Siegfried Kracauers Verständnis vom Experimentalfilm anhand von "Ein andalusischer Hund"


Hausarbeit, 2020

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsdefinition: Experimentalfilm

3. Siegfried Kracauer
3.1 Filmtheorie
3.2 Experimentalfilm nach Kracauer

4. Filmanalyse
4.1 Filmdaten
4.2 Inhalt
4.3 Visuelle Analyse
4.4 Interpretation

5. Vergleich mit Kracauers Verständnis vom Experimentalfilm

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Spricht man über wichtige Filmkritiker und Filmtheorien in Deutschland, fällt gewiss der Name: Siegfried Kracauer. Ein Klassiker ist heute immer noch Die Errettung der äußeren Wirklichkeit - Kracauers Theorie des Films (1985). In seinem Buch spricht Kracauer von der Errettung der physischen Realität (ebd.), doch was genau meint er damit? Siegfried Kracauer sagt:

Um uns die physische Realität erfahren zu lassen, müssen Filme wirklich zeigen, was sie zeigen. Diese Anforderung ist so wenig selbstverständlich , daß sie die Frage nach der Beziehung des Mediums zu den traditionellen Künsten aufwirft. (Kracauer 389)

Der Beantwortung dieser Fragen kommen wir durch Kracauers Kapitel dem Experimen­talfilm näher. Auch wenn durch das genannte Zitat die physische Realität im Kunstfilm angefochten scheint, sagt Kracauer auch es „darf nicht vergessen werden, daß sich, ge­nau wie Bunuel, mancher Avantgarde-Künstler später der äußeren Realität zuwandte“ (258). Dieser Gegenüberstellung gilt es auf den Grund zu gehen.

„Das Thema <Realismus> begleitet den Film seit seinen Anfängen und gehört in der Filmkritik und -theorie zu den meist diskutierten Gebieten.“ (Filmischer Realismus, Kirste). Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Verständnis des Experimental­films nach Siegfried Kracauer und der Bedeutung der physischen Realität am Beispiel Ein andalusischer Hund. Aufbauend auf eine Begriffsdefinition des Experimentalfilms, werden Theorie und Verständnis durch Fachliteratur erläutert. Es wird kein Versuch ei­ner Begriffsklärung der physischen Realität unternommen, sie wird vielmehr analysiert und anschließend mit dem Experimentalfilm verglichen. Um das Ganze zu veranschau­lichen, wird Kracauers Realismus-Theorie gegenüber dem Experimentalfilm an dem Filmbeispiel Ein andalusischer Hund /Originaltitel: Un chien andalou] von Luise Bunuel angewandt. Der Film, welcher wegweisend in der Filmgeschichte ist, fügt sich in den Themenkomplex dieser Arbeit ausgezeichnet ein. Auch in Kracauers Filmtheorie wird der eigenwillige Avantgardefilm des Öfteren erwähnt, der bis heute ein aktueller, einzigartiger Kurzfilm ist, der nichts von seiner Kraft verloren hat. Nach der Analyse folgt ein Vergleich mit Kracauers Verständnis und Kritik gegenüber dem experimentel­len Kunstfilm. Ziel der Arbeit ist es zu prüfen, ob sich Kracauers Realismus-Theorie auch mit dem Experimentalfilm vereinbaren lässt und wie er dem gegenüber steht.

2. Begriffsdefinition: Experimentalfilm

Experimentalfilm oder auch Avantgardefilm ist ein Überbegriff für verschiedene filmi­sche Formen, die sich dem herkömmlichen und kommerziellen Spielfilm verweigern. Mit der Entwicklung der Filmgeschichte bildeten sich zahlreiche Synonyme für den Ex­perimentalfilm, wie Unabhängiger Film, Undergroundfilm , das Andere Kino, Abstrak­ter Film , Cinéma pur oder auch Absoluter Film. Die ersten Experimentalfilme wurden in den 20er Jahren produziert und waren stark inspiriert von der zeitgenössischen, bil­denden Kunst, denn der Film sollte sich als eigene Kunstform etablieren. Schwer ge­wichtet werden Filmtechniken, Montage und ungewöhnliche Kameraeinstellungen. Die Filme haben immer einen Charakter des Ausprobierens und Experimentierens. Der Re­gisseur strebt mit einer eigenen Sprache nach neuen Dimensionen jenseits der Konven­tionen. Der Avantgardefilm hat eine Vorliebe für unvertraute Erscheinungen und krypti­sche Darstellungen. Inspiriert vom Surrealismus werden oft Visionen, Sehnsüchte, Träume, Enttäuschungen und Tabubrüche projiziert.

3. Siegfried Kracauer

Siegfried Kracauer, ein bedeutender Filmkritiker der 20er Jahre , wurde 1889 in Frank­furt am Main geboren und starb 1966 in New York. Kracauer führte ein vielfältiges Le­ben als Schriftsteller, Architekt, Kritiker , Feuilletonist, Geschichtsphilosoph, Filmhisto­riker und gilt als einer der Begründer der Filmsoziologie.

3.1 Filmtheorie

Siegfried Kracauer veröffentlichte 1960 in Amerika die erste Originalausgabe von Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. In Deutschland erschien die erste Auflage 1985 Siegfried Kracauer: Theorie des Films - Die Errettung der äußeren Wirk­lichkeit. „Das Buch befaßt sich ausschließlich mit dem normalen Schwarz-Weiß-Film, wie er sich aus der Fotografie entwickelt hat.“ (Kracauer, 9). Durch Kracauers gesamtes Buch zieht sich die Frage nach der Darstellung der physischen Realität im Film. Filme sind nach Kracauer nur filmisch, wenn sie dem Grundprinzip der realistischen Tendenz folgen. Der Film muss eine registrierende und enthüllenden Funktion vorweisen (71-77). Unter die registrierende Funktion fallen: Bewegungen wie eine Verfolgungs­jagd, der Tanz, Bewegungen im Entstehen oder gar leblose Gegenstände. Mit der ent­hüllenden Funktion meint Kracauer, dass der Bildstreifen etwas aufdeckt, etwas, was der Zuschauer normalerweise nicht sieht, „Sonderformen der Realität“ (77), dies bezieht er auf die einzelnen Filmtypen. Ein großes und komplexes Kapitel stellt der Experimen­talfilm dar: „Die zwei allgemeinsten Filmtypen sind der Spielfilm und der Film ohne Spielhandlung. Dieser umfaßt die meisten Experimentalfilme und alle arten von Tatsa­chenfilme..“ (237).

3.2 Experimentalfilm nach Kracauer

Zwischen allen Filmgenres betrachtet Kracauer den Experimentalfilm auf eine seltene und besondere Weise, denn oft wird ihm in der Filmgeschichte nur wenig Aufmerksam­keit gewidmet. Er beschreibt den Experimentalfilm als einen „Film ohne Spielhandlung.“ (ebd.). Es gibt zwei verschiedene Arten der Filme, die abstrakten Zei­chentrickfilme und die Filme, die Visionen und Sehnsüchte vom Surrealismus geprägt, darstellen.

Auf der einen Seite wollen die Avantgardefilme sich von einer Handlung im Film loslö­sen, da die Handlung Grenzen mit sich zieht, andererseits wollten erfolgreiche Regis­seure auch nicht komplett auf die Handlung verzichten, da diese in der Industrie ein wichtiger Bestandteil für Erfolg war.

In dem Absatz der Filmsprache geht Kracauer auf die besondere Montage, Techniken, Kameraeinstellungen und Effekte ein, die den Experimentalfilm ausmachen. Der Fil­memacher versucht so, seine ganz eigene Sprache zu entwickeln. Besonders wichtig scheinen Nahaufnahmen lebloser Gegenstände und kleine Details.

In Experimentalfilmen wird alles aus der physischen Realität bis zum Äußersten ausge­schöpft, die physische Realität wird auch als Begrenzung der Kunst beschrieben. Hand­lung und physische Realität werden nicht ganz ignoriert, dennoch wollten avantgardisti­sche Regisseure mit der Natur brechen. Der Film wird als „die unrealistischste aller Künste“ (244) beschrieben, der innere Impulse und Visionen nach außen projizieren soll.

Es gibt aber auch Experimentalfilme, bei denen sich Bilder und Bewegungen durch Rhythmen leiten lassen, eine Art visuelle Musik. In diesen Filmen lässt sich ein Ansatz physischer Realität erkennen, doch es steht nicht im Vordergrund, die physische Realität zu berücksichtigen, sondern es geht nur um die Komposition. Im Grunde sind es immer noch keine realistischen Darstellungen von Personen, man kann dies eher als auszeh­rend beschreiben. Die Avantgardefilme wollen als neuer Zweig der traditionellen Kunst angesehen werden. Ziel war es nicht, ein Film zu sein, sondern eine Bereicherung der Kunst.

Mitte der zwanziger Jahre etablierten sich surrealistische Filme. „Das ursprünglichste und repräsentativste surrealistische Werk dieser Periode war Bunuel-Dalis' UN CHIEN ANDALOU“ (252). In den neueren Experimentalfilmen geht es um Traumszenen, Sehnsüchte, innere Verfassungen, Visionen und Gefühle, die ohne Handlung trotzdem sichtbar werden. Es geht mehr um Inhalt, Fantasie, die Filme scheinen wie ein Spiegel zur Seele. Die Innere Welt scheint für die Künstler die einzige Realität zu sein.

Kracauer geht im letzten Teil des Kapitels noch auf ein Problem der surrealistischen Filme ein. Bilder oder Objekte fungieren für den Zuschauer schnell als Symbol, wenn sie auf das innere Leben hinweisen. Der verbundene Symbolismus hindert den Zu­schauer daran, dem realistischen Material in den Experimentalfilmen unbegrenzt Bedeu­tungen zuzuordnen.

In seiner Schlussbemerkung, über den Experimentalfilm klingt Kracauer vorerst sehr paradox, denn er erkennt den Film als wahre Kunst: „Indem sie den Film von der Ty­rannei der Story befreien, unterwerfen sie ihn der traditionellen Kunst. In der Tat, sie ziehen die Kunst ins Kino hinein.“(258). Andrerseits ist der Kunstfilm für Kracauer we­sensfremd. Er betont zum Schluss, dass spätere Experimentalfilme sich der äußeren Realität widmeten, unter anderem auch Un chien andalou von Bunuel (ebd.).

Kracauer geht aber in seiner Theorie am Ende im „Epilog“ nochmal spezifisch auf die physische Realität im Bezug auf den Kunstfilm ein und übt starke Kritik am Experimen­talfilm. Kunstintentionen und Wille können niemals „zeigen was sie zeigen“ (389).

4. Filmanalyse

4.1 Filmdaten

Der surrealistische Stummfilm Ein andalusischer Hund [Originaltitel: Un chien anda- lou] erscheint erstmals im Jahr 1929 in Frankreich, er wurde unter der Regie von Luis Bunuel gedreht. Das Drehbuch dazu verfassten die Freunde Luis Bunuel und Salvador Dali. Der etwa 16-minütige Film wurde von Luis Bunuel und Pierre Braunberger pro­duziert, die Kamera führte Albert Duverger, geschnitten wurde er ebenfalls von Luis Bunuel. Zur Besetzung gehören Pierre Batcheff (Mann), Simone Mareuil (junge Frau), Luise Bunuel (Mann im Prolog), Robert Hommel (junger Mann), Jaume Miravitiles (Seminarist), Salvador Dali (Seminarist).

4.2 Inhalt

Der Inhalt des schwarz-weiß Experimentalfilms basiert auf zwei Träumen von Luis Bunuel und Salvador Dali, wobei sich in den Szenen auf das Wesentliche beschränkt wurde. Der Kurzfilm stellt einen menschlichen Konflikt zwischen einem Mann und ei­ner Frau dar, wobei in dem Impulse, Triebe und Begierde im Vordergrund stehen. Nach einer Narration sucht man vergeblich. Der Film besteht aus aneinandergereihten krypti­schen Szenen, dabei spielt die Szenenabfolge keine Rolle. Unterteilt wird der Film durch Zwischentitel. In Bunuels Film verschwimmen Traum und Wirklichkeit. Der Film soll nicht wie ein unwirklicher Traumzustand wirken „Der Film erzeugte Wirk­lichkeit mit den Mitteln des Traums.“(Weiss 40). Bunuel war einer der Avantgarde­Künstler, der sich der Realität zuwandte :

Aus naheliegenden Gründen machen surrealistische Filme in der Regel mehr Gebrauch von realistischem Material als rhythmische Kompositionen. Ein be kanntes Beispiel ist die faszinierende und wahrhaft realistische Aufnahme eines von oben gesehenen kleinen Straßenlaufs in UN CHIENANDALOU. (Kracauer, 256)

Der Prolog wird dramatisch eingeleitet mit „Es war einmal“ zu sehen ein Mann (hier Bunuel selbst) der mit einer Zigarette im Mund sein Rasiermesser schärft. Er steht auf dem Balkon, Wolken ziehen vorbei. In Nahaufnahme erscheint ein Frauengesicht, er schneidet mit dem Rasiermesser durch ihr offenes Auge. Acht Jahre später, so der nächste Zwischentitel, und zu sehen ist ein Mann, der mit einem Fahrrad durch eine lee­re Straße fährt. Er trägt ein Kostüm und eine eckige Schachtel mit sich, welche als Ta­sche fungiert. Plötzlich ist wieder eine Frau zu sehen, welche ein Buch ließt. Sie wirft es auf den Boden, sieht vom Fenster aus den Mann auf dem Fahrrad, sie wirkt erschrocken und entsetzt. Der Mann fährt gegen den Gehweg und fällt abrupt um, er liegt regungslos auf der Straße. Die Frau am Fenster wirkt besorgt und rennt zu ihm, sie küsst sein gan­zes Gesicht. Der Karton wird in Nahaufnahme eingeblendet, in ihm ist eine Krawatte. Die weibliche Figur breitet die Sachen des Radfahrers auf dem Bett aus und starrt dar­auf. Hinter ihr ist wieder der Mann zu sehen, er starrt auf seine Hand. In Nahaufnahme ist zu erkennen, dass Ameisen aus seiner Hand krabbeln. Die nächste Aufnahme ist wie­der eine Nahaufnahme, diesmal von einer weiblichen Achselhöhle, dann ein Seeigel, von dem aus die Perspektive senkrecht von oben auf das Mädchen gelenkt wird. Das Mädchen sticht mit einem Stock in ihrer Hand auf den Boden. Es versammeln sich viele Leute in einem Kreis um sie herum. Der Karton taucht plötzlich bei ihr auf, der Kreis löst sich auf. Das Mädchen bleibt mitten auf der Straße gleichgültig stehen. Der Mann und die Frau schauen vom Fenster aus nervös zu.

[...]

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Siegfried Kracauers Verständnis vom Experimentalfilm anhand von "Ein andalusischer Hund"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
14
Katalognummer
V1021988
ISBN (eBook)
9783346418043
ISBN (Buch)
9783346418050
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kracaue, Experimentalfilm, Kurzfilm, Filmanalyse, Siegfried Kracauer, Andalusische Hund
Arbeit zitieren
Milena Sagorski (Autor:in), 2020, Siegfried Kracauers Verständnis vom Experimentalfilm anhand von "Ein andalusischer Hund", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1021988

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