Der homo narrans und Mythen des Coronavirus


Studienarbeit, 2021

7 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe

"Erzählung [...] ist einfach da, so wie das Leben".1 Mit diesem Satz begründet Roland Barthes unter anderem, warum wir vom Menschen neben den Bezeichnungen als homo sapiens oder homo oeconomicus auch vom ‘homo narrans’ sprechen können. Seine Verwandtschaft zum ‘homo ludens’ erklärt Johan Huizinga damit, dass die "großen ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens [...] alle bereits von Spiel durchwoben" seien.2 Im Folgenden möchten wir genauer darauf eingehen, was sich hinter dem spielenden bzw. erzählenden Menschen verbirgt, wobei wir uns vor allem auf die von Albrecht Koschorke in seinem Buch "Wahrheit und Erfindung" aufgestellten Thesen stützen. Anhand eines aktuellen Beispiels zeigen wir, warum der homo narrans Verschwörungstheorien entwickelt und wie diese in Zusammenhang zur Kontingenzbewältigung stehen.

Der Begriff des ‘homo ludens’ stammt aus dem lateinischen und meint übersetzt „spielender Mensch“. Die Grundidee des ‘homo ludens‘ ist, dass der Mensch seine kulturellen Fähigkeiten durch das Spielen erworben habe. Das Spiel präge den Menschen. Mittels der erlebten Erfahrungen werde die Persönlichkeit gebildet. Die wichtigsten Eigenschaften des Spiels seien: Freiheit, Uneigentlichkeit, Außergewöhnlichkeit, Regelbindung, Vergemeinschaftung, Festlichkeit und ein kollektives Gefühl. Dadurch, weil das Spiel nach Meinung des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga eine „eigene und unbedingte Ordnung“ habe, ist es laut Koschorke auch auf das poetische Geschichten-Erzählen anwendbar. Es stelle „eine freie Handlung“ dar, ´die als nicht so gemeint und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann´3, es sei in der aktuellen Erzählsituation gemeinschaftsstiftend und dabei Quelle einer außeralltäglichen, nämlich ästhetischen Lust.”4

Daraus lässt sich eine Verwandtschaft des ‘homo narrans’ mit dem ‘homo ludens’ herleiten. Viele Merkmale wie beispielsweise ein besonderer Kleidercode oder das Zusammengehörigkeitsgefühl kennzeichneten auch die Bürokratie oder andere institutionelle Gebilde. Daran erkenne man laut Koschorke, das Huizingas „kategorische Trennung“ zwischen sozialer Spielform und „materieller Nützlichkeit oder Notwendigkeit“ nicht haltbar sei. Der Begriff des Spiels steht beim ‘homo ludens’ im Vordergrund. Laut Huizinga begreife man durch das Wort selbst „die Einheit und Untrennbarkeit von Glauben und Nichtglauben, die Verbindung von heiligem Ernst mit Anstellerei und ‚Spaß‘“ am besten.5

„Ich schlage vor, den Menschen neu als ‘homo narrans’ zu verstehen, dass alle Formen menschlicher Kommunikation als Erzählungen angesehen werden – als symbolische Interpretationen der Welt, die zu bestimmten Zeiten entstehen und durch Geschichte, Kultur und Person geprägt sind; dass spezifische Formen des Diskurses als ‘gute Gründe’, als narrative Rechtfertigungen bestimmter Haltungen und Handlungen betrachtet werden sollten; und dass alle Menschen von Natur aus über eine Erzähllogik verfügen, nach welcher die menschliche Kommunikation beurteilt wird.“ 6 Die Figur des ‘homo narrans’ zeigt das Erzählen als ein menschliches Grundbedürfnis, wobei sich ein Selbst-Welt-Verhältnis konstituiert. Erzählen wird als subjektivierende Kulturtechnik empfunden, die sich vor allem vor dem Hintergrund digitaler Kulturen entwickelt und Subjekttheorien maßgeblich beeinflusst. Albrecht Koschorke entwirft, ausgehend von seiner Einordnung der Erzählung als eine anthropologische Universale, seine Grundzüge einer „Allgemeinen Erzähltheorie“. Eine theoretische Grundlage legt er im ersten Kapitel, indem er die Konzepte des ´homo narrans´ und ´homo ludens´ zusammenführt. Er revidiert das unzureichende Konzept des ‘homo narrans’, wonach Erzählungen immer komplexiztätsreduzierend und sinnstiftend seien und vermag außerdem eine gegenläufige Form des Erzählens in das Konzept zu integrieren.7 Dabei entfernt sich Koschorke von seinen Vorgängern wie Gérard Genette, welche komplexe strukturalistische Systematiken entwarfen, um die Erzählperspektiven in literarischen Werken bestimmen zu können und erzähltheoretische Analysen zu konsultieren. Es geht es ihm um die Erweiterung von Mythen und Märchen, über die Literatur hinaus in alle Lebensbereiche. Dabei bildet Koschorkes Frage nach der Funktion und Intention des Erzählers den Grundstein und er lehnt anthropologische Theorien, welche auf ein therapeutisches Erzählen, Sinn stiftenden, Ängste überwindenten, symbolische Orientierung und spielerisch umgehenden beruhen, einseitig ab. Genau diese Unzuverlässigkeit der Narration bildet den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung zwischen Wahrheit und Erfindung, Sinn und Nicht-Sinn, Mythos und Logos und fact und fiction. Dieses Situierte widerspricht jeder Erzählung durch ihre angeborene Heterogenität dem einheitlichen Konzept des ‘homo narrans’, welcher sich in seiner Welt glaubhafte Geschichten zusammenreimt. Das erfolgreiche Funktionieren und Rezipieren einer Geschichte hängt nicht an Dichotomien, wie wahr und falsch oder real und irreal, welche einer Geschichte die Glaubhaftigkeit entzieht. Vor diesem Hintergrund postuliert der Autor einen “narrativen Weltzugang” als einen Untersuchungsgegenstand, wobei die Analyse auf die Erzählung gerichtet ist und nicht auf ein “Ideensystem, Diskurs oder gar symbolische Ordnung”. Der ‘homo narrans’ sei daher in der Lage, die Differenz zwischen den Dichotomien zu erkennen, auszusetzen, aufzuheben und auch damit zu spielen. Die Erzählung kann auch zur narrativen Desorientierung führen, da das ausfabulieren von Geschichten irreleite, der ‘homo narrans’ kann dabei Wirklichkeit erkennen, sich moralisch zuwenden, aber auch lügen.8

Diese Eigenschaften des ‘homo narrans’ haben sich im Laufe der Evolution nicht verändert. Niklas Luhmann sieht in der Kommunikation, welche mit dem Erzählen zwangsläufig zusammenhängt, das zentrale Moment der Kontingenzbewältigung.9 Kontingenz kommt von dem lateinischen „contingentia“, was „Möglichkeit“ bedeutet, und beschreibt laut Luhmann das mögliche Anderssein von etwas Gegebenem. Koschorke sieht im Geschichten-Erzählen einerseits eine Strategie der Kontingenzbewältigung, gleichzeitig provozieren eine Vielzahl von Erzählungen Kontingenz.10 Motive für den Versuch der Menschen, Kontingenz zu bewältigen, sind laut Koschorke ihre Angst „bloßen Zufällen oder Gesetzmäßigkeiten ohne tieferen Bezug auf ihr Dasein ausgeliefert zu sein“ sowie der Wille, ihre „Lebenswirklichkeit in einen für sie begreiflichen Gesamtzusammenhang einzubetten“.11 Das sehen wir im Alltag unter anderem am Beispiel der Religion, die auf große Fragen wie nach der Entstehung der Welt eine Antwort findet, eine Geschichte erzählt, die sie uns greifbarer macht. Ähnliches finden wir auch in Verschwörungstheorien. Diese werden häufig dann entwickelt, wenn Menschen nach schnellen Lösungen für Probleme suchen. Seit einem Jahr heißt eines dieser Probleme „Coronavirus“, welches sich in wenigen Monaten über den gesamten Erdball verbreitet hat. Unklar ist bis heute, wie sich der Patient 0 mit dem Virus infiziert hat, sodass es nicht lange dauerte bis darüber die verschiedensten Verschwörungstheorien aufgestellt und in Umlauf gebracht wurden. Die wohl bekannteste Verschwörungstheorie stellt die Behauptung auf, das Virus sei in einem Labor in Wuhan gezüchtet und anschließend absichtlich oder unabsichtlich freigesetzt worden.

In Bezug auf unser Thema drängt sich deshalb die Frage auf: Warum erzählt der ‘homo narrans’ etwas, das nicht belegt ist aber, von dem auszugehen ist, dass dieses Narrativ stimmt, weitreichende Folgen haben kann? Eine Erklärung können die damaligen Umstände sowie einige Eigenschaften des ‘homo narrans’ liefern. Gerade zu Beginn der Pandemie sorgte die große Unwissenheit über das Virus seitens Politik und Wissenschaft in der Bevölkerung laut Matthias Eder für „ein Gefühl von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit“. Die Bevölkerung sah sich „einem unsichtbaren, übermächtigen Feind gegenüber“. Verschwörungstheoretiker sehnen sich nach Klarheit, sie verabscheuen Uneindeutigkeiten und das Gefühl eigener Machtlosigkeit. Hier versucht der ‘homo narrans’ eine möglichst schnelle Lösung für eine wahrgenommene Gefahr zu finden und so „die Komplexität der Ereignisse zu reduzieren und sie in ein kohärentes Weltbild zu integrieren“. Er stellt also Thesen über die Verbreitung des Coronavirus auf, um die vorherrschende Kontingenz zu bewältigen. Damit erfüllt die Erzählung (der Verschwörungstheorie) in diesem Fall tatsächlich die von Koschorke genannten „Schlüsselkategorien: Bezwingung von Angst, Sinnstiftung [und] Orientierung“.12 13

[...]


1 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 9

2 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 13

3 Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. ,Reinbek 1961 S.20

4 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 13-14

5 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 14-15.

6 https://denkbrocken.com/2020/08/26/homo-narrans/ (21.01.2021)

7 https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/friedrichschlegel/aktivitaeten/Workshops_Tagungen_Vortraege/2018-04-26-Homo-narrans/index.html (21.01.2021)

8 http://unserezeit.eu/2014/01/30/die-macht-der-geschichten/ (21.01.2021)

9 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, S. 152.

10 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 11

11 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 11

12 Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2. Auflage Frankfurt/M. 2012, S. 10

13 https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748922216.pdf?download_full_pdf=1 (23.01.2021)

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Details

Titel
Der homo narrans und Mythen des Coronavirus
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Grundfragen literarischer Kommunikation
Note
1,7
Jahr
2021
Seiten
7
Katalognummer
V1024547
ISBN (eBook)
9783346421227
Sprache
Deutsch
Schlagworte
homo narrans, Corona, Mythen, Corona Mythen, homo ludens, Johan Huizinga, Koschorke, Niklas Luhmann, Kontingenz, Kontingenzbewältigung
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Der homo narrans und Mythen des Coronavirus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1024547

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