Walter Haug und die mittelalterliche Fiktionalität


Hausarbeit, 2000

21 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Walter Haug und die mittelalterliche Fiktionalität

Eric Weigel

A. Vorwort: Was ist Fiktionalität? Ein Lexikoneintrag

Diese Arbeit wird sich Bemühen, mehr Licht in ein grundlegendes Problem der Mediävistik zu bringen. Die große Schwierigkeit, die es zu beleuchten gilt, ist die Fiktionalit ä t in der mittelalterlichen Literatur. Leider ist es ein mediävistisches Phänomen, dass ein zu bearbeitendes Problem in diesem Bereich, oft eine lange Kette an zusätzlichen Hürden nach sich zieht, da die Entwicklungsursprünge der Werke in einer geschichtlichen Dunkelheit liegen. Dies macht natürlich die interne literaturwissenschaftliche Diskussion umso spannender, unter anderem auch deswegen, weil die verschiedenen Ansätze und Theorien der Philologen sehr differenziert ausfallen. Konkrete Fragen, die sich im Zuge der Problembewältigung stellen sind hier:

- Inwiefern sind die von uns im Seminar behandelten mittelalterlichen Inhalte Fiktion?
- Wieviel ist geschichtliche Wahrheit und was genau kann als solche bewiesen werden?
- Falls wir nicht bestimmen können, was Fakt und was Fiktion ist, wie ist es dann um die Beziehung dieser beiden Begriffe innerhalb der mittelalterlichen Literatur bestellt?
- Wie verhielt sich die Fiktion in dem Prozess der Verschriftlichung?

Wie also soll man das Problem der Fiktion bewältigen? Befragt man das etablierteste deutsche Lexikon1, auf das sich alle Zitate -falls nicht ausdrücklich als ein Zitat anderen Ursprungs kenntlich gemacht- in meinem Vorwort beziehen, wird der Begriff Fiktion zunächst auf seinen etymologischen Ursprung zurückgeführt, nämlich das lateinische ,,fingere", mehr noch ,, fictum", Wörter, die übersetzt werden mit ,,formen, bilden, ersinnen, erheucheln". Weiter heißt es, Fiktion sei ,,bildungssprachlich für: ,,etwas, das nur in der Vorstellung existiert, etwas Erdachtes."

Im folgenden wird der Begriff Fiktion im Licht dreierlei Wissenschaften interpretiert: der Literatur, der logischen Philosophie, sowie des Rechts. Ganz bewusst sage ich der Begriff wird interpretiert, anstatt von erklärt oder definiert, da die verschiedenen Wissenschaften unterschiedliche Implikationen aus dem Begriff deduzieren, So wird zu Beginn der Erläuterungen des philosophisch-logischen Bereiches gesagt, die Fiktion sei ,,ein Sachverhalt, von dem (noch) nicht gesagt werden kann, ob die ihn darzustellende Aussage wahr oder falsch ist." Anschließend wird die Fiktion dem Terminus Pseudokennzeichnung gegenübergestellt. Während die Pseudokennzeichnung die Existenz eines Gegenstandes ohne ein literarisches oder rhetorisches Interesse nicht als gerechtfertigt ansieht, sei ,,eine Fiktion wissenschaftlich zugelassen, wenn sie als Antizipation eines gewollten oder in Erwägung gezogenen Zustandes gedeutet werden kann", das heißt, im philosophisch-logischen Sinne ist eine bloße Schöpfung eines Abstraktums ohne eine inhaltliche Besetzung, die durch das breite Spektrum der Literaturmethode oder der Rhetorik besetzt werden könnte, gleichbedeutend mit einem Nichts, mit etwas Wertlosem. Allerdings gewinnt die Fiktion an Gehalt, und damit auch an wissenschaftlicher Relevanz, dadurch, dass die Idee, etwas Dazukommendes, eine mögliche Implikation, eine Sinnbesetzung oder eine Vorwegnahme (z.B. ein bestimmter Prozess) sich mit ihr verbindet. Jede ontologische Ahnung also besetzt sie mit einem wissenschaftlichen Wert.

Mit solchen abstrakten Gedanken beschäftigt sich das Gebiet des Rechts nicht, wenn es um die Fiktion geht. Die Fiktion gilt hier nur als juristisches Stilmittel zur Darstellung einer möglichen Situation, einer ,,normativen Annahme eines Sachverhalts" vor Gericht. Funktion der Fiktion in der Juristerei soll es sein, ,,die Ableitung sonst nicht möglicher Rechtsfolgen vornehmen zu können."

In der Literatur hingegen wird die Fiktion zunächst als ,,Element" angesehen. ,,Das Erdachte, Erfundene, Vorgestellte, Erdichtete, das so nicht in der tatsächlichen Wirklichkeit existiert, aber so dargestellt wird, als ob es wirklich wäre." Dichtung beruhe auf der Fiktion, dass das auf der Bühne dargestellte, sich tatsächlich ereigne. Es sei ,,jedoch selbst das in der Lyrik sich ausdrückende Subjekt häufig fiktiv." Mit dem Hinweis darauf, dass ,,die erlebte Wirklichkeit häufig bereits - durch die modernen Massenmedien vermittelt - medial produziert" werde, seien die Fiktion und die Wirklichkeit als Begriffe immer umstrittener.

Das Lexikon stellt also den Begriff Fiktion als Stilmittel vor, welches den Inhalt eines Werkes dazu verpflichtet, nun eine erfundene Geschichte zu präsentieren, um eine bestimmte Intention hervorzurufen, die der Leser annehmen möchte. Der Leser spielt deswegen eine entscheidende Rolle, da er die fiktive Wirklichkeit, die ihm dargeboten wird, als solche erkennen und akzeptieren soll. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass der Autor in irgendeiner Weise verpflichtet wäre, das nun für den Leser folgende, als fiktiv zu entlarven, was gerade die Funktion des Stilmittels ad absurdum führen würde, denn es würde die Spannung nehmen, in die sich der Leser verlieren kann.

Allerdings gab es bereits in der Moderne Versuche, dieses Spannungsgeflecht aufzubrechen. Man denke nur an den Epilog von BERTOLT BRECHTs ,,Der gute Mensch von Sezuan"2, an dessen Ende zum Beispiel die entstandene, der Bühne eigene, Distanz zum Zuschauer total zerbrochen werden soll, um durch Vernunft ersetzt zu werden, indem das direkt angesprochene Publikum aufgefordert wird, sich selber den guten Schluß zu suchen. Somit ist also dem Lexikoneintrag immer noch genüge getan, da gesagt wurde, die Fiktion sei ein wichtiger Bestandteil der Bühne, allerdings entwickelte sich Brechts epischer Ansatz weiter und gipfelte in der Diskussion, ob das Theater eine ,,moralische Lehranstalt" werden solle. Rückblickend auf unsere Fragestellung der Beziehung zwischen Fakt und Fiktion, kann man also zumindest schon bemerken, dass dieses Thema bereits früher die Meinungen spaltete. Die Angaben des Lexikoneintrags geben letztendlich sogar an, dass die Grenzen zwischen beiden Termini zusehends durch die modernen Medien verwischt werden, wenn von ,,medial produziert[er]" Wirklichkeit ausgegangen wird. Wahr ist sicherlich, dass der mediale Aspekt eine mögliche Differenzierung des Begriffspaars Fakt/Fiktion nicht unbedingt wahrscheinlicher macht, sondern durch die alltäglichen zu beobachtenden Konsequenzen des Mediums Fernsehen, aber auch Rundfunk und Zeitungen, also deren Wirkung, das Problem zusehends an Komplexität gewinnt. Als Beispiel einer medialen Vermischung zwischen Fakt und Fiktion sei allein ein Programmzusatz wie ,,Doku-Soap", genannt, also eine produzierte, hervorgerufene Wirklichkeit, meist angereichert durch menschliche und zwischenmenschliche Schicksale, die den Zuschauer bewegen sollen.

Hat uns also diese Lexikonbefragung zum Begriff ,,Fiktion" für unser mediävistisches Problem geholfen oder driften wir ab in eine Diskussion der Moderne? Ich gebe an dieser Stelle zu bedenken, dass eine mögliche Vorstellung der mündlichen Darbietung der ,, Erec" - aventuire, durchaus mit einem mittelalterlichem Geschichtenerzähler verbunden werden kann, der an seinem Hof, die Aristokratie - oder auch das einfache Volk - durch seine Heldenerzählung zu begeistern sucht. Das menschliche Verlangen nach Fiktion, die Darstellung eines kuriosen Abenteuers, die unterhaltende Geschichte hat sich also sehr wahrscheinlich nicht geändert. Und eben dieser Anknüpfungspunkt mag ein erster Schritt zur Lösung unseres Problems sein.

B. Walter Haug:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Künstler unbekannt: Ein Edelmann wird von seinen Rittern bedient

I. Vorstellung

Im folgenden wird auf die Ausführungen WALTER HAUGs in Bezug auf das Problem der mittelalterlichen Fiktionalität eingegangen. HAUG entwickelte verschiedene strukturelle Schemata, wie sich die Fiktionalität im Mittelalter entwickelt haben könnte und trieb damit eine literaturwissenschaftliche Diskussion voran.

II. Das Phänomen der mediävistischen Fiktionalität: eine kurze Aufnahme der literaturwissenschaftlichen Diskussion

Bei all den abstrakten literaturwissenschaftlichen Problemen, hilft es zunächst, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, um was es bei unseren Fragen eigentlich geht. Was passiert in der mediävistischen Literatur, dass die Wissenschaft das Thema der Fiktion überhaupt anschneiden muß? Schließlich beobachten wir ähnliche Diskussionen selten, wenn es um moderne Literatur geht.

Eine große Herausforderung an die Wissenschaften - und hier ist keinesfalls nur die Literaturwissenschaft gemeint - , sind die Bedingungen, unter denen mediävistische Literatur entstanden ist. Betrachten wir beispielsweise den von uns im Seminar behandelten ,, Erec" von HARTMANN VON AUE, so müssen wir bemerken, dass kaum etwas Sicheres über den Autor oder die exakte Entstehungsgeschichte seines Werkes bekannt ist.

Wie an allen Werken der Handschrift nahm HANS RIED auch am Text des ,,Erec" zahlreiche <Verbesserungen> vor, so dass der originale Wortlaut der Dichtung kaum wiederherzustellen sein dürfte. Es fehlt zudem der Eingang des Werks; eine Lücke von 57 Versen konnte durch das 1898 aufgefundene sogenannte <Wolfenbütteler Fragment> geschlossen werden. Damit sind 10135 Verse des Originals erhalten.3

Wissenschaftlich gesichert scheint hingegen die unmittelbare Quelle des ,, Erec", denn Hartmann selbst gibt die altfranzösische Dichtung ,, Erec et Einide" von CHRETIEN DE TROYES an. Doch anscheinend strömten auch andere Einflüsse mit ein.

,,Die freie Bearbeitung [...] durch Hartmann, die stofflichen und gedanklichen Abweichungen lassen jedoch mit Sicherheit auf weitere Quellen, u. a. das kymrische Mabinogi Gereint sowie die nordische Erexsaga, schlie ß en." 4

Auch über HARTMANN selbst gilt wenig als historisch gesichert. Den Angaben einer Internetseite5 zufolge, lebte er ca. 1160 bis 1200 nach Christus. Vorgestellt wird er durch den Satz:

,,Ein ritter [...] der was Hartmann genant, dienstman war er zOuwe." 6

Allerdings fügt die Seite anmerkend hinzu, dass der ,,Ort Ouwe [...] nicht endgültig identifiziert" wurde.

Er war ein Ritter, also adeliger Herkunft, konnte - was er ausdrücklich vermerkte - lesen und schreiben und war daher vermutlich klösterlich erzogen worden. Seine Stellung war die eines dienstman, also eines Ministerialen, vermutlich in Schwaben.

Es ist wahrscheinlich, dass er an einem Kreuzzug teilnahm, entweder am dritten (1189-92) unter Friedrich Barbarossa oder 1197/98 unter Heinrich VI., der wegen des plötzlichen Todes des Herrschers abgebrochen wurde und von der Geschichtsschreibung nicht nummeriert wird. Die Kreuzzugteilnahme brachte in der Lyrik Hartmanns die endgültige Abwendung vom höfischen Minnesystem.7

Soweit einige Hintergrunddaten der Lyrik um die sich unser Problemkreis dreht. Nun stellt sich die Frage, wie sich die literaturwissenschaftliche Diskussion bezüglich der Fiktionalität anhand dieser vergleichsweise spärlichen Daten entwickelte.

In einer kurzen Aufarbeitung der Entwicklung des Problems, zieht WALTER HAUG innerhalb eines Aufsatzes die Erläuterungen MAX WEBERs heran, um im Anschluß seine eigene Darstellung vorzustellen.

Im Rahmen des Symposiums ,,Entzauberung der Welt", das JAMES P. FOAG und THOMAS C. FOX 1988 in St. Louis veranstaltet haben, erklärt HAUG, dass es angebracht sei, ,,wenigstens in kurzen Stichworten zunächst in Erinnerung zu rufen, was Weber mit seiner Metapher [,,Entzauberung der Welt"] meinte."8 Weber stelle dar, dass die ,,Rationalisierung und Intellektualisierung" dafür gesorgt habe, ,,dass die Wirklichkeit in einem höchsten Maße der Naturwissenschaft und der Technik überantwortet" werde. Entzauberung der Welt hieße damit

,,alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen zu beherrschen." 9

Ein Hauptargument WEBERs sei die Entwicklung der ,,rational-dogmatischen Religionen", die die ,,magische Praxis durch Lehre ersetzen", wodurch eine ,,Schematisierung des Glaubens" entstehe, ,,die diesen philosophisch zu durchdringen suche"10.

Die endgültige literarische Konsequenz dieses Ansatzes sieht HAUG darin, dass der Mensch zu der Einsicht gelange, es gäbe eine göttliche, sinndurchsetzende Ordnung des Kosmos, also auch der sich uns darstellenden Welt, wodurch der literarisch produktive Geist deduziere, sein Werk müsse stets eine annähernd durchgehende strukturelle und inhaltliche Ordnung wiedergeben, die das göttliche Gesamtkonzept repräsentiert. HAUGs persönliche Deutung dessen sieht er darin, dass eine solche Struktur nicht etwa als eine die Wirklichkeit wiedergebende sieht, sondern vie lmehr ,,die Akte des Erkennens"11 literarisch geprägt seien. Die Wirklichkeit werde durch die Jahrhunderte währende Rationalisierung der Welt pervertiert, da diese ,,Entzauberung der Welt" gleichbedeutend sei mit einem ästhetischem Sinnverlust12. Die Konsequenz dessen sei heute dadurch zu beobachten, daß die Naturwissenschaften sich die Rationalität zueigen machten (und damit nach HAUG der Sinnlosigkeit), während die Ästhetik sich abstrahierte, um ,,den verlorenen Sinn über fiktionale Bilder zurückzugewinnen."13

Was also macht die Fiktionalität im Mittelalter? Die Fiktion erscheint uns im ,, Erec" unbekümmert und naiv. Diesen Eindruck beschreibt auch HAUG:

Der neue Avent ü renroman des 12. Jahrhunderts verzichtet so total auf jeden Anspruch, etwas wiederzugeben, was faktisch glaubhaft sein k ö nnte, dass er seine Fiktionalit ä t gar nicht explizit zu thematisieren brauchte. [...] Was ü berrascht an dem neuen literarischen Typus, ist nicht sein fiktionaler Charakter, sondern die R ü ckhaltlosigkeit, mit der hier Sinnstrukturen gegen alles, was sie in Frage stellen k ö nnte, fiktional durchgesetzt werden. Die Bedingungen unter denen der h ö fische Held [...] durch Krisen zum gl ü cklichen Ziel, zur pers ö nlichen wie gesellschaftlichen Idealit ä t gef ü hrt wird, sind schlechterdings br ü skierend. Denn vielerlei mu ß ausgeschaltet werden damit der Avent ü renweg des arthurischen Ritters m ö glich wird: 1. der Zufall, 2. die Zeit, 3. die K ö rperlichkeit und 4. die Innerlichkeit. 14

Gegen Ende des Aufsatzes schlussfolgert HAUG, dass wenn die ,,Entzauberung der Welt" im 12. Jahrhundert reaktionär die fiktionale Literatur hervorriefe, man zumindest betonen müsse, dass die formelle Dominanz - die Struktur - innerhalb der damaligen Werke, jegliche Realität vollkommen aufhebe. Im Seminar begleiteten wir diese Diskussion um die strukturelle Beflissenheit des ,, Erec" und haben feststellen müssen, dass tatsächlich dem Werk eine so tragende Form zugrunde liegt, dass eine fiktionale Geschichte, die auf einem Begriff wie Unordnung oder Zufall basiert im ,, Erec" undenkbar ist. HAUG würde dieses Phänomen wahrscheinlich wieder auf die gewünschte und angestrebte Repräsentation einer schöpfungsähnlichen Ordnung zurückzuführen.

Unsere Beobachtungen erschließen uns demnach zwei der im Vorwort aufgestellten Fragen, nämlich, dass wir über einen historischen Wahrheitsgehalt des ,, Erec" nichts sagen können, da uns nur ungenügende Informationen zur Verfügung stehen und zudem, dass die Beziehung zwischen den Begriffen Fakt und Fiktion auch aufgrund dessen nur mangelhaft untersucht werden kann, wir aber zumindest bemerken können, daß das Mittelalter eine ganz eigene Vorstellung von literarischer Fiktion birgt, wie wir sie in zeitgenössischer Literatur nicht beobachten können. Es stellt sich uns eine komplizierte, aber nicht ungeordnete, Melange aus Autorintention, Sinngebung, Erfindung, Phantasie, struktureller Dominanz und Weitergebung traditionellem Schrifttums dar.

III. Die Terminologie der Fiktion:Sinn, Gerüst, Identität, Variation, Virtuosität, Spiel

In dem Aufsatz ,,Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität" entwirft HAUG seine eigene Theorie des Verhältnisses ,,von Faktizität und Fiktionalität"15. Der Einfachheit halber sei bezüglich meiner Zitiermethode angemerkt, dass sich die nun folgenden Fußnoten alle auf diesen Aufsatz beziehen werden. Wenn eine andere Quelle zitiert wird, sei diese natürlich ausdrücklich als Fußnote vermerkt.

Ausgangslage ist HAUGs Meinung nach, ,,die Einsicht, dass man mit einer schlichten Opposition der Sachlage nicht gerecht wird. [...] die reine Faktizität disperater Daten [...] konstituiert nicht die Welt, wie wir sie erfahren und in der wir leben. Das, was wir für wirklich halten, ist immer schon strukturiert und mit Sinn besetzt." Am Rande soll erwähnt sein , dass dieser letzte Satz HAUGs für viele Philosophen, insbesondere für den Kantianer, nachzuvollziehen sein wird; jedoch bei anderen auf große Ablehnung stoßen würde. Die Verbindung zwischen Sinn, Fiktionalit ä t und Wirklichkeit ergibt sich nach HAUG aus der Entwicklung der Existenzweise der von uns behandelten Dichtung bei denen es sich unabstreitbar anfänglich um Vortragsdichtungen handelte, dann später aber verschriftlicht wurde. Diese Verschriftlichung sieht HAUG als einen existentiellen Bruch an.

,,Und wenn man diese Vortragsdichtung verschriftlicht, ver ä ndert man ihre Existenzweise so fundamental, dass es sich fragt, ob es ü berhaupt m ö glich ist, von den schriftlichen Ü berlieferungen aus auf die m ü ndlichen Vorstufen zur ü ckzugreifen."

Natürlich bewegte sich bereits die Vortragsdichtung auf einer narrativen Ebene, jedoch mit sehr viel mehr Interpretationsvermögen, was charakteristisch für diese Gattung gewesen sein muß, denn liest man die Beschreibungen gewisser, auf den ersten Blick unwichtiger, Details im ,, Erec", mag man sich ausmalen können, welche Art von Menschen Gefallen an solchen Beschreibungen gefunden haben. Und wenn man von einer narrativen Ebene ausgeht, wie man es nach HAUG tun mu ß, so kann man auch mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, es muß wenigstens ein kleines historisch- faktisches Fundament gegeben haben. Der entscheidende Punkt für HAUG ist in diesem Moment, dass es im traditionellen Vortragsschema ,,darum geht, historischen Fakten eine Sinnperspektive zu geben." Und wir erinnern uns: Fakten sind immer schon mit Sinn besetzt.

Es geschehe eine ,,Fiktionalisierung", die sich ,,anhand narrativer Schemata konstituiert. Weiter heißt es:

Die Wirklichkeit, die sich bietet, ist [...] eine Wirklichkeit, in der das Historisch-Faktische, das ja an sich ohne Sinn ist, von sinnkonstituierenden Handlungsmustern fiktional ü berarbeitet erscheint. Die Welt der Heldensage ist also eine Welt der fiktionalisierten Wirklichkeit. Und wie jede ungebrochen erfahrene Wirklichkeit durchschaut sie selbst ihren fiktionalen Status nicht, vielmehr pr ä sentiert sie sich ü ber die R ü ckbindung an Fakten als historische Wirklichkeit.

Das Historisch-Faktische: eine Welt ohne Sinn? Nach HAUG ist dies literaturwissenschaftlich vollkommen plausibel. Beim Vortrag hangele sich der Liedsänger an einem sogenannten Erz ä hlger ü st entlang, welches besetzt ist ,,mit historischen Fakten und Personen". Aufgrund der Improvisation des Vortrages, sei der Sänger auf das Ger ü st angewiesen. Dieses Gerüst bleibe stets konstant, der sonstige Ablauf könne jedoch stark variieren. Die Improvisation müsse man demnach, wenn auch in einem anderen Kontext als in dem literarischen zur Fiktionalität zählen.

Das Gerüst garantiert durch sein faktisches Wesen die Identität der Dichtung. Diese Identität wird als ,,jenseits der Variation" vorgestellt, das heißt, an den Grundbausteinen der erzählten Geschichte wird nie etwas geändert. Die Mosaikstücke, die den Handlungsablauf ausmachen, bleiben in sich konserviert, was aber nicht bedeuten muß, dass der Liedsänger, die ihm bekannten Mosaikstücke nicht anders anordnen kann. Jedoch beeinflußt das nur die erzählte Gesamthandlung und niemals eines dieser Mosaikstücke selbst. Die Identität bleibt unberührt im Gerüst manifestiert. Sie steht außerhalb der musischen Beliebigkeit oder der Kreativität des Sängers.

Die Variation allerdings steht den Begriffen Ger ü st und Identit ä t kontrastiv gegenüber. Die Variation ist nichts anderes als das Phantasiepotential des Sängers, also die Fähigkeit, die von ihm aufgenommenen vermeintlichen Authentizitäten so geschickt und unterhaltsam wie möglich in eine packende, bilderreiche, lehrende oder (biblisch-)vergleichende Geschichte zu packen und gleichzeitig sich auf die ihm zuhörenden Personen einzustellen. Ob Pöbel oder Aristokratie spielt dabei keine Rolle, denn ein guter Erzähler sollte jedes Publikum gleichermaßen begeistern können. Selbstverständlich verlangt das nicht nur eine sprachliche Gewandtheit, sondern auch die Fähigkeit, das Vokabula r adäquat zu variieren, denn am Hof soll eine Dichtung natürlich herrschaftlicher und prunkvoller präsentiert werden, als auf dem Marktplatz. HAUG bezeichnet diese künstlerische Fähigkeit des Sängers als Virtuosit ä t. Auf den ersten Blick überraschend gelangt man vom Begriff der Variation zum Begriff des Gleichbleibenden. HAUGs Argument ist, dass wenn diese Variation latent vom Sänger praktiziert wird, sie ,,als das Gleichbleibende" heraustritt. Bedenklich ist an dieser Stelle allerdings, ob das Ger ü st als apriorisch dermaßen stichhaltig und geschickt gewählter Begriff gilt, dass man einen Begriff wie den des Gleichbleibenden der Variation zuspricht. Selbstverständlich ist auch die Variation eine fortwährende Praxis des Sängers, die als gleichbleibend bezeic hnet werden kann. Vielleicht wäre jedoch ein Begriff wie Performanz - wenn auch linguistisch besetzt- an dieser Stelle angebrachter.

Der Terminus Spiel dient uns als weiterführender Begriff. Auf ihn soll auch im Anschluß näher eingegangen werden. In dem Aufsatz ,,Prolog und Strukturmodell" konstituiert HAUG, daß

,,das Mittelalterlich-Fiktionale, wie es sich im arthurischen Roman konkretisiert, beruht gerade nicht auf der Idee des Wahrscheinlichen, diese neue Fiktionalit ä t kommt vielmehr ü ber das freie Spiel mit dem Unwahrscheinlichem zu sich selbst." 16

Anstelle einer möglichen Situation tritt also eine Art Experiment in dem die auftretenden Figuren agieren. Figuren selbst können natürlich ebenso spielerisch verfremdet sein bis hin zur vollständigen Phantasiegestalt, die nur noch bildlich zu deuten ist. Jede Form von Wirklichkeit verblast bis zur Irrelevanz; der Hörer ist vielmehr an einem Bild interessiert, das niemals wirklich geschehen könnte, in seiner Vorstellung aber nichtsdestotrotz Gestalt annehmen kann. Auch sollte man bedenken, dass wir uns in einer historischen Epoche bewegen, die jenseits der Aufklärung liegt. Der Gedanke, dass die Hörer die präsentierte Geschichte in all ihrer für uns erscheinenden Unwahrscheinlichkeit, Kuriosität und Abstraktheit aufgrund ihres damaligen Verständnisses der Welt, durchaus als plausibel ansahen. Und diejenigen, die dies nicht taten, beließen es vielleicht bei naivem Amusement.

C. Das Spiel

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Künstler unbekannt: Knights with coutched lances

I. Die Bedeutung des Spiels: eine kurze literarisch-philosophische Apperzeption

Der zuletzt behandelten Begriff des Spiels lässt sich nicht nur im Mittelalter beobachten. Bei genauer Betrachtung mag man sogar vermuten, dass jeder Autor prosaischer Literatur und so mancher Lyriker fiktiv mit den Figuren, dem Handlungsschema und dem Inhalt ihres Werkes spielen.

Im 19. Jahrhundert wurde das in der Vergangenheit nur leicht behandelte Ausbrechen aus der formalen Struktur der Literatur radikalisiert; nicht nur der Inhalt eines Werkes sollte kurios sein, sondern eine unkonventionelle Art und Weise der Präsentation sollte den Inhalt stützen, verstärken, manchmal auch überdecken oder gar überspielen. Die Entwicklung erfuhr sogar kurzzeitig die komplette Ablehnung des Inhaltes durch manche Autoren, hin zur völligen Krönung der Form.

Wo wurde in der Literatur bisher gespielt? Welche herausragenden oder beeindruckenden Werke und Strömungen gab es, die den Gedanken des Spiels unterstreichen? Welche Früchte trägt das Spiel? Und wie ist der Begriff Spiel literaturwissenschaftlich aufgearbeitet? Hier sollen einige interessante Ergebnisse präsentiert werden.

Beginnend mit einer Betrachtung des Wortes Spiel, kann man SCHILLERs ästhetische Briefe kaum ignorieren. Hier wird eingehend auf den ästhetischen Bildungstrieb das ,,fröhliche Reich des Spiels und Schein" herangezogen, der dem ,,Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt [...] entbindet." Auch wenn die Bemerkungen SCHILLERs pädagogisch eingefärbt sind, ist die Aussage doch klar: der (hier: kindlich-menschliche) Spieltrieb agiert unabhängig von jeder Konvention und eröffnet dem die Welt erlebenden Menschen eine neue Betrachtungsweise. Das Spiel steht bei SCHILLER nur in sofern im Verhältnis zur Fiktion, als dass das Spiel wünschenswerterweise als klassische Schönheit vollendet wird. Das Spiel ist dabei nicht nur auf die Kinder mit ihrem Spieltrieb begrenzt, sondern der Mensch unterwirft sich grundsätzlich einem Spield rang. Und vor allem in der Kunst darf und soll mit der Materie gespielt werden, bestenfalls solange, bis der Stoff durch klassisch unterlegte Schönheit zur vollendet ästhetischen Form aufgehoben wird.

Das Spiel ist also für die Bedeutung eines Werkes extrem wichtig, da mit dem Stoff experimentiert werden muß; er muß geformt werden. Schon im Vorfeld müssen die Ideen, die zu dem Stoff führen, im Kopf des Schaffenden geformt werden. Wenn man etwas schaffen soll, spielt man immer wieder gedanklich mit der Materie. Man baut Gedanken auf, verwirft sie wieder, dreht sie um, wendet sie, zieht Materie heran und so weiter. Kurz: man spielt.

Viele Autoren beschä ftigten sich spielerisch und spekulierend mit dem Gedanken einer Zukunftsvision. Die Menschen waren schon immer interessiert, wie es wohl in der Zukunft aussehen möge. Unumstritten war GEORGE ORWELLs großes Talent, das spielerische Spekulieren mit der Entwicklung der politischen Ausgangslage seiner Zeit in den nächsten hundert Jahren. Sein scharfes Auge für die endgültige Konsequenz des Kommunismus brachten vor allem das düster-pessimistische ,,1984"17 hervor. In diesem utopischen Roman durchlebt der Protagonist Winston Smith subversive Zweifel an dem totalitärem System, in dem er lebt und versucht dann erfolglos einer gerüchtebehafteten Untergrundorganisation beizutreten. Erwischt durch Agenten des Staates wird er dann schließlich gefoltert und gewaltsam agitiert.

Ein interaktives Spiel praktiziert BERTOLT BRECHT mit dem Leser. In seinem bereits im Vorwort herangezogenen Stück ,,Der gute Mensch von Sezuan" entwirft er eine bildhafte Figur mit zwei Identitäten. Die eine, Shen Te, versucht in einer mit schlechten Menschen besetzten Welt, Gutes zu tun und scheitert dadurch in der Führung ihres kleinen Ladens. Ihr alter ego heißt Shui Ta. Dieser erscheint immer wieder innerhalb des Stücks und lenkt in letzter Sekunde durch unbarmherzige, aber nicht ungerechte Härte das Schlimmste von Shen Tes Schicksal ab. Der Leser wird immer wieder von sogenannten Verfremdungseffekten überrascht, die BRECHT anwendet, um die Wahrheiten aufzudecken oder sie zu verschleiern. Auf jeden Fall aber nimmt er nochmals die dargestellte, bereits fiktive Situation und verfremdet sie theatralisch durch das Tragen von Masken oder beispielsweise inhaltlich durch das Auftreten von drei Göttern.

Das literarische Kardinalsbeispiel für den Ausbruch aus formellen Konventionen ist wohl der ,,Ulysses"18. JAMES JOYCE mischt hier die unterschiedlichsten literarischen Formen, je nach dem, wie adäquat sie ihm in der betreffenden Szene erscheinen. So liest man hier ein Kapitel in trocken-pragmatischer Frage-und-Antwort-Form, ein anderes mit verteilten Rollen als Theaterstück, bringt Rechnungen und Notensätze mit ein, bis schließlich das Buch im finalen Penelope-Kapitel endet, indem JOYCE komplett auf Satzzeichen verzichtet, um die Gedanken der Figur Molly Bloom darzustellen. Ganzheitlich ist das Konzept allerdings straff; so kann man jedem Ulysses-Kapitel ein Kapitel der homerischen Odysseus-Sage parallel gegenüberstellen. Ein vollendeteres Spiel mit der Form war bis dahin noch nicht erschienen und JOYCE schockte nicht nur durch die Brechung der formalen Konvention, sondern erhitzte die Gemüter auch durch die Verwendung eines sehr expliziten Vokabulars.

Diese sehr modernen Beispiele eines literarischen Spiels besitzen auch eine literaturtheoretische Plattform, auf der der Begriff des Spiels wissenschaftlich behandelt wird. So findet sich in einem kleinen Aufsatzband namens ,,Spiele und Vorspiele" ein Aufsatz von GEORG PICHT, der ein ,,Weltspiel" in Zusammenhang mit NIETZSCHE skizziert. Dieses Weltspiel steht im Zusammenhang mit der griechischen Mythologie, was die Referenz auf NIETZSCHE natürlich auch erwarten lässt. Eingangs findet sich hier ein Gedicht NIETZSCHEs namens ,,An Goethe":

Das Unvergängliche

Ist nur dein Gleichnis!

Gott, der Verfängliche,

Ist Dichter-Erschleichnis...

Welt-Rad, das rollende,

Streift Ziel auf Ziel:

Not - nennts der Grollende,

der Narr nennts - Spiel...

Welt-Spiel, das herrische

Mischt Sein und Schein: -

Das Ewig-Närrische

Mischt uns - hinein!...19

NIETZSCHEs Philosophie selbst wird als ein ,,vogelfreies Spiel" des Denkens dargestellt. Im Anschluß wird das Spiel der griechischen Mythologien dargestellt und in allgemeiner Weise betrachtet, wie das ,,Weltspiel" als Topoi in das künstlerische Spiel transzendiert wird:

,,Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerst ö ren ohne jede moralische Zurechnung in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt allein das Spiel des K ü nstlers [...] Und so, wie das Kind und der K ü nstler spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf, und zerst ö rt in Unschuld" 20

Gegen Ende des Aufsatzes heißt es resumierend:

Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall. [...] Die Naturgesetze m ü ssen als Spielregeln betrachtet werden, und das Spiel der Natur nimmt seinen Verlauf, gleichg ü ltig, ob sich Menschen beteiligen oder nicht. Wir m ü ssen dann sagen, dass der Mensch nur deshalb spielen kann, weil er selbst Natur ist und die Natur ihm mitzuspielen erlaubt. 21

WOLFGANG ISERs Buch ,,Das Fiktive und das Imaginäre"22 versucht ebenfalls das Phänomen Spiel mit dem Fiktionalitätsproblem zu verbinden. Im Klappentext des Buches heißt es:

,,Wolfgang Iser hat den Versuch gemacht, das Fiktive und das Imagin ä re als Konstitutionsbedingungen von Literatur sowohl historisch als auch systematisch zu entfalten, um deren Zusammenwirken durch eine Spieltheorie des literarischen Textes greifnar zu machen."

Das literarisch-philosophische Topoi des Spiels scheint unter diesen Gesichtspunkten näher und imaginärer als man vermutet. Das Spiel kehrt immer wieder, wird aber verdeckt durch den Inhalt der sich uns zeigenden Werke. Die Methode, die dahinter steht, vor allem im Zusammenhang mit der gedanklichen Vorarbeit des Autors und seinem persönlichem Gedankenspiel, sowie seiner Intention mit der Geschichte und auch mit dem Leser zu spielen, ist unbewusst, steht im Hintergrund.

II. WALTER HAUGs kurze Darstellung des literarischen Spiels

HAUG postuliert in seinem Aufsatz ,,Literaturtheorie im deutschen Mittelalter", dass ,,das Mittelalterlich-Fiktionale, wie es sich im arthurischen Roman konkretisiert, [...] nicht auf der Idee des Wahrscheinlichen" beruht, sondern auch vom Zufall abhängig sei. ,,Diese Fiktionalität kommt vielmehr über das freie Spiel mit dem Unwahrscheinlichem zu sich selbst". Dieser Satz wird hier noch mal zitiert, da er das Grundmotiv dieser Arbeit darstellt. Das heißt also, das durch das verspielte Auftreten des Sängers und dessen improvisierte, dynamische Geschichte experimentell eine spezifische Art von Fiktionalität hervorgerufen wird, dessen Methode sich in gewisser Art -wie gezeigt- auch in moderner Literatur finden lässt, jedoch durch die Verschriftlichung erstarrt, ihren Fortbestand jedoch in der literaturwissenschaftlichen Diskussion manifestiert.

III. Erec

Auf der Suche nach konkreten Textstellen im ,, Erec", die HAUGs Thesen oder die Bedeutung des Spiels explizit unterstreichen, wird man kaum fündig werden. Einzelne Zitate herauszufiltern, würde nur schlecht die komplexen Annahmen, die skizziert wurden erklären oder untermauern, da wir es mit einer Theorie zu tun haben, die ein Schatten dieses und anderer mittelalterlicher Bücher ist. Schatten deswegen, weil der Wahrheitsgehalt der Theorie im Hintergrund steht. Beim Lesen des Buches wird den wenigsten auffallen, dass hier eine merkwürdige Art und Weise der Beziehung Fakt/Fiktion besteht. Dies könnte höchstens bei den skurrilen Personen passieren, die auch im ,, Erec" vorkommen, beispielsweise wenn von einem Zwerg (,,getwerc"23 ) die Rede ist. Selbstverständlich gab es im Mittelalter keine Zwerge, sondern hier wird vermutlich ein kleiner oder kleinwüchsiger Mensch benannt. Für unsere Betrachtung dient dieses Beispiel also wenig, da es sich hier kaum um einen großflächig betrachteten, inhaltlichen Komplex, sondern um eine Skurrilität handelt. Interessanter sind die breitgefächerten Inhalte des ,, Erec". So zum Beispiel das Treffen mit En î te. In einem irrealem, verbitterten Racheakt gegen eben diesen Zwerg, der den Protagonisten unter den Augen seiner Herrin geschlagen hat, trifft ,, Erec" auf den maroden Hof eines verarmten Adligen, dessen Tochter auch wie zufällig unbeschreiblich schön ist und fortan ,, Erec" folgt. Beim Lesen des Gesangs darf die Frage, ob dies wirklich passieren könnte, nicht gestellt werden. Es scheint vollkommen irrelevant, ob die Handlung tatsächlich faktisch passieren könnte; und wir glauben nunmehr auch zu wissen, warum: Es soll keine Realität dargestellt werden, sondern es soll ein unterhaltsamer Gesang dargeboten werden, der Menschen amüsiert. Auf diesem Hintergrund erklärt sich das Spiel. HARTMANN (als gesicherter Überlieferer) spielt mit einer Figur und konfrontiert ihn mit skurrilen, wohl auch höfisch-repräsentativen Situationen, die, den Hörer fesseln soll und auch wie eine Art moralischer Leitfaden dient. Wenn zum Beispiel Erec und En î te glücklich am Hofe leben, jedoch es lange keinen Anlaß gibt, die ,, ê re" wieder unter Beweis zu stellen. Anstatt dessen ,,verligt" er in seiner Liebe zu En î te, das heißt die Trägheit erfasst ihn und lässt ihn faul werden. Es herrscht nur noch die ,,minne". ,,Minne" und ,, ê re" gelten als die ritterlichen Tugenden, die es stets ausgewogen zu verbinden gilt.

Das Problem das hier behandelt wird ist demnach unterbewusster Art und kein explizites Phänomen. Wenn man HAUGs Thesen verfolgt und länger darüber nachdenkt, lässt sich allerdings durchaus nachvollziehen, dass im Mittelalter eine neue Art von Fiktion entstanden ist. Besonders plausibel erscheint die Annahme HAUGs, dass man bei der Lektüre des ,, Erec" leicht den Eindruck gewinnt, die beschriebenen Personen agierten in einer gewissen psychologisch-indifferenter Art und Weise. Das heißt also die handelnden Personen zeigen sich in irrationaler Form unberührt von den Geschehnissen der Geschichte. Dies findet beispielsweise in dem Kampf mit dem Zwerg Guivret Ausdruck, der sehr erbittert und langatmig beschrieben wird. Guivret verwundet Erec stark. Nichtsdestotrotz besiegt Erec Guivret, und am Ende freunden sich beide schließlich an.

In anderen Zeilen, in denen Kämpfe beschrieben werden, zeigt sich die Härte der damaligen Personen:

n û entwelte er niht m ê re,

wan undern arm slouc er

mit guotem willen daz sper.

[...]

wan daz der eine

von unwirde vers û mte sich

unz daz im ein sperstich

entgegen in s î n houbet kam,

der ihm ein ouge benam.

[...]

swie kleine erz wolde erougen,

er stach zuo der erde t ô t,

als ez der h ö vesche got geb ô t 24

Abgesehen von der dargestellten Härte scheint hier wieder die imaginäre moralische Instanz durch. Auf der einen Seite der Hof mit all seinen Implikationen und auf der anderen Seite Gott.

Die Unwirklichkeit der mittelalterlichen Inhalte offenbart sich demnach in mannigfaltiger Weise:

- psychologisch-indifferente Haltung der agierenden Personen
- das Auftreten bildlich beschriebener Personen, wie zum Beispiel Zwerge oder Riesen
- der brüskierende Zufall des Handlungsverlaufs
- die imaginäre religiös-moralische Lehre, die mit Begriffen wie Ritterlichkeit, Ehre und Minne jongliert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

D Schlusswort:

Wir haben uns bemüht, Licht in ein Problem der Mediävistik zu bringen, um die Inhalte und die Darstellungsart mittelalterlicher Literatur, besser zu verstehen. Die bizarre Naivität, die sich dem modernen Leser bietet, scheint nach wie vor an Stoffen dieser Art interessiert zu sein, da das Grundmotiv Unterhaltung nach wie vor aktuell ist. Überschattet von einem Dickicht der Sekundärliteratur fällt es natürlich schwer, den Unterhaltungswert nach wie vor zu genießen und den ,,Erec" als Dichtung einfach nur hinzunehmen. Selbstverständlich ist es keineswegs abträglich, Sekundärliteratur zu mittelalterlichen Werken zu konsultieren, allerdings fällt es schwer, die literaturwissenschaftliche Diskussion, die sich um die Mediävistik bewegt zu verfolgen und zu verstehen. Nichtsdestotrotz hoffe ich, einen grundsätzlichen Einblick in die Diskussion gegeben zu haben.

Ich persönlich habe mir im Vorfeld der Lektüre des ,,Erec" überlegt, was ich von dem Buch erwarte. Zum einen dachte ich an all die historischen Daten aus dem dunklen Mittelalter, die man kennen sollte. Außerdem an die Stellung der Kirche und der politischen Machthaber. Auf der anderen Seite dachte ich an triviale britische oder amerikanische Mittelalterfilme; also ganz klischeehaft an Robin Hood, Lancelot, Camelot den heiligen Gral usw. Und erstaunlicherweise blieb beim Lesen des ,, Erec" eine Erinnerung an historischen Daten aus. Ich fühlte mich erschreckenderweise viel mehr an die erwähnten Filme erinnert. Natürlich nicht in Einzelheiten, jedoch hätte ich nicht gedacht, dass bei der Lektüre eines mittelalterlichen Buches wirklich Turniere, Kämpfe, Feste und Frauen so bilderreich, explizit, brutal und ehrlich beschrieben werden. Die Beschäftigung mit der Sekundärliteratur hat mich aber bald wieder an die strenge Wissenschaftlichkeit des Themas erinnert.

Literaturverzeichnis:

HARTMANN VON AUE: Erec. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 1999.

HAUG, W.: Brechung auf dem Weg zur Individualität: Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Studienausgabe. Niemeyer. Tübingen 1997.

HAUG, WALTER: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Darmstadt. 1992.

ISER, WOLFGANG.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1991.

JOYCE, JAMES: Ulysses. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1981.

NIETZSCHE, FRIEDRICH: Die fröhliche Wissenschaft. Vorrede, Fünftes Buch. Könemann Verlagsgesellschaft mbH. Köln. 1994.

PICHT, GEORG.: Das Weltspiel und seine Deutung durch Nietzsche. - in: Spiele und Vorspiele. Spielelemente in Literatur, Wissenschaft und Philosophie. Hrsg. Von Hansgerd Schulte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1977.

ORWELL, G.: 1984. Diana Verlag.l Zürich. 1950.

WALTER, JENS (Hrsg.): Kindlers neue Literaturlexikon.. Verlegt bei Kindler. München 1990.

Internetrecherche:

http://www.toppoint.de/~cethegus/personen/h/hartmannva.html.

[...]


1 Brockhaus - Die Enzyklopädie: 20., überarbeitete, aktuelle Ausgabe. Leipzig, München. 1997. S. 287

2 BRECHT, B.: Der gute Mensch von Sezuan. Suhrkamp Verlag Berlin. 1963. S. 144

3 WALTER, J. (Hrsg.): Kindlers neue Literaturlexikon.. Verlegt bei Kindler. München 1990. Band 7. S. 340

4 s.o.

5 http://www.toppoint.de/~cethegus/personen/h/hatrmannva.html

6 http://www.toppoint.de/~cethegus/personen/h/hatrmannva.html

7 http://www.toppoint.de/~cethegus/personen/h/hatrmannva.html

8 HAUG, W.: Wandlung des Fiktionalitätsbewusstseins. - in: Brechung auf dem Weg zur Individualität: Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Studienausgabe. Niemeyer. Tübingen. 1997. S. 251

9 Im Aufsatz befindet sich ein Hinweis auf WEBER, M.: 1973. S. 594

10 HAUG, W.: Wandlung des Fiktionalitätsbewusstseins. - in: Kleine Schriften. S. 252

11 HAUG, W.: Wandlung des Fiktionalitätsbewusstseins. - in: Kleine Schriften. S. 253

12 Sinn ist bei Haug ein häufig verwendeter Terminus auf den ich in B II. noch näher eingehen möchte; hier soll der Begriff Sinn nur die ästhetische Konsequenz der Entzauberung wiedergeben.

13 HAUG, W.: Wandlung des Fiktionalitätsbewusstseins. - in: Kleine Schriften. S. 254

14 HAUG, W.: Wandlung des Fiktionalitätsbewusstseins. - in: Kleine Schriften. S. 255

15 HAUG, W.: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität. - in: Kleine Schriften. S.59

16 HAUG, W.: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Darmstadt. 1992

17 ORWELL, G.: 1984. Diana Verlag Zürich. 1950

18 JOYCE, J.: Ulysses. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1981.

19 Gefunden in: PICHT, G.: Das Weltspiel und seine Deutung durch Nietzsche. - in: Spiele und Vorspiele. Spielelemente in Literatur, Wissenschaft und Philosophie. Hrsg. Von Hansgerd Schulte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1977. S.93 -geprüft in: NIETZSCHE, F.: Die fröhliche Wissenschaft. Vorrede, Fünftes Buch. Könemann Verlagsgesellschaft mbH. Köln. 1994. S.80

20 PICHT, G.: Das Weltspiel und seine Deutung durch Nietzsche. - in: Spiele und Vorspiele. Spielelemente in Literatur, Wissenschaft und Philosophie. Hrsg. Von Hansgerd Schulte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1977. S.94

21 PICHT, G.: Das Weltspiel und seine Deutung durch Nietzsche. - in: Spiele und Vorspiele. Spielelemente in Literatur, Wissenschaft und Philosophie. Hrsg. Von Hansgerd Schulte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1977. S.98

22 ISER, W.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektive literarischer Anthropologie. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1991. Klappentext.

23 HARTMANN VON AUE: Erec. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 1999. S. 6. Vers 11

24 HARTMANN VON AUE: Erec. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 1999. S.242. Vers 5498-5517

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Walter Haug und die mittelalterliche Fiktionalität
Hochschule
Universität zu Köln
Veranstaltung
Mediävistik
Note
2
Autor
Jahr
2000
Seiten
21
Katalognummer
V102656
ISBN (eBook)
9783640010363
Dateigröße
714 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
ein unendlicher Dschungel aus unverständlichen blabla, war aber ein nettes Wühlen in literaturwissenschaftlichem Schlamm.
Schlagworte
Walter, Haug, Fiktionalität, Mediävistik
Arbeit zitieren
Eric Weigel (Autor:in), 2000, Walter Haug und die mittelalterliche Fiktionalität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102656

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