Robinson kann nicht sterben. Das Spiel von Fiktion und Wirklichkeit bei Friedrich Forster


Bachelorarbeit, 2013

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Reale und fiktive Welten

2. Daniel Defoe - Eine reale Person in einer fiktionalen Erzählung
2.1 „Den kenne ich doch!?“ –Historische Person und Figur im Vergleich
2.1.1 Defoes letzte Lebensjahre
2.1.2 Die Familienverhältnisse
2.1.3 Die finanzielle Notlage
2.1.4 Politische Beziehungen
2.1.5 Der Schriftsteller
2.2 Forsters Verwendung historischer Realität für seine Fiktion

3. Der König: Fiktion ist realistisch, märchenhaft, symbolisch
3.1 Eine politische Figur
3.2 Ein Märchenkönig
3.3 Der „Freund des Königs“ ist ein Freund der Literatur

4. Formen der Fiktion in der fingierten Wirklichkeit von Forsters Erzählung
4.1 Defoes Traum
4.2 Das Spiel der Jungen
4.3 „Mister Pums alberne Lügen“
4.4 Von Prinzen und Königen
4.5 Die Erwachsenen verweigern den Konsum von Dichtung
4.6 „sie öffnete die Augen“ – Der Traum von Maud?

5. Wer oder was ist Robinson?
5.1 Das Abbild des realen Alex Selkirk?
5.2 Ein neues Bild von „Robinson Crusoe“?
5.3 Robinson, das Vorbild oder Gegenbild?
5.4 Das materielle Medium der Literatur „Robinson Crusoe“
5.5 Robinson, ein Abbild des Schriftstellers?

6. Fazit: Robinson kann nicht sterben, denn Fiktion „taugt“

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung: Reale und fiktive Welten

Ein Autor erschafft im Schreiben, in der sprachlichen Ausformulierung eine fiktionale Welt, die je nach Thema, Genre oder Intention realitätsnah oder realitätsfern ist. Dabei besteht zwar ein permanenter Bezug zur Wirklichkeit des Autors und des Lesers, weil der geschaffene Text von einem 'wirklichen' Menschen (Autor) an einen anderen 'wirklichen' Menschen (Leser) gerichtet ist. Doch während des Lesens taucht der Rezipient in diese fiktionale Welt ein und gemäß dem Fiktionsvertrages akzeptiert er deren fiktive Wirklichkeit innerhalb der fiktionalen Grenzen.

Und indem der Leser die Fiktion – wenn auch nur distanziert – miterlebt, wird seine eigene Wirklichkeit mit neuen „Daten“ ergänzt oder gar beeinflusst und auch die Wirklichkeit der fiktiven Figuren erhält Gültigkeit.

In Friedrich Forsters Erzählung „Robinson soll nicht sterben“ (1949) wird dieses Verhältnis potenziert, indem ein intertextueller Bezug zu einem wirklichen Werk hergestellt wird und sich unter dem figuralen Personal des Textes eine Person unserer Realität befindet: der Autor des „Robinson Crusoe“ - Daniel Defoe. Außerdem begegnet man im Text immer wieder den Begrifflichkeiten „Wahrheit“ und „Lüge“, sodass im Folgenden eine Betrachtung der außerfiktionalen und der innerfiktionalen Ebene vorge­nommen wird, um den Wechselwirkungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit bei Forsters Erzählung1 auf den Grund zu gehen. Weil allein schon der Titel „Robinson soll nicht sterben“ die Unsterblichkeit bzw. Unvergänglichkeit literarischer Fiktion fordert, soll anschließend überprüft werden, inwieweit das wechselseitige Spiel von Fiktion und Wirklichkeit dazu beiträgt, fiktionalen Sachverhalten zu einer dauerhaft gültigen Existenz zu verhelfen.

Da „eine allseits anerkannte wissenschaftliche Definition von Begriffen wie Wirklich­keit, Fiktion, Mimesis oder Simulation nicht erhältlich ist“2 und man sich „Auf der Suche danach“ nur „in einem Spinnennetz von Theorien [verfängt]“3, soll von einer allgemeinen Definition ausgegangen werden:

„Ein erfundener ('fingierter') einzelner Sachverhalt oder eine Zusammen­fügung solcher Sachverhalte zu einer erfundenen Geschichte.“4

„Auszugehen ist von dem traditionellen Gegensatz von Fiktion und Wirklich­keit (bzw. Wahrheit), von (ästhetischem) Schein und (außerästhetischem) 'Sein'. Die Explikation hat also zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion fehlt, um 'der Wirklichkeit' oder 'der Wahrheit' gerecht zu werden. Hierbei sind zwei Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis zu unterscheiden: Dasein5 und Sosein6. Es können Individuen oder Personen fingiert sein […] und es können Beschreibungen und Handlungszusammenhänge fingiert sein. Wesentlich für einen neutralen Fiktionsbegriff ist darüber hinaus die Unterscheidung des Modus der Präsentation7 fingierter Sachverhalte: ob sie erkennbar als Fiktionen oder ob sie affirmativ in täuschender oder lügnerischer Absicht präsentiert werden.“8

In diesem Sinne umfasst der Begriff ‚Fiktion‘ auch Nicht-Literarisches wie Traum, Ein­bildung, Imagination, spielerische Nachahmung und Lüge. Dabei ist die Lüge als Sonderform des faktualen Erzählens zu verstehen, weil sie im Anspruch auf faktische Richtigkeit fiktive Elemente enthält.9

Die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Erzählen sowie die Über­prüfung des jeweiligen Wahrheitsgehalts sind nur durch Referenzierung auf einen außer- oder innerfiktionalen Rahmen möglich. So können beim fiktionalen Erzählen die Aussagen im Text für die außertextliche Wirklichkeit unwahr, aber für die innertext­liche Wirklichkeit (die Fiktion) wahr und faktual sein.

2. Daniel Defoe - Eine reale Person in einer fiktionalen Erzählung

2.1 „Den kenne ich doch!?“ (S. 12) –Historische Person und Figur im Vergleich

Forster schreibt über Ereignisse, in deren 10 Zentrum ein gewisser „Daniel Defoe“ (S. 9) steht, „der einmal das berühmteste Buch von England aufgeschrieben hatte“ (S. 11), womit gemäß Titel der Erzählung „Robinson Crusoe“ gemeint ist. Durch die konkret formulierten Angaben zu Ort (London) und Zeit (1730) wird auf die außertextliche Realität verwiesen, sodass der Leser über den üblichen Rahmen des Fiktionsvertrages hinaus, stets an die gleichnamige historische, reale Person erinnert wird. Diese Referentialität fordert eine Überprüfung in Forsters Text, inwieweit das fiktionalisierte Äquivalent mit der realen Person übereinstimmt.

2.1.1 Defoes letzte Lebensjahre

Forsters Erzählung spielt im London des Herbstes 1730 (S. 7). Tatsächlich hat der historische Daniel Defoe zu dieser Zeit (noch) und an diesem Ort gelebt. Forsters Figur ist „Ein sehr alter und erblindeter Mann“ (S. 8). Es stimmt mit der realen Biographie überein, dass Defoe 1730 bereits um die siebzig Jahre alt war, ein beträchtliches Alter für die damalige Zeit. Allerdings weicht Forster bei der Aussage über Defoes Gesund­heitszustand von der historischen Wahrheit ab, denn es gibt keinerlei Hinweise in Defoes Biographie, dass er blind war, sondern nur eine Brille trug11. Stattdessen litt er an Arthritis.12 Es ist richtig, dass Defoe im Herbst 1730 nicht mehr bei seiner Familie in Stoke Newington lebte, weil er sich vor Gläubigern versteckte.13 Aber ob Defoe jemals bei einer Witwe namens Cantley wohnte oder diese kannte, geschweige denn deren Tochter Maud, ist biographisch nicht belegt und entspringt wahrscheinlich Forsters Phantasie.

2.1.2 Die Familienverhältnisse

Forsters Figur Defoe ist Witwer (S. 35) und Vater eines einzigen Sohnes, der Tom heißt (S. 19). Das ist historisch nicht korrekt, sondern fiktiv.

Der reale Daniel Defoe war im Herbst 1730 zwar bereits von seiner Familie getrennt, aber seine Frau lebte noch. Defoe spricht in einem Brief an seinen Schwiegersohn von ihr als „their poor dying mother“14, doch tatsächlich hat sie ihn, der im April 1731 starb, um über ein Jahr überlebt.

Auch hatte der reale Defoe zwei Söhne, von denen keiner Tom, sondern der eine Benjamin und der andere Daniel junior hieß, und zudem noch sechs Töchter, von denen 1730 allerdings nur noch vier lebten.15 Forster verändert nicht nur die Anzahl von Defoes Kindern, sondern auch ihre Beziehungen zum ihm.

Das Vater-Sohn-Verhältnis bei Forster pauschalisiert und reduziert die komplexe historische Wirklichkeit. Der einzelne Sohn bei Forster ist darauf zurückzuführen, dass die Biographen andeuten, dass Defoe (und seine Familie) mit dem ersten Sohn Benjamin komplett gebrochen hat16, sodass von diesem in den späteren Lebensjahren nicht mehr gesprochen wird. Obwohl sich dieser Bruch in der fiktionalen Verfluchung Toms wiederfinden mag („Dieser Tom Defoe ist nicht mehr mein Sohn!“, S. 21), sind die Ursachen unterschiedlich. Während der fiktive Tom dem Vater die Robinson-Hand­schrift stiehlt, kritisierte der reale Defoe bei Benjamin die „Prinzipienlosigkeit und Liebedienerei“17 in dessen journalistischer Beschäftigung.

Der fiktive Diebstahl bezieht sich aber vielmehr auf den biographischen Vorwurf, dass der zweite Sohn Defoes den Vater in den Ruin getrieben haben soll. Ähnlich wie der Tom-Figur, die „einmal ein verwöhnter Junge gewesen sei, [...], denn der Vater war ja so reich […] und nun ist Daniel alt und arm. Das ist Toms Schuld.“ (S. 36), wird dem realen Daniel jr. nachgesagt, seinen Vater finanziell ausgenutzt und ausgenommen zu haben:

„Er [Defoe] hatte sich durch seine Schriftstellerei ein kleines Vermögen erworben und übergab es seinem zweiten Sohne. Dieser aber zahlte seinem Vater und seiner Mutter die festgesetzten Jahresgelder nicht aus.“18

Die Biographen berufen sich dabei auf den o.g. Brief Defoes von 1730, in dem es heißt:

„But it has been the injustice, unkindness, and, I must say, inhuman dealings of my Son, which has both ruin‘d my Family, and in a Word, has broken my Heart”.19

Lee und Healey vermuten aber, dass Daniels Aneignung der Gelder eher dazu diente, das Vermögen des Vaters vor Gläubigern und zur Absicherung der Hinterbliebenen nach seinem Tod zu schützen.20 Während also der beruflich kaufmännisch tätige Daniel jr. wohl als Verwalter oder Nachfolger Defoes das Geld beanspruchte, „verspielte Tom das Geld seines Vaters, Pfund um Pfund“ (S. 36).

2.1.3 Die finanzielle Notlage

Die von Forster dargestellte, schlechte finanzielle Situation seiner Figur, in der Daniel Defoe „so arm geworden [war], wie ein Mensch nur arm werden kann“ (S. 18), basiert auf einer überwiegend einstimmigen Aussage der Biographen. Denn neben dem auch von Forster vermerkten einstigen Wohlstand „vor langer Zeit, da war Onkel Defoe furchtbar reich.“ (S. 35), erlitt der reale Defoe auch zwei Mal Bankrott (1691 und 1724)21.

Bei dem vom Forster fingierten Treffen zwischen Defoe und dem König macht letzterer einen Vorschlag: „Heute aber bin ich gekommen, um nichts als ein Geschäft, einen Handel mit dir abzuschließen. Laß uns also ruhig wie zwei Kaufleute miteinander reden“ (S. 70), der einen Hinweis auf die reale Biographie und die eigentliche Ursache für Defoes finanzielle Notlagen enthält. Denn Defoe war zeitlebens immer auch ein Kaufmann22, der einige Fehlinvestitionen getätigt hatte. Dass William III. und Politiker wie Robert Harley ihm halfen, Schulden zu tilgen, indem sie ihm anboten für sie gegen Entgelt zu schreiben23, unterstützt Lees Zweifel an der von vielen anderen Biographen attestierten Armut, an der Defoe am Ende seines Lebens gelitten haben soll:

„If to these we add, only from 1719 to 1729, the profits arising out of nearly sixty published works […] many of which works were eminently successful, it is impossible to imagine that a man without any extravagant habits […] could be in any danger of pecuniary calamity.”24

2.1.4 Politische Beziehungen

Forster lässt seinen Defoe sagen „Damals war ich des Königs Freund“ (S. 12) und hat gewissermaßen Recht. Zu Lebzeiten des realen Daniel Defoe erlebte England insgesamt fünf Könige25 und eine Königin26. Seit 1727 und damit auch just zu Forsters erzähltem Geschehen, sitzt George II. auf dem englischen Thron. Doch mit der Andeutung auf ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Defoe und einem König ist nicht dieser gegen­wärtige gemeint, sondern William III., besser bekannt als William von Oranje.

Forsters König äußert den Wunsch, Defoe „zu meinem Berater zu machen“ (S. 57). Laut Riehle verhält es sich aber andersherum: „geht Defoe in dieser Lage im Jahr 1700 sogar so weit, sich dem König als Berater anzutragen“27 und William lässt sich „schon recht bald überzeugen“28. Weil Defoe jedoch kein Adeliger ist, bleibt ihm ein offizielles, politisches Amt verwehrt. So entbehrt auch das Angebot des fiktiven Königs, „Mister Defoe, wollen Sie nicht mein Minister werden?“ (S. 51) jeglicher realer Grundlage.

2.1.5 Der Schriftsteller

Als Herodes Pum in Forsters Text den Schriftsteller mit „der Bücherschreiber, der für seine fürwitzigen Tintenklecksereien in des Königs Ungnade fiel“ (S. 13) beschimpft, ist das für die Realität nicht nur auf Defoes berühmten fiktionalen Roman beschränkt zu verstehen. Denn Defoe wurde mit dem 1719 veröffentlichten „Robinson Crusoe“ erst sehr spät zum Romanschreiber. Vorher war er vor allem als Journalist bzw. Verfasser politischer Schriften bekannt.

„Für viele gebildete Zeitgenossen war Defoe ein vulgärer Autor, ein Schmierenjournalist (Grub street hack), der sein politisches Mäntelchen nach dem Winde hängte. […] Die Tatsache, daß Defoes Romane ungeheuer populär waren […], allen voran Robinson Crusoe, bestärkte manche Zeit­genossen eher noch in ihrem negativen Urteil.“29

Es sind die von Defoe früher verfassten Pamphlete, die ihn wirklich in königliche Ungnade fielen ließen. Mit Pums Ausruf „Robinson, die Schandschrift!“ (S. 13) ist weniger Defoes fiktiver Held oder das gleichnamige Werk gemeint, als vielmehr eine Anspielung auf den realen Vorfall um Defoes satirischen Artikel „The Shortest Way of Dissenters“ (1702) gemacht. Seine Satire wurde damals missverstanden30, verursachte eine Anklage „wegen Verleumdung und Volksverhetzung“31 und endete – so wie Mister Pum es fordert - „in Ketten“ (S. 17). Allerdings ist der ungnädige Herrscher kein König gewesen, sondern eine Königin - Queen Anne.

2.2 Forsters Verwendung historischer Realität für seine Fiktion

„Aristoteles folgend, hat man Dichtung oft bestimmt durch Abgrenzung vom Paradigma der Geschichtsschreibung. Gemeinsam ist die Sprach-, die Erzähl­form. Dichtung erzählt erfundene, Geschichtsschreibung wirkliche Begeben­heiten. Nun ist diese Unterscheidung so zwingend nicht“32, denn

„Nach herrschender Auffassung gibt es keine strukturell notwendigen Unter­schiede zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Werken. […] Manchmal schaffen textexterne Merkmale Klarheit: Paratexte auf der Titelseite, wie Genrebezeichnungen „Erzählung“ oder „Roman“, weisen einen Text als fiktional aus […].“33

Insofern signalisiert Forster mit dem Titelzusatz „Eine Erzählung“ bereits von Anfang an, dass es sich um eine dichterische Fiktion und nicht um eine historisch-biographische Anekdote aus dem Leben des Schriftstellers Daniel Defoe handelt.

Doch aufgrund von Referenzierungen auf die Realität außerhalb des Textes bleibt dem Leser gegenwärtig, dass Forster sich auf den „echten“, den realen Schriftsteller und sein real existierendes Werk „Robinson Crusoe“ bezieht. Denn

„Trotz der Fiktionalisierung des in den fiktionalen Zusammenhang eingehenden faktischen Elements, bleibt in der Rezeption auch die reale Bezugsgröße des aus dem faktischen Zusammenhang in den fiktionalen Text Übernommenen bestehen, in unserer „Kenntnis davon, daß sie [die Figuren, Anm. d. V.] historische, also reale Personen verkörpern“ [...]. Unser Lese- und Interpretationsverhalten schließt diese Bezugsgröße nie ganz aus, und das „Prinzip der minimalen Abweichung“ macht sich dies als Erklärungsangebot zunutze.“34

So wie es in Klügers „Gelesene Wirklichkeit“35 darum geht, ob die Historie Stoff und Kulisse für Fiktionen bzw. Dichtungen bietet oder ob die Dichtung der Historie hilft, ins Bewusstsein zu gelangen, verstanden zu werden und Bedeutung zu erhalten, so stellt sich auch bei Forsters Erzählung die Frage, warum er eine reale Person im Figuren-Personal unterbringt, ohne sich an deren dokumentierte Biographie zu halten.

Liebs äußert sich dazu so:

„Diese scheinbare Authentizität stellt sich jedoch als erzähltechnischer Formalismus heraus, das heißt, eher als Vorwand für historisierende Genre­malerei denn als funktionales Element des Geschehens. […] die Kompilation einer ganzen Fülle von widrigen Umständen offenbart den Wunsch des Verfassers, [die Leser] einen Blick 'hinter die Kulissen' tun zu lassen, sie mit den tragischen persönlichen Bewandtnissen bekanntzumachen, die den entstehungs-geschichtlichen Hintergrund eines so optimistischen, idolträchtigen Werks wie des 'Robinson' angeben können.“36

Eine solche Zielstellung, mit dem Auftritt einer realen Person in einer fiktiven Anekdote das Interesse beim Leser zu wecken, birgt aber die Gefahr in sich, ein falsches Wirklichkeitsbild vom Robinson-Schöpfer zu bekommen.

„[…] hier wird eine ganze Epoche mitverlangt und geschildert, und […] birgt die Gefahr, dass man dem Romancier seine Darstellung glaubt; wenn er schweift und erfindet, entsteht ein schiefes Bild von einem Zeitalter im Kopfe des Lesers […].“37

Forsters Text darf Ansatzpunkt sein, soll aber nicht die eigentliche Biographie-Lektüre ersetzen.

Abgesehen von der Tatsache, dass auch Historiker in einem gewissen interpretatori­schem Rahmen agieren, sodass sich Differenzen zwischen verschiedenen Biographien über dieselbe Person ergeben können38, zeigt der o.g. Vergleich von Defoes historischer Biographie und Forsters Darstellung einer gleichnamigen Figur einige wesentliche Unterschiede zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

So recht Liebs auch damit hat, bei Forster von einer „hartnäckige[n] Entstellung der zeitgenössischen Realität“39 zu sprechen, so unrecht hat sie mit ihrer Behauptung es gäbe keinerlei Hinweise auf Defoes Leben und Schaffen außer einer Zeit- sowie Orts­angabe und der Thematik seines berühmtesten Werkes40: „Die Stürme um dein Leben waren noch fürchterlicher als die, welche deinen Robinson einst auf die Insel San Fernando verschlugen“ (S. 70). Diese 'Stürme' werden nicht weiter spezifiziert, aber es deutet an, dass es nicht nur um das eine von Forster erzählte, fiktive Unglück des gestohlenen Manuskriptes geht.

Es wird deutlich, dass eine gedankliche Gleichsetzung grundsätzlich gewollt ist, sich aber nicht stringent durchsetzen muss. Dass Forster keine Wiedergabe biographisch-historischer Wirklichkeit im Sinn hatte, zeigt sich in seinen eigenen Anmerkungen über das Zustandekommen des Stücks. Einerseits macht er deutlich, dass er fiktionalisierte:

„eine Jugendausgabe des Robinson Crusoe [...] und fand darin eine kurze Lebensbeschreibung des Dichters. […] Unter diesem Eindruck war, wie aus einer Eingebung, in mir das Stück „da“. Ich […] schrieb es nieder, so, wie es vorliegt. Alles übrige ist meine Erfindung.“41

Andererseits lassen Forsters Aussagen vermuten, dass er nicht eingehend recherchiert hatte, sondern nur von einer „dürftige[n] Lebensbeschreibung des Dichters“42 ausging und sie als Inspiration nutzte um mittels der Popularität von Werk und Autor seiner Intention Ausdruck zu verleihen:

„Zu gleicher Zeit bewegte mich das Schicksal eines einst angesehenen Schriftstellers, für den gesammelt und gebettelt wurde. Der Gedanke, daß für unverschuldet-verarmte alternde Schriftsteller der Staat sorgen müsse, lag mir so sehr am Herzen, daß ich ihm durch die Gestalt des Königs Nachdruck verlieh.“43

Forster will keine konkrete Biographie wiedergeben. Er erzählt nichts Reales, sondern 'nur' etwas Realistisches und so verflechtet er Wirklichkeit mit Fiktion.

Seine Dichtung ist nach der Theorie von Aristoteles also keine Lüge, weil es keine „mimetische Abbildung der Wirklichkeit sei“44, wie es Platon den Dichtern zum Vor­wurf macht45, sondern „die Darstellung von Möglichkeiten der Wirklichkeit nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit“46:

„der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. […] die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“47

So gilt Forsters Aufruf „Robinson soll nicht sterben“ nicht nur dem Schriftsteller Defoe und seinem Werk, sondern allen Schriftstellern, allen literarischen Werken: „Aus dem Bild eines Menschen wird das Gleichnis einer Menschenart […]“48, denn

„Das Denkmögliche lässt Erkenntniszuwachs zu. Poesie hat einen eigen­ständigen, das rein Faktische übersteigenden Wahrheitsanspruch. Gegenstand der Dichtung ist nicht die historische Faktizität, sondern die Gesetzmässigkeit menschlichen Handelns. Damit wird der Wirklichkeits-bezug der Dichtung allgemeiner als in der Geschichtsschreibung.“49

Aufgrund der Distanz von über 200 Jahren zwischen Defoes Lebenszeit und dem Erscheinen von „Robinson soll nicht sterben“ nutzt Forster historische Vagheiten bzw. auch die weitgehende Unkenntnis des durchschnittlichen Lesers bezüglich Defoes Biographie um nicht dokumentierte Lücken der historischen Wirklichkeit mit Fiktion auszufüllen. Er nimmt Pauschalisierung, Reduzierung und Veränderung der historischen Wirklichkeit in Kauf, um seine Aussage zur gegenwärtigen Wirklichkeit zu verdeutlichen. Dadurch verlängert Forster die 'Existenz' des Schriftstellers Defoe über dessen historische Lebenszeit hinaus, indem er Defoes wirkliches Dasein durch ein fiktionales Dasein ergänzt.

Aufgrund dieser doppelten Existenz in Wirklichkeit und Fiktion kann man Liebs Ansicht zustimmen, Forster bezwecke mit der fiktionalisierten Darstellung eines realen Schriftstellers „ein überdimensioniertes Persönlichkeitsbild“50 zu schaffen. Doch nicht um in Ehrfurcht davor zu „verstummen“51, sondern um den Schwerpunkt seiner Intention, die grundsätzliche Bedeutung literarischen Schaffens, zu betonen.

Doch wenn Liebs behauptet, es ginge Forster um ein „privilegiertes Außenseitertum des Schriftstellers“52, so ist das eine spekulative Interpretation. Denn Forsters Erzählung endet damit, dass nicht nur der Schriftsteller, sondern auch die Kinder, also die Leser, „Freunde des Königs“ sind. Und auch wenn die Jungen nicht mit ins Schloss ziehen, so doch neben Defoe auch Maud und ihre Mutter.

3. Der König: Fiktion ist realistisch, märchenhaft, symbolisch

3.1 Eine politische Figur

Angesichts der Angaben von Zeit und Ort, die Authentizität schaffen, sowie der dem Leser aus seiner Wirklichkeit bekannten Park-Szenerie von Spaziergängern und spielenden Kindern kann man Liebs nur zustimmen, wenn sie behauptet „Es beginnt wie eine realistische Erzählung, die sogar in der heutigen Zeit spielen könnte (hätte England noch einen König statt einer Königin) [...]“53. Forsters Fiktion erzählt von Situationen und Ereignissen, denen zwar keine historisch-reale Grundlage nachgewiesen, aber dennoch vom Leser bis zu einem bestimmten Punkt der Erzählung als realistisch bzw. wirklichkeitsnah anerkannt werden kann. Bevor die kleine Maud vor dem Schloss auf den König trifft, bietet die Erzählung dem Leser Alltagsszenen diverser bekannter Beziehungsformen: alter Mann mit „Enkelin“ (Defoe und Maud), reicher Junggeselle mit seiner Haushälterin (Herodes Pum und Fräulein Hackit), Kinder unter sich (die Jungen um Jim Drinkwater), Kinder und ihre Eltern (Jim Drinkwaters Familie).

Liebs geht sogar so weit zu sagen, dass Forster mit dem Streit um die Parkbank, wenn auch nur eine „bescheidene“ so doch immerhin eine „Sozialkritik anklingen läßt“54. Doch was Liebs bei Forsters Erzählung als Sozialkritik einer „anmaßenden Schein­berechtigung der privilegierten Stände“55 verstehen will, basiert vielmehr auf einer kontrastreichen Zeichnung der „bösen“ und der „guten“ Figuren. Hier geht es um keine historisch festgelegte Problematik, sondern um ein allgemeines Thema, mit dem sich der Leser identifizieren kann: „lächerlich bösartige Borniertheit“56 ist ein zeitloses, wirkliches Phänomen.

[...]


1 Obwohl Forster das gleichnamige und inhaltlich weitgehend identische Drama zuerst (1932) veröffentlichte, soll hier nur die Erzählung bearbeitet werden. Denn das Drama unterliegt in seiner narrativen Form anderen Bedingungen und trägt vor allem noch weitaus komplexere Verbindungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit in sich, die hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein sollen.

2 Vgl. Sprecher, Thomas: Literatur und Verbrechen. Kunst und Kriminalität in der europäischen Erzählprosa um 1900. Vittorio Klostermann. Frankfurt a. M. 2011 (= Forschung zur Geschichte europäischen Geisteslebens. Das Abendland Neue Folge 36). S. 144.

3 Ebd.

4 Vgl. Gabriel, Gottfried: Fiktion. Weimar, Klaus (Hrsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Walter de Gruyter. Berlin. 2007. Band 1 (A-G). S. 594-598. Hier S. 594.

5 Ebd. S. 595: „Dasein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren.“

6 Ebd.: „Sosein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt (zwischen als existierend anerkannten Objekten) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist.“

7 Ebd.: „Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt in bestimmter Weise präsentiert (z. B. behauptet), obwohl er dieses gar nicht tut.“

8 Ebd. S. 594f.

9 Vgl. Martinez, Matias, Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. C.H. Beck. München. 2003. S. 10.

10 Vgl. Forster, Friedrich: Robinson soll nicht sterben. Eine Erzählung. Reclam. Stuttgart. 2005 (= Universal-Bibliothek, 7859). Die Quellenangabe aller weiteren, aus diesem Werk verwendeten Zitate erfolgt direkt im Text durch die in Klammern aufgeführte Seitenzahl.

11 Vgl. Moore, John Robert: Daniel Defoe. Citizen of the Modern World. The University of Chicago Press. Chicago. 1958. S. 339.

12 Vgl. Riehle, Wolfgang: Daniel Defoe. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg. 2002 (= Rowohlts Monographien, 50596). S. 140.

13 Vgl. Riehle. S. 141.

14 Vgl. Defoe, Daniel: (Letter) to Henry Baker. 12 August 1730. In: Healey, George Harris (Hrsg.): The Letters of Daniel Defoe. Clarendon Press. Oxford. 1955. S. 473-476. Hier S. 474.

15 Vgl. Moore. S. 325f.

16 Ebd. S. 333.

17 Vgl. Riehle. S. 141.

18 Vgl. Wülker, Richard: Geschichte der Englischen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Verlag des Bibliographischen Instituts. Leipzig und Wien. 1907. Band 2. S. 32-38. Hier S. 36.

19 Vgl. Healey. S. 474.

20 Ebd. und vgl. auch Lee, William: Daniel Defoe: His Life, and recently discovered writings. John Camden Hotten, Picadilly. London. 1869. Band 1 (The Life of Daniel Defoe). S. 470.

21 Vgl. Backscheider, Paula R.: Daniel Defoe. His Life. The Johns Hopkins University Press. Baltimore, London. 1989. S. 496.

22 Vgl. Moore. S. 82.

23 Vgl. Wülker. S. 33 und Riehle. S. 48.

24 Vgl. Lee. S. 454.

25 Vgl. Kalb, Gertrud: Daniel Defoe. Universitätsverlag Carl Winter. Heidelberg. 1985. S. 140f.: Charles II. 1660-1685, James II. 1685-1688/89, William III. 1688/89-1702, George I. 1714-1727, George II. seit 1727.

26 Ebd.: Anne I. 1702-1714.

27 Vgl. Riehle. S. 29.

28 Ebd.

29 Vgl. Breuer, Horst: Daniel Defoe. In: Böker, Uwe; Breuer, Horst; Breuer, Rolf: Klassiker der englischen Literatur. Von Geoffrey Chaucer bis Samuel Beckett. ECON Taschenbuch Verlag. Düsseldorf. 1985 (= Hermes Handlexikon, 1880). S. 63-69. Hier S. 67.

30 Vgl. Riehle. S. 37.

31 Ebd. S. 41.

32 Vgl. Sprecher. S. 173.

33 Ebd. S. 193f.

34 Vgl. Jacoby, Nathalie: Mögliche Leben. Peter Lang. Bern. 2005 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I Deutsche Sprache und Literatur, Band 1851). S. 135f.

35 Klüger, Ruth: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Wallstein Verlag. Göttingen. 2006.

36 Vgl. Liebs, Elke: Die pädagogische Insel. Studien zur Rezeption des Robinson Crusoe in deutschen Jugenbuchbearbeitungen. Metzler. Stuttgart. 1977. S. 195f.

37 Vgl. Ludwig, Emil: Historie und Dichtung. 1936. In: Fetz, Bernhard; Hemecker, Wilhelm (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar. Walter de Gruyter. Berlin, New York. 2011. S. 133-154. Hier S. 136.

38 Vgl. Ludwig. S. 140: „Da alle Darstellung, gleichviel ob Historie oder Dichtung, eine Auslese bedeutet und selbst die neuesten Versuche, einen Tag durch tausend Seiten ungekürzt zu beschreiben, in Wahrheit eine solche Auslese enthält, so bleibt sie subjektiv, und kein Richter könnte entscheiden, welche der Wahrheit den Fakten näher kommt.“

39 Vgl. Liebs. S. 197.

40 Ebd.

41 Vgl. Penzoldt, Ernst: Vorwort. In: Forster, Friedrich: Robinson soll nicht sterben. Stück in drei Akten. Verlag Kurt Desch. Wien u.a. 1955. S. 7-11. Hier S. 11. Bei dem Vorwort handelt es sich um einen von Ernst Penzoldt 1932 verfassten „Theaterbrief“ (Vgl. Penzoldt, Ulla; Michels, Volker (Hrsg.): Ernst Penzoldt. Leben und Werk in Texten und Bildern. Insel Verlag. Frankfurt a. M. 1988. S. 79.).

42 Vgl. Forster, Friedrich: Warum schrieb ich „Robinson soll nicht sterben“. In: Forster, Friedrich: Robinson soll nicht sterben. Stück in drei Akten. Verlag Kurt Desch. Wien u.a. 1955. S. 94-96. Hier S. 96.

43 Vgl. Penzoldt. S. 11.

44 Vgl. Sprecher. S. 178.

45 Ebd. S. 186.

46 Ebd. S. 178.

47 Ebd. (zitiert nach Aristoteles)

48 Vgl. Ludwig. S. 153.

49 Vgl. Sprecher. S. 179.

50 Vgl. Liebs. S. 197.

51 Ebd.

52 Ebd.

53 Ebd. S. 195.

54 Ebd. S. 198.

55 Ebd.

56 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Robinson kann nicht sterben. Das Spiel von Fiktion und Wirklichkeit bei Friedrich Forster
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Bachelor-Abschlussarbeit im Bereich Neue Deutsche Literatur
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
38
Katalognummer
V1023191
ISBN (eBook)
9783346419835
ISBN (Buch)
9783346419842
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Robinson, Crusoe, Forster, Märchen, Fiktion, Defoe, Fiktionsvertrag, Medium Buch, Wirklichkeit, innerfiktional, außerfiktional
Arbeit zitieren
Anja Keller (Autor:in), 2013, Robinson kann nicht sterben. Das Spiel von Fiktion und Wirklichkeit bei Friedrich Forster, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1023191

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