Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Hinführung
1.2. Ziel der Arbeit
2. Das Verhältnis Sozialer Arbeit zur Politik: Auftrag und Abhängigkeit
3. Vergleich und kritische Beleuchtung der Theorien von Silvia Staub-Bernasconi und Albert Scherr in Bezug auf die Soziale Arbeit mit Geflüchteten
3.1. Menschenrechte: Die Berufsethik der Sozialen Arbeit in der Krise?
3.2. Funktion der Sozialen Arbeit (im Kontext staatlicher Regulierung von Geflüchteten)
3.3. Zum professionellen und damit auch politischen Selbstverständnis Sozialer Arbeit
4. Fazit
Literaturverzeichnis:
1. Hinführung
Ende des Jahres 2019 waren über 79,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht (vgl. UNHCR Deutschland, 2021). Die Bilder aus den menschenunwürdigen Flüchtlingslagern auf Lesbos und der Brand in Moria gingen medial um die Welt. Die missliche Lage in den Lagern ist dabei katastrophal und erschreckend, und man stellt sich die Frage der Verantwortung und wie diese Missstände innerhalb der EU überhaupt möglich sein können. Dabei muss man gar nicht so weit blicken, denn auch in Deutschland ist die Unterbringung in Sammelunterkünften gegeben und die Versorgung von Asylsuchenden bietet auch hier immer wieder Stoff für kontroverse Diskussionen. So wird an der deutschen Flüchtlingspolitik und dem daraus resultierenden Umgang mit Geflüchteten nach wie vor viel Kritik geübt, wobei immer wieder auch die Menschenrechtskonformität von Gesetzen und deren Umsetzung in Frage gestellt wird. So werden oft alte Kasernenkomplexe, Plattenbauten oder alte Hochhäuser aber auch Containerunterkünfte als Lager genutzt, die meist am Stadtrand liegen. Menschen, die fliehen und einen Asylantrag stellen, werden zunächst in diesen Gemeinschafts-unterkünften untergebracht. Sie befinden sich dabei aus unterschiedlichsten Gründen in einer prekären aufenthaltsrechtlichen Situation. Die Lebensbedingungen in Sammel-unterkünften sind für die Geflüchteten dadurch oft mit zahlreichen Auflagen und Einschränkungen, wie minimale Sozialleistungen oder eine eingeschränkte Gesundheits-versorge verbunden, die alle zentralen Lebensbereiche betreffen. Damit werden die Geflüchteten nicht nur stark durch rechtliche Vorgaben eingeschränkt, sondern in ihrer gesamten Handlungsfähigkeit im Alltagsleben beschränkt.
Das Asyl- und Aufenthaltsrecht befindet sich in ständiger Bewegung, durch das Erlassen von neuen Gesetzen oder Reformen, die sich auf die Praxis auswirken. Soziale Arbeit agiert hier im Spannungsfeld wechselnder politischer und auch gesellschaftlicher Diskurse. Diese stetigen Änderungen und Anpassungen machen dieses Feld sehr unübersichtlich und komplex und erschweren damit auch die Auseinandersetzung der Flüchtlingsthematik in Bezug auf die Soziale Arbeit. Denn gerade für die Soziale Arbeit kann die Arbeit mit Geflüchteten als wachsendes Betätigungsfeld gesehen werden, dass zusätzlich zum rechtlichen Konstrukt von seiner großen Heterogenität der Geflüchteten geprägt ist, die jeweils unterschiedliche Geschichten, Problemlagen, Wünsche und Ziele mit sich bringen. Die Soziale Arbeit mit Geflüchteten ist stark durch nicht erfüllte Bedürfnisse, Menschenrechtsverletzungen und Unsicherheit geprägt und wird häufig unter schwierigen und häufig auch sehr ungeregelten Bedingungen geleistet (vgl. ebd. S. 4). Sie fungiert inmitten dieser Umstände mit ihrem Berufsethos der „universalen" Hilfe einerseits und wird zugleich durch die vorherrschenden Rechte der Sozialpolitik beschränkt. Eine grundlegende Herausforderung für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten besteht daher in der Klärung ihrer Möglichkeiten und Grenzen, inwieweit sie politisch zuständig und moralisch verantwortlich ist (vgl. Scherr, 2018, S.38).
1.2. Ziel der Arbeit
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist demnach die Frage nach der Positionierung der Sozialen Arbeit mit dem Fokus auf die Verstrickung in Machtstrukturen. Dabei sollen vor allem grundlegende Spannungsfelder in den Blick genommen werden, in denen sich Soziale Arbeit im Zusammenhang mit ihrer wohlfahrtsstaatlichen Anbindung befindet. Nimmt man die normativen Selbstzuschreibungen der Sozialen Arbeit in den Blick, die auch mit der Bemühung um ein professionelles Selbstverständnis einhergehen, zeichnet sich eine Diskrepanz zwischen dem professionellen Selbstkonzept und ihrer Rolle im oft eher eingeschränkten Umgang mit Geflüchteten ab. Die Arbeit geht demnach der Frage nach, inwieweit die Soziale Arbeit ein politisches Mandat, ein politisches Selbstverständnis hat. Die Handlungstheorie nach Silvia Staub-Bernasconi und die systemischen Überlegungen nach Albert Scherr in dem Zusammenhang mit Geflüchteten werden im Zuge dieser Arbeit herangezogen und unter ausgewählten Aspekten vergleichend erörtert, um der Frage nach dem politischen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit nachzugehen. Zunächst soll jedoch noch einmal umfassender verdeutlicht werden, wie die Soziale Arbeit im Verhältnis zu Politik zu verorten ist, und was in dieser Ausarbeitung unter einem politischen Mandat zu verstehen ist. Daran anschließend werden die Theorien von Bernasconi und Scherr unter den Aspekten der Menschenrechte, die Funktionen der Sozialen Arbeit und dem eigenen Selbstverständnis erörtert. Im Fazit sollen die beiden Positionen der theoretischen Überlegungen zum politischen Selbstverständnis zusammengefasst werden.
2. Das Verhältnis Sozialer Arbeit zur Politik: Auftrag und Abhängigkeit
Soziale Arbeit bezieht ihre grundlegenden Handlungsdimensionen aus dem spezifischen Spannungsverhältnis des doppelten Mandats. Dies beschreibt ihre Arbeit im Kontinuum zwischen Hilfe und Kontrolle zweier Auftragsebenen. Das AdressatenIn-Mandat, als erste Ebene, verpflichtet die Soziale Arbeit zur Unterstützung und Realisierung von Inanspruchnahme und Rechten der Menschen im Rahmen der Hilfe, um Perspektiven für gelingende Lebensbewältigung zu entwickeln. Andererseits werden die Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit durch die Politik als zweite Auftragsebene gestellt. Demnach ist die Soziale Arbeit einem gesellschaftlichen Mandat verpflichtet und vertritt die Anforderungen und Erwartungen der politischen Vorgaben für die Gesellschaft in Form sozialer Anpassungsbereitschaft. Damit ist sie in die strukturellen Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Systems eingebunden und normativ verpflichtet, neben den Gesetzen auch Werte und Normen zu vertreten. Sozialpolitische Entscheidungen des Wohlfahrtsstaats geben also dementsprechend vor, welche finanziellen Ressourcen in der Sozialen Arbeit zur Verfügung stehen, welche Gesetze, Verordnungen und Richtlinien ihre Handlungs-spielräume definieren und bestimmen, was die soziale Arbeit in Bezug auf Hilfe und Kontrolle zu tun hat (vgl. Benz et al., 2013, S. 8-9). Dieser strukturelle Konflikt des doppelten Mandats lässt sich an der Flüchtlingsthematik besonders deutlich darstellen. Soziale Arbeit ist auf die Herausforderung der Hilfen für Geflüchtete schlichtweg schlecht vorbereitet, da sie theoretisch und praktisch eben genau in diese „nationalstaatlichen Paradigma verhaftet ist“ (Scherr, 2018, S. 39). An dieser grundsätzlich nicht vereinbaren Antinomie der Sozialen Arbeit setzt auch die Fragestellung nach dem politischen Mandat an. Gerade in der Arbeit mit Geflüchteten kann es zur Widersprüchlichkeit zwischen den Interessen im Einsatz für die Geflüchteten als AdressatenIn und den humanitären und menschenrechtlichen Überzeugungen der Sozialen Arbeit einerseits und der vorherrschenden primär national orientierten Sozialpolitik andererseits kommen. Der Wunsch nach Ausbildung, Arbeit und Wohnung steht im Kontrast zur Nichtintegration, Lagerunterbringung, Duldungen und Abschiebungen. Im Rahmen ihrer Arbeit werden Sozialarbeitende in Gemeinschafts-unterkünften in Tätigkeiten verwickelt, die mandatswidrig sind, also im Widerspruch zu ihrem beruflichen Ethos stehen. Etwa durch die Mitwirkung bei Abschiebungen oder dem Melden von Abwesenheiten in Unterkünften (vgl. Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften, 2016, S. 5). Versteht sich die Soziale Arbeit als professionelle Handlungswissenschaft, kann sie sich jedoch nicht nur auf die Vorgaben der staatlichen Politik und der Sozial- sowie der Flüchtlingsrechte beziehen (vgl. Staub- Bernasconi, 2007b, S. 3). Vielmehr muss geklärt werden, was mit Blick auf die Fachlichkeit und ethischen Grundsätze der Sozialen Arbeit angemessene Formen von Hilfe sein können (Scherr, 2018, S. 38).
3. Vergleich und kritische Beleuchtung der Theorien von Silvia Staub-Bernasconi und Albert Scherr in Bezug auf die Soziale Arbeit mit Geflüchteten
Im Folgenden werden die theoretischen Überlegungen von Staub-Bernasconi und Scherr hinzugezogen und diese hinsichtlich bestimmter auf die Arbeit mit Geflüchteten abgeleiteter Aspekte analysiert und kontrastiert. Im Zusammenhang mit der Arbeit mit Geflüchteten haben beide dieser systematisch orientierten Theorien dabei besonderen Einfluss und einen hohen Stellwert in Bezug auf die Frage nach dem politischen Selbstverständnis, da sich beide mit der Positionierung der Sozialen Arbeit in Machtgefügen und den Spannungsverhältnissen befasst haben und darüber hinaus auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit sowie Inklusions- und Exklusionsbedingungen eingehen. In diesem Zusammenhang soll nun auf den ersten Aspekt des Vergleichs der Theorien eingegangen werden. Der Bezug der Sozialen Arbeit zu den Menschenrechten.
3.1. Menschenrechte: Die Berufsethik der Sozialen Arbeit in der Krise?
Silvia Staub-Bernasconi bezieht in ihrer systemischen Theorie zur Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft die Menschenrechte als wichtigen Aspekt für das Handeln mit ein und knüpft damit unmittelbar an den Konflikt des doppelten Mandats an. Sie erweitert mit dem Modell der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession das Spannungsverhältnis um ein weiteres menschenrechtsbasierendes Mandat. Dieses geht einerseits von der Wissenschaftsbasierung der Sozialen Arbeit aus, besteht demnach aus wissenschaftlich fundierten Erklärungsmodellen und Handlungstheorien und bezieht andererseits einem auf den Menschenrechten begründeten verbindlichen Berufskodex, also berufsethische Vorgaben mit ein (vgl. Staub-Bernasconi, 2008, S. 22). Dieser Ethikkodex beschreibt „die regulativen Ideen, nach welcher Problemdefinition, -erklärungen und -bewertungen und Veränderungsprozesse seitens der AdressatInnen wie der Träger beurteilt werden müssen“ […] und bildet somit ein „begründetes Referenzsystem, dass der Sozialen Arbeit eine kritisch- reflexive Distanz gegenüber den AdressatenInnen, der Politik, den Trägern/Finanzgebern ermöglicht […]“ (Staub-Bernasconi, 2007a, S. 13). Eine Soziale Arbeit, die also auf die Erweiterung der Handlungsfähigkeit und an den Menschenrechten ausgerichtet ist, wird von fachlichem Wissen über die Gesetzgebung und in der Arbeit mit Geflüchteten auch über die Regelungen des Asyl- und Sozialrechts sowie den internationalen menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Kenntnissen getragen. Staub-Bernasconi geht dahingehend noch weiter, - was gerade in Bezug auf Geflüchtete relevant wirkt -, indem sie betont, dass eine Gesellschaft nur dann als gerecht bezeichnet werden könne, wenn diese Gerechtigkeit sich nicht nur auf die Nationalstaatlichkeit bezieht, sondern darüber hinausgeht, andere miteinbezieht und Ausbeutung von Menschen und Ressourcen grundsätzlich verhindert (vgl. Staub-Bernasconi, 2015, S.82). Sie muss sich also nach richtungs- und handlungsleitenden, allgemein verbindlichen moralischen Werten, d.h. den Menschenrechten, orientieren (vgl. Leideritz, 2016, S. 41).
Nach Staub-Bernasconi löst ihr Triple-Mandat demnach das Problem der fremd-bestimmten Auftragserteilung, da es auf der ethischen und wissenschaftlich basierten Grundlage ermöglicht, selbstbestimmter aktiv zu werden oder gar Aufträge von Institutionen oder Trägern zu verweigern (vgl. ebd.). Das Durchdenken des sozialpädagogischen Handelns aus menschenrechtlicher Perspektive ermöglicht mehr Distanz zu den Polen des Kontinuums von Individuum und Gesellschaft (vgl. Staub- Bernasconi, 2018, S. 122). Hieraus wird ersichtlich, dass ihr Ansatz für diese Arbeit nicht nur in Bezug auf die Verknüpfung zu den Menschenrechten bedeutsam ist, es zeichnet sich auch hier ein politischer Aspekt der Sozialen Arbeit im Hinblick auf die Möglichkeit theoretischer und ethischer Gesellschafts- und Trägerkritik ab (vgl. Staub-Bernasconi, 2007a, S. 13). Dieses dritte Mandat lässt sich demnach als ein wesentlicher Teil eines politischen Mandats sehen, da es einen ethischen Maßstab in das professionelle Selbstverständnis bringt.
Albert Scherr baut mit seinen theoretischen Überlegungen durchaus auf Bernasconis Theorie des dritten, menschenrechtlichen Mandats auf, äußert dabei allerdings Kritik bezogen auf die Charakterisierung Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession. Dabei streitet er nicht ab, dass die Menschenrechte eine allgemein wichtige Bezugsnorm der Sozialen Arbeit darstellen und große Relevanz haben, doch kritisiert er besonders das unklare Verständnis der Menschenrechte als Werte und Recht, und äußert dieses Problem besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Menschenrechten und sozialstaatlichen Standards. Denn Menschenrechte verlangen eine Weltpolitik, die den methodologischen Nationalismus, und die mit ihm einhergehenden Abgrenzungen und Denkrahmen überwinden, was wiederum jedoch in Bezug auf die Soziale Arbeit nicht möglich ist, da diese nicht nur aus den Systemen des Staates hervorgeht, sondern zudem auch im Sinne der Mandate davon abhängt (vgl. Scherr, 2018, S. 44). So argumentiert Scherr, im Kontrast zu Staub-Bernasconi, dass die Grundlagen für die Positionierung Sozialer Arbeit eben nur schwer bzw. in einem gewissen Rahmen Prinzipien der Menschenrechte sein können und argumentiert weiter, dass dahingehend ein politisches Mandat unverzichtbar sei und nicht durch moralische Selbstzuschreibung ersetzt werden kann (vgl. Scherr, 2018, S. 39-40). Er stellt klar, dass es aus seiner Sicht einen Bedarf gibt, die eigene Praxis über die Menschenrechte hinaus einzuordnen, ihre Rahmenbedingungen zu verstehen und sich in ihrer gesellschaftlichen Lage zu vergewissern (vgl. Scherr, 2020, S. 328). Dass die Bedeutung der Menschenrechte für die Soziale Arbeit sich erst durch eine Selbstmandatierung ergibt und es sich daher um ein drittes Mandat handelt, welches sich von dem staatlich zugewiesenen Hilfeauftrag unterscheidet, ist zu hinterfragen. So basiert bereits der staatlich zugewiesene Hilfeauftrag immer auf normativen Annahmen, die auf die Menschenrechte Bezug nehmen. Dieses gesellschaftliche Mandat schließt in Deutschland folglich die Menschenrechte in seinen Anforderungen an die Soziale Arbeit bereits mit ein, denn der (National-)Staat beansprucht die Menschenrechte als grundlegend verankerte Werte für das staatliche Handeln (vgl. Scherr, 2020, S. 330).
„Soziale Arbeit wird also nicht einfach durch den Staat ein Mandat zugewiesen; was sie leisten kann und soll, ergibt sich aus dem Zusammenspiel politischer Entscheidungen und rechtlicher Abwägungen, bei denen die Frage, was menschenrechtlich zulässig ist, ein zentraler Gesichtspunkt ist.“ (ebd., S. 330). Durch den Bezug auf die Menschenrechte positioniert sich die Soziale Arbeit innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses, auf eben dieser Grundlage der Anerkennung der Menschenrechte, was die staatliche und politische Anerkennung Sozialer Arbeit zur Durchsetzung der Menschenrechte einschließt. Scherr argumentiert weiter, dass es folglich nicht um ein weiteres drittes Mandat gehe, sondern vielmehr darum, sich durch die eigene fachliche Sicht zu erschließen, was menschenrechtlich notwendig ist, auch über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg, und sich auf dieser Grundlage in politische und auch rechtliche Verhandlungen einzumischen. Hier zeigt sich deutlich, dass die Unterscheidung zwischen einem menschenrechtlichen und einem politischen Mandat unscharf ist. Demnach wäre ein politisches Mandat, neben den bereits dargestellten Charakteristika des dritten Mandats nach Staub-Bernasconi zusätzlich insbesondere durch noch weitreichendere Einflussnahme auf Entscheidungen sowie weitere Zielvorstellungen geprägt.
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