Traditionen ergebenden Wan- del kommen5. Wiederum anders lauten sozialistische Vorstellungen: staatliche Neugestaltungen dürften sich nicht allein auf den politischen Sektor beschränken. Da sich die Verfassung einer Gesellschaft in Macht- und Eigentumsverhältnissen zeige6, wird hier vor allem der soziale Aspekt, der der Teilhaberechte betont.

Viele Verfassungen folgen einem ähnlichen Aufbau, den auch das deutsche Grundgesetz aufweist. Hierbei handelt es sich um eine Zweiteilung: Während in einem ersten Teil ein Grundrechtskatalog und eventuell die Staatszielbestimmun- gen niedergelegt sind, beinhaltet der zweite Teil die Grundzüge der Staatsorgani- sation selbst. Damit kann neben klaren und möglichst eindeutigen Formulierungen und einer thematischen Gliederung die Forderung nach Übersichtlichkeit und Ein- prägsamkeit7 erfüllt werden. Transparenz und Einklagbarkeit von Rechten sind notwendig, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu stärken und einen Beitrag zur größtmöglichen Identifikation der Bürger mit „ihrem“ politischen System zu leisten. Unter anderem die Ansiedlung der Grundrechte an erster Stelle - vergleichbar mit der Anordnung im deutschen Grundgesetz - macht deren herausragende Bedeutung sichtbar, macht deutlich, dass es sich um eine Verfassung für die in einem politischen Gemeinwesen lebenden Menschen handelt.

3. Eine Verfassung für Europa?

Dass ein Staat eine dem eben Beschriebenen ähnliche Verfassung braucht ist - mit wenigen Ausnahmen - allgemeiner Konsens in der abendländischen Staats- tradition. Doch obwohl in dieser Arbeit mit Blick auf deren weiteren Verlauf oft von „politischem Gemeinwesen“ statt von „Staat“ die Rede war, gibt es durchaus keine Einigkeit in der (politischen) europäischen Öffentlichkeit darüber, ob die Europäi- sche Union als eindeutig nicht-nationalstaatliches Gebilde eine eigene Verfassung benötigt. Tatsächlich ist, schaut man auf das Fraenkelsche Zitat zurück, die „Insti- tution Verfassung“ eine originär nationalstaatliche und bisher nicht auf darüber hinausgehende Gemeinwesen übertragen worden. Außerdem hält sich noch im- mer die Idee: „Wo kein Staat, da keine Verfassung, und wo kein Staatsvolk, da kein Staat“8. Konsequent weitergedacht bedeutete dies, erst das Vorhandensein einer Europäischen Nation und die Konstituierung eines supranationalen Staates ermögliche (aber dann auch: erfordere) eine Unionsverfassung.

Dennoch soll hier die Auffassung vertreten werden, dass sich aus dem Vorha n- densein der neuartigen politischen Organisationsform „Europäische Union“ ein ebenso neuartiges Erfordernis einer Verfassung ergibt. Ich folge hierbei zunächst Peter-Christian Müller-Graff, der angesichts des fortgeschrittenen Integrations- standes den „Gesamtorganismus [Europäische Union und Gemeinschaften] (...) als zielgebundenes, transnationales Gemeinwesen eigener Art“9 bezeichnet. Ein europäisches Gemeinwesen existiere, „weil ein auf die Verwirklichung eines euro- päischen Gemeinwohls gerichteter Organismus mit öffentlicher Gewalt und mit der Berechtigung und Verpflichtung von Einzelpersonen erkennbar“ sei. Union und Gemeinschaften arbeiten zielgerichtet an transnationalen Aufgabenfeldern nach staatsübergreifenden Ordnungsmustern. Schließlich sei dieses Gebilde von eige- ner Art, da zwar Struk turparallelen zu staatlichen oder kommunalen Formen von Gemeinwesen erkennbar, dennoch aber nur begrenzt vorhanden seien. Mit ande- ren Worten: „Im heutigen Politischen System der EG/EU sind intergouvernementa- le, (neo-)korporatistische, konföderale und unita risch-zentralistische Struktur- und Funktionselemente“ verknüpft.10 Die EG/EU ist also weder ein Staatenbund der keiner Verfassung bedürfte, noch ein Bundesstaat der nach traditionellem Ver- ständnis per se das Erfordernis einer solchen mit sich brächte. Aber es gibt im europäischen politischen Gemeinwesen supranationale Hoheitsgewalten- das ist eben der Unterschied zum reinen Staatenbund - und solche darf es, jedenfalls nach dem Verständnis derjenigen, die eine Europäische Verfassung in absehbarer Zeit befürworten, nur ‚von Verfassungs wegen’ geben.11

Welches sind nun diese Hoheitsgewalten? Nach Art. 281 EGV hat die Europäi- sche Gemeinschaft eine Rechtspersönlichkeit. Trotz des fehlenden Staatscharak- ters besitzt sie eigene legislative, administrativ-exekutive und judikative Gewalt. So sind die EGen, seit dem Vertrag von Maastricht (1992) die vergemeinschaftete erste Säule der EU, beispielsweise ermächtigt, Verordnungen zu erlassen, befugt, staatliche Beihilfen in den Mitgliedstaaten zu beaufsichtigen und Verstöße gegen Wettbewerbsregeln für Unternehmen zu ahnden. Art. 220 EGV betraut den Euro- päischen Gerichtshof (EuGH) mit der Sicherung „der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“. Die EU besitzt zwar keine Rechts- persönlichkeit, dennoch ist der Rat nach Art. 34 Abs. 2 b) und c) befugt, im nicht vergemeinschafteten Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit, verbindliche (jedoch nicht unmittelbar wirksame) „Rahmenbeschlüsse zur Anglei- chung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“ sowie „ Be- schlüsse für jeden anderen Zweck“ innerhalb der dritten Säule anzunehmen. Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nimmt der Rat, wenn es in einer „spezifische[n] Situation für notwendig erachtet wird“, gemeinsame Aktionen an (Art. 34 EUV Abs. 1), die „für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend [sind]“ (Art. 34 EUV Abs. 3)12.

Wie sehr „Europa“ die Bürger der einzelnen Staaten betrifft, zeigt sich nicht nur im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion u.a. mit der Einführung einer gemein- samen Währung (Euro) in 11 Mitgliedstaaten der EU, sondern beispielsweise auch die sog. BSE-Krise, die die enge wirtschaftliche Verknüpfung der europäischen Staaten einerseits, die Untrennbarkeit von verschiedenen Politikbereichen - hier u.a. Wirtschaft, Verbraucherschutz, Landwirtschaft, Information - andererseits deutlich macht.

Aus dem in diesem Abschnitt Beschriebenen sowie aus der Einführung der Uni- onsbürgerschaft als Ergänzung zur jeweiligen Staatsbürgerschaft in den einzelnen Mitgliedstaaten ergibt sich eine weitere Begründung dafür, dass es Zeit für eine Unionsverfassung ist: Der fortgeschrittene Integrationsstand, der starke Einfluss von Unions - und Gemeinschaftsentscheidungen auf nationalstaatliches Handeln, die Entwicklung von einem „Verband funktioneller Wirtschaftsintegration“13 in Rich- tung einer politischen Union zeigt, dass Europa längst mehr ist als ein Markt, mehr als ein inter-nationales Vertragssystem. Zwar begründet dies keine „Europäische Nation“, dennoch besteht aber ein politisches Gemeinwesen bestehend aus Uni- onsbürgerschaft, Unionsgebiet (wobei dieses sich durch Erweiterung verändern kann, dennoch nach Art. 14 Abs. 2 ein „Raum ohne Binnengrenzen“ ist) und Uni- ons-Hoheitsgewalt. Denkt man die drei sog. „klassischen Jellinek-Kriterien der Staatsqualität“14 in dieser Weise auf die EU bezogen weiter, so ist die Ableitung, dass in ähnlich weitergedachter Weise eine Unions-Verfassung nun auch dazu gehören sollte, keineswegs abwegig.15

4. Hat die Union schon eine Verfassung?

Selbst wenn sich aus den aufgeführten Überlegungen das Erfordernis einer Euro- päischen Verfassung ergibt, so könnte man doch argumentieren, dass eine solche in Form des Amsterdamer Vertrages längst vorhanden und damit die Verfas- sungsdebatte hinfällig sei. Immerhin enthält dieses Dokument die Gründungsver- träge von Gemeinschaften und Union, es könnte daher eventuell als „Grundver- trag“ im Sinne einer Verfassung gewertet werden. Und tatsächlich sieht der EuGH im EG-Vertrag die „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ ebenso wie das Bundesverfassungsgericht einst feststellte, dass der EG-Vertrag „ gewisser- maßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ darstellt16. Dagegen sieht das Euro- päische Parlament die Ausarbeitung einer Grundrechtscharta als „integrierenden Bestandteil eines nunmehr zu eröffnenden verfassungsgebenden Prozesses“ an17. Ähnlich heißt es im Aufruf der deutschen SPD zur Europawahl 1999: „Wir wollen mit einer Charta der europäischen Bürgerrechte den Kern einer europäischen Ver- fassung schaffen (...)“ sowie im Programm zur Europawahl von Bundnis90/ Die Grünen: „Anknüpfungspunkt für eine solche Diskussion (über die zukünftige Ver- fassung der EU) kann eine Europäische Grundrechtscharta sein (...)“18.

Pernice stellt das Vertragswerk als „eine Komplementärverfassung zu den Verfas- sungen der Mitgliedstaaten dar, das (...) mit ihnen materiell einen „Verfassungs- verbund bildet“19. Dennoch besteht formal kein Verfassungsdokument, sondern ein Vertrag in völkerrechtlicher Form. Müller-Graff kritisiert den „gegenwärtig unbe- friedigende[n] Zustand [der] Komplexität des Primärrechts“20. Bundesjustizministe- rin Herta Däubler-Gmelin meint, der EuGH garantiere „Grundrechtsschutz durch Richterrecht, allerdings höchst unvollkommen, weil nur bezogen auf das Segment der Marktteilnahme und die vier Grundfreiheiten“21.

Insgesamt scheint sich in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion her- auszustellen, dass neben dem formalen Aspekt sowie einer Straffung bzw. ver- ständlicheren Formulierung und Anordnung der Vertragsinhalte vor allem ein Grundrechtskatalog innerhalb der Verträge fehlt. So ist zwar in Art. 6 EUV festge- legt: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“ (Abs. 1) und „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der (...) Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mit- gliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“ (Abs. 3). Dennoch hat der EuGH hiermit die Aufgabe, „unionsfremde“ Vertragstexte auszulegen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat trotz der Selbstbindung der EU an die EMRK keine Zuständigkeit für Streitigkeiten zwischen einem Unionsbürger und der EU22. Ein Beitritt der EU zur EMRK ließe sich durch eine Vertragsänderung, die der Union die fehlende Rechtspersönlichkeit zuerkennt, zwar ermöglichen, würde aber entweder ein weiteres kompetenzielles Nebeneinander - nämlich des EuGH und des EGMR - schaffen oder damit hätte ein außerhalb der Union stehendes Gericht auf der Grundlage nicht spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Texte den erforderlichen Grundrechtsschutz gegenüber Gemeinschaftsakten zu gewährleisten23. Ein solcher Beitritt zur EMRK ist demnach kein Ersatz für einen (Unions-)Grundrechtskatalog.

Dennoch sprechen nicht haup tsächlich rechtliche, sondern vor allem politische Gründe für die Verabschiedung eines formellen Katalogs der Grundrechte.

5. Die politische Bedeutung der Europäischen Grundrechtscharta

Die Ausarbeitung und die feierliche Proklamation der Europäischen Grundrechts- charta gehören zu den bedeutsamsten integrationspolitischen Maßnahmen seit der Verabschiedung des Amsterdamer Vertrages, denn schon im ersten Satz ihrer Präambel taucht eine für europäische Verträge grundlegend neue Formulierung auf: „Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Wer- te eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“ Es ist hier nicht mehr so, dass die Staatschefs im Namen ihres Staa- tes einen Vertrag schließen (wie z.B. den EG- oder EU-Vertrag), sondern erstmals erscheinen die europäischen Völker so explizit an solch prominenter Stelle als der eigentliche Souverän der Union. Tatsächlich setzte sich der Konvent zur Erarbei- tung der Charta aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, einem Be- auftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments (EP) und 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente zu- sammen sowie je zwei Vertretern des EuGH und des Europarates als Beobachter. Einbezogen in die Beratungen zur Charta wurden außerdem der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA), der Ausschuss der Regionen (AdR), der Europäische Bürgerbeauftragte sowie zur Anhörung gesellschaftliche Gruppen und Sachver- ständige. Dieser Modus der Zusammenarbeit kommt dem eines Verfassungskon- vents schon sehr nahe. Um Transparenz zu gewährleisten sind Maßnahmen er- griffen worden wie öffentliche Sitzungen, Eingabemöglichkeiten per Internet, Dis- kussionsveranstaltungen auf nationaler Ebene, um mediale Aufmerksamkeit wur- de sich vergleichsweise intensiv gekümmert24. Diese Verfahrensweisen sind ge- eignet - möglichst in Verbindung mit einem EU-weiten Referendum zur Aufna hme in die Verträge und damit zur Rechtsverbindlichkeit - die Legitimität der Charta und damit der EU insgesamt zu stärken. Überhaupt liegt die besondere Bedeutung dieser Charta wohl vor allem in einer (hoffentlich) starken Wirkung auf die Identifi- kationsfähigkeit und -bereitschaft der Bürger der Mitgliedstaaten mit der Union.

„Wer Rechte hat, sie kennt und nutzen kann, wer sieht, dass sich die Europäische Union um seine Rechte kümmert, für den ist sie auch interessanter.“25

Der nun vorliegende Text ist ein Kompromiss zwischen gegensätzlichen Interes- senlagen verschiedener politischer Parteien, Kräfte und Bewegungen, vielfältigen Wertvorstellungen sowie unterschiedlichen kulturellen und Verfassungstraditionen in 15 EU-Mitgliedstaaten. Beachtet werden musste sowohl britisches common law als auch die Überlieferungen der Freiheits-, Gleichheits- und Solidaritätsgebote der Französischen Revolution, das in Italiens Verfassung enthaltene Recht auf Arbeit oder das Grundgesetz. Zur Grundlage für die Arbeit wurden neben den na- tionalen Verfassungen die Europäische Konvention zum Schutz der Mensche n- rechte und Grundfreiheiten, das Gemeinschaftsrecht, die Europäische Sozialchar- ta und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer ge- nommen. Die Charta besteht neben der Präambel aus insgesamt 54 Artikel, die in sieben Kapitel gegliedert sind. Kapitel I enthält Bestimmungen zur Würde des Menschen. Kapitel II ist mit „Freiheite n" betitelt. Die vierzehn hier aufgeführten Einzelbestimmungen erfassen neben dem „Recht auf Freiheit und Sicherheit" so- wie dem „Schutz personenbezogener Daten" insbesondere auch die „unternehme- rische Freiheit" und das „Eigentumsrecht". Im dritten Kapitel werden Gleichheits- rechte wie die „Gleichheit vor dem Gesetz" und die „Gleichheit von Männern und Frauen" normiert. Das vierte, mit „Solidarität" betitelte Kapitel, umfasst ein breites Spektrum verschiedener sozialer Grundrechte. So werden in dreizehn Einze lbe- stimmungen neben dem Umweltschutz und dem Verbraucherschutz, welche be- reits im EG-Vertrag als Querschnittsaufgaben geregelt sind, ArbeitnehmerInnen- rechte wie das „Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst" oder der Anspruch auf „Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung" normiert. Die aus acht Einzelbestimmungen bestehenden „Bürgerrechte" des fünften Kapitels behandeln unter anderem das „aktive und passive Wahlrecht" bei den Wahlen zum Europäi- schen Parlament, ein neuartiges „Recht auf eine gute Verwaltung" sowie „Freizü- gigkeit und Aufenthaltsrecht". Kapitel VI beinhaltet „Justizielle Rechte" wie das „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht" sowie „Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte". Im siebenten Kapitel schließlich sind allgemeine Bestimmungen aufgeführt, die den Anwendungsbereich und die Tragweite der garantierten Rechte betreffen. In der Systematik dieser Struktur nehmen die sozialen Grundrechte, als Kapitel IV, eine relativ starke Stellung ein. Sie sind noch vor den Bürgerrechten, Justiziellen Rechten und den Querschnittsartikeln angesiedelt, was ihre Bedeutung unterstreicht.

Die Charta verdeutlicht den Wandel des Charakters der EU von der Wirtschafts- gemeinschaft zu einer politischen Union, deren Mitglieder grundlegende Wertvor- stellungen teilen und macht diese deutlich sichtbar. Sie schafft Klarheit über die Grundrechte und deren Reichweite und stärkt damit Vorhersehbarkeit, Rechtssi- cherheit und breite Anwendung dieser Grundrechte, denn es ist sehr wohl ein Un- terschied, ob Normen und Schranken der Grundrechte schriftlich verankert sind oder ob ihre Konkretisierung im Rahmen einer nur Fachleuten bekannten Recht- sprechung erfolgt.26

6. Zusammenfassung und Ausblick

Die Europäische Grundrechtscharta als elementarer Teil einer Europäischen Ver- fassung würde nicht nur die Verfasstheit der EU stärken, sondern durch Transpa- renz und Klarheit auch das Interesse der Unionsbürger an ihren eigenen Rechten. Im Idealfall würde sich auf die Dauer eine „europäische Identität“ entwickeln, die die nationalstaatliche und regionale ergänzt und bereichert. Durch einen unions- weiten Schutzes einklagbarer Menschen- und Bürgerrechte, die für jedermann nachlesbar, nachvollziehbar und anwendbar wären, würde die Union dann nicht mehr ein fernes Gebilde bleiben, sondern als Werte- und Rechtsgemeinschaft ein „Gesicht“ bekommen.

Dennoch wurde die vom Konvent erarbeitete Grundrechtscharta in Nizza lediglich "feierlich proklamiert", Rechtsverbindlichkeit und individuelle Einklagbarkeit aber von der Regierungskonferenz auf die lange Bank geschoben. Trotzdem besitzt auch der nun bestehende Katalog relativ starken appellativen bzw. Orientierungs- charakter zumindest für die Rechtsprechung des EuGH. Außerdem wurde Arbeit des Konventes von Anfang an von den Medien beobachtet und deren Inhalte im Vergleich zu anderen EU-Themen vielfach verbreitet. Dies und die angestoßenen Diskussionen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft lassen hoffen, dass die Themen Europa, Grundrechtsschutz, Europäische Verfassung, Finalität etc. auch weiterhin öffentlich diskutiert werden und es nicht bei einem Europa der Eliten bleibt. Des weiteren ist auch die Funktion ähnlicher bisheriger Deklarationen zu bedenken: so wurde u.a. die „Declaration des droits des hommes et des citoyens“ integrativer Bestandteil der im Wesentlichen noch heute geltenden französischen Verfassung, durch die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ durch die Ge- neralversammlung der Vereinten Nationen wurden erstmals in der Geschichte die Inhalte eines weltweiten Menschenrechtsstandards bestimmt. Es ist durchaus er- strebenswert, dass sich die Europäische Grundrechtscharta in diese Tradition ein- reiht.

Kritiker bzw. Gegner der Charta zählen zu den unterschiedlichsten politischen La- gern: vom radikal linken Standort bis zum erzkonservativen, einschließlich einiger NGO ebenso Unternehmerverbände. Besonders wird befürchtet, eine Grund- rechtscharta sei Auftakt für die Etablierung eines europäischen Superstaates. Sol- che Befürchtungen klingen u.a. verstärkt in Frankreich oder Großbritannien an, was unter anderem sicherlich auch auf die ganz unterschiedlichen Staatsauffas- sungen und Verfassungstraditionen sowie auf verschiedenste Vorstellungen zur Finalität Europas zurückzuführen ist. Allein ein genauer Blick auf den Text der Charta, insbesondere ihren Geltungsbereich und ihre Zuständigkeiten, zeigt e- doch, dass derlei Ängste unbegründet sind. Ausdrücklich ist in Artikel 50 fixiert, dass "diese Charta (...) für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einha l- tung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union" gilt und dass sie "weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union [begründet], noch (...) die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben [ändert].“27

Festzuhalten bleibt, dass die weitere Entwicklung des „Projektes“ EU-Charta/EU- Verfassung vorangetrieben werden sollte und weder die m.E. sehr positiv zu bewertende Idee noch die inhaltvollen Arbeitsergebnisse des Konventes einfach vergessen werden dürfen, ähnlich den Initiativen des EP 1984 und 199428. Auch im Hinblick auf das Erfordernis institutioneller Reformen und auf die EUOsterweiterung bleibt die Aufnahme in die Verträge wünschenswert. Ein Referendum hierzu wäre beispielsweise im Jahre 2004 am Tag der nächsten Europawa h- len auch unter Einbeziehung der Beitrittkandidaten denkbar.

7. Bibliographie:

Benda, Ernst „Grundgesetz - Verfassung/Verfassungsreform“ in: Ander- sen/Woyke (Hrsg.) „Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000

Boldt, Hans in: Nohlen, Dieter (Hrsg.) „Wörterbuch Staat und Politik“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998

Däubler-Gmelin, Prof. Herta „Vom Marktbürger zum EU-Bürger“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.1.2000

Fraenkel, Ernst in: ders./ Bracher, Karl Dietrich (Hg.): „ Staat und Politik“, Fischer Bücherei, Frankfurt am Main/ Hamburg 1957

Grimm, Dieter „Ohne ein Volk keine Verfassung. Eine demokratische EU braucht bessere Institutionen, aber kein Grundgesetz“ in: Die Zeit, Nr. 12, 18.3.1999

Jopp, Mathias/Schmalz, Uwe „Deutsche Europapolitik 2000 - Positionen, Prioritäten, Perspektiven“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 6/2000

Müller-Graff, Peter-Christian „Europäische Verfassung und Grundrechtscharta: Die Europäische Union als transnationales Gemeinwesen“ in: INTEGRATION 23.JG. ,1/2000

Nohlen, Dieter „Lexikon der Politik“, Bd. 5, Beck-Verlag, München 1996

Nohlen, Dieter (Hrsg.) „Wörterbuch Staat und Politik“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998

Pernice, Dr. Ingolf „Eine Grundrechtscharta für die Europäische Union“ in: Deutsches Verwaltungsblatt 15. Juni 2000

Preuß, Ulrich K. „ Grundrechte in der Europäischen Union“ in: Kritische Justiz 1998

Sieger, Gerd Joachim „Verfassung der DDR- Text, Einführung, Kommentar, Hinweise auf das Grundgesetz“, Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1978, 3. Auflage

www.europarl.eu.de/archiv/deutsch.htm

www.pds-europa.de/doku/001020-01.shtml

[...]


1 Fraenkel, Ernst in: ders./ Bracher, Karl Dietrich (Hg.): „ Staat und Politik“, Fischer Bücherei, Frankfurt am Main/ Hamburg 1957, S. 330f.

2 s. a. Müller-Graff, Peter-Christian „Europäische Verfassung und Grundrechtscharta: Die EuropäischeUnion als transnationales Gemeinwesen“ in: INTEGRATION 23.JG.,1/2000, S. 34-47

3 Sieger, Gerd Joachim „Verfassung der DDR- Text, Einführung, Kommentar, Hinweise auf das Grundge- setz“, S.18, Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1978, 3. Auflage 4

4 vgl. Benda, Ernst „Grundgesetz - Verfassung/Verfassungsreform“ in: Andersen/Woyke (Hrsg.) „Handwör- terbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000

5 Boldt, Hans in: Nohlen, Dieter (Hrsg.) „Wörterbuch Staat und Politik“, S. 819, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998

6 vgl. ebenda

7 vgl. Grimm, Dieter „Ohne ein Volk keine Verfassung. Eine demokratische EU braucht bessere Institutionen, aber kein Grundgesetz“ in: Die Zeit, Nr. 12, 18.3.1999, S. 4 ff

8 Bundesverfassungsrichter P. Kirchhof, in: „Europäische Kommission“, 1994, S. 59, zitiert nach Nohlen, Dieter „Lexikon der Politik“, Bd. 5, S. 267, Beck-Verlag, München 1996

9 ders. a.a.O.

10 Nohlen, Dieter a.a.O.

11 vgl. ebenda

12 vgl. für den gesamten Absatz außerdem: Müller-Graff, Peter-Christian a.a.O.

13 vgl. Preuß, Ulrich K. „ Grundrechte in der Europäischen Union“ in: Kritische Justiz 1998, S. 1f

14 Jellinek, Georg „Allgemeine Staatslehre“, 3. Auflage, 1976 (!) , S.179, zitiert nach Müller-Graff, PeterChristian a.a.O., S. 36

15 Außerdem hat sie EU ähnlich einem Staat eine eigene Flagge sowie eine eigene Hymne ebenso wie diese ist eine Verfassung ein starker Symbolwert.

16 EuGHE 1991 I 6079 - EWR-Gutachten I bzw. BVerfGE 22,293 (296); beides zitiert nach Pernice, Dr. Ingolf „Eine Grundrechtscharta für die Europäische Union“ in: Deutsches Verwaltungsblatt 15. Juni 2000, S. 848

17 Europäisches Parlament, Entschließung zur Vorbereitung der Reform der Verträge und der nächsten Regie- rungskonferenz (C5-0143/1999 - 1999/2135 [COS], vom 18. 11. 1999 (PE 282.275), zitiert nach Pernice, Dr. Ingolf „Eine Grundrechtscharta für die Europäische Union“ in Deutsches Verwaltungsblatt 15. Juni 2000, S. 848

18 EuGHE 1991 I 6079 - EWR-Gutachten I bzw. BVerfGE 22,293 (296); beides zitiert nach Pernice, Dr. Ingolf a.a.O.18 beides zitiert nach Jopp, Mathias/Schmalz, Uwe „Deutsche Europapolitik 2000 - Positionen, Prioritäten, Perspektiven“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 6/2000

19 Pernice, Dr. Ingolf, a.a.O.

20 ders. a.a.O.

21 Däubler-Gmelin, Prof. Herta „Vom Marktbürger zum EU-Bürger“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.1.2000; Die sog. „vier Grundfreiheiten“ sind: die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs sowie das Freizügigkeitsrecht der Arbeitnehmer

22 vgl. Preuß, Ulrich K. a.a.O., S. 4

23 vgl. Müller-Graff, Peter-Christian a.a.O., S. 44

24 Zur Zusammensetzung und Arbeitsweise des Verfassungskonvents s.a. unter www.europarl.eu.de/archiv/deutsch.htm

25 Däubler-Gmelin, Prof. Herta a.a.O.

26 vgl. Chwolik-Laufermann, Dr. Ellen „Braucht die Europäische Union einen Grundrechtskatalog?“ in: ZRP 1995, Heft 4, S. 128

27 s.a. Kaufmann, Dr. Sylvia-Yvonne, MdEP, Konventsmitglied für das EP (GUE/NGL), unter www.pds- europa.de/doku/001020-01.shtml

28 Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, verabschiedet vom EP am 14.2. 1984 sowie eine Entschließung des EP zur Verfassung der Europäischen Union vom 10.2.1994

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Die mögliche politische Bedeutung der Europäischen Grundrechtscharta - Vorstufe zu einer Europäischen Verfassung?
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,7
Autor
Jahr
2001
Seiten
16
Katalognummer
V102193
ISBN (eBook)
9783640005819
Dateigröße
376 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bedeutung, Europäischen, Grundrechtscharta, Vorstufe, Europäischen, Verfassung
Arbeit zitieren
Nora Schüttpelz (Autor:in), 2001, Die mögliche politische Bedeutung der Europäischen Grundrechtscharta - Vorstufe zu einer Europäischen Verfassung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102193

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