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Quellenangaben Seite 13
A A n n h h a a n n g g 1 1 An n nh h ha a an n ng g g 1 1 A 1
Zentrale Wirkungsgößen und elementare Un tersuchungsdimensionen bei der Einstellung von Initiativ- und Pr otestgruppen Schema 1 Strukturelle Grundbestandteile und elementare dynamische Wirkgrößen von Bürgerinitiativen Schema 2
Idealtypische Darstellung der Entstehung von Initiativ- und Protestgruppen Schema 3
Idealtypische Darstellung der Entwicklun g von Bürgerinitiativen nach den Entstehungsphasen
Die Bundestagsabgeordneten aus den Reih
Definition:
Bürgerinitiativen sind spontane, zeitlich in der Regel begrenzte, organisa-torisch lockere Zusammenschlüsse von Bürgern, die sich außerhalb der traditionellen Institutionen und Beteiligungsformen der repräsentativen Parteidemokratie zumeist aus konkreten Anlaß als unmittelbar betroffene zu Wort melden und sich, sei es im Wege der Selbsthilfe, sei es im Wege der Meinungswerbung und der Ausübung politischen Drucks, um Abhilfe im Sinne ihres Anliegens zu bemühen.
Erklärung:
Bürgerinitiative ist eine Form direkter Bürgerbeteiligung als Zusammenschluß von Bürgern auf Veranlassung von einzelnen oder mehreren durch gleichen Interessen und Ideen bewegten Personen ohne Zutun von Inhabern staatlicher, kommunaler und gesellschaftlicher Macht. Sie ist eine neue Form gesellschaftlich politischer Selbstorganisation und -hilfe.
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Ursache der Entstehung von Bürgerinitiativen:
Bürgerinitiativen sind relativ locker gefügte Organisationen, in denen sich Bürger spontan zusammenschließen, um aufgrund von konkreten Anlässen in ihrer sozialen und politischen Umwelt Selbsthilfe zu organisieren und/oder auf regionaler oder überörtlicher Ebene Einfluß auf die öffentliche Meinung, kommunale und staatliche Einrichtungen, Parteien und andere gesellschaftliche Gruppierungen zu üben.
Sie sehen ihre speziellen Interessen und Bedürfnisse (z.B. Umweltschutz, Städte- und Straßenbau) durch Parteien, Verwaltungen und Parlamente nicht mehr ausreichend verwirklicht.
Entstehung der Bürgerinitiativen:
Anfang der 70er Jahre bildeten sich in der Bundesrepublik Deutschland verstärkt Gruppierungen, die sich gegen soziale, politische oder gesellschaftliche Mißstände zur Wehr setzten. Selbsthilfe spielte zunehmend eine große Rolle, ebenso der Protest gegen Fehlerentwicklungen in bestimmten Bereichen, aber auch gegen althergebrachte Vorstellungen von Demokratie. Man wollte mehr Einfluß auf politische Strukturen und die darin fallenden Entscheidungsprozesse üben. Insgesamt erlitt das System der repräsentativen Demokratie zu dieser Zeit seine wahrscheinlich größte Krise seit Bestehen der Bundesrepublik. Durch außerparlamentarische Aktivitäten sollte Einfluß auf die Politik gewonnen werden.
Insbesondere im Umweltbereich und dort wieder in der Ablehnung der Atomkraft für die Energiegewinnung kam den Bürgerinitiativen große Bedeutung zu. Die politischen Parteien und die Parlamente waren speziell in diesem Punkt nicht mehr in der Lage, die Interessen und Bedürfnisse breiter Bevölkerungsmassen aufzunehmen. -Auch ein Wertewandel zeichnete sich ab. Nicht mehr wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis wollten alle Menschen, sondern ein neues Verständnis über die Menschen und die natürlichen Lebens-grundlagen. Begriffe wie “Nullwachstum“, „qualitatives Wachstum“ fanden Eingang in die politische Diskussion. Bei vielen Menschen entstand eine zunehmende Sensibilität gegen Umweltbelastungen (bald nicht mehr nur durch Atomkraftwerke), gegen fragwürdige Stadtplanungen, die das Bild der Städte mehr zerstören als erneuerten und gegen Zerstörung von gewachsenen Strukturen und Landschaften überhaupt.
Zwei Dinge kamen zusammen. Eine Abteilung von Inhalten der Politik(der Protest gegen Atomkraft und das Engagement für die Einhaltung der Natur) und ein neues Verständnis von Demokratie, das auf mehr Mitsprache- und Mitwirkungsrechte der einzelnen Menschen setzte. Der Begriff der Basisdemokratie wurde in der politischen Landschaft etabliert. Eine neue Qualität lag darin, dass immer mehr Menschen nicht bereit waren, politische Entscheidungen an ein Gremium abzugeben, das zwar demokratisch gewählt war, aber zwischen
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den Wahlen die Bedürfnisse der Menschen oft überging. Die Ökologiebewegung entstand, viele Bürgerinitiativen bildeten sich in dieser Zeit. Viele be-standen nur eine relativ kurze Zeit,, sehr häufig war persönliche Betroffenheit der Auslöser für Engagement. Ließ diese Betroffenheit nach , versiegte auch das Engagement. Aber andere kamen nach, es war nicht mehr außergewöhnlich, sich zusammenzuschließen und eingefahrene Wege der Politik zu verlassen. Bürgerinitiativen entstanden nicht nur als Teil der Ökologiebewegung, sondern auch im Kulturbereich, im sozialen Bereich und in der Friedenspolitik. Der Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluß zu Beginn der 80er wurde zwar auch von traditionellen Parteien und Gruppierungen mitgetragen, er wäre aber in seinem Vehement nicht denkbar gewesen ohne die Initiativgruppen, die sich außerhalb der etablierten Strukturen bildeten. Auch das bislang in der Bundesrepublik Deutschland als unverrückbar angesehene Parteisystem wurde aufgebrochen. Viele, die sich in der Bürgerinitiativ-Bewegung und im der außerparlamentarischen Opposition engagiert hatten, fanden ein neues politisches Sammelbecken in der Partei DIE GRÜNEN. Ihr Reiz lag für viele vor allem in ihrer unkonventionellen Art, Politik zu machen, in der propagierten Ablehnung des vorherrschenden Politikverständnisses und in dem Versuch, basisdemokratische Elemente in der politischen Arbeit zu verwirklichen. Auch in den Kommunen brachten DIE GRÜNEN oder ihnen nahestehende Gruppierungen frischen Wind. Die bis dahin überall herrschende Konsensdemokratie (manche bezeichnen sie auch als „Mauchelei“) zerbrach. Die Kommunalpolitik wurde „politischer“ - zur Freude der einen, zum Leidwesen der anderen.
Bedeutung der Bürgerinitiativen:
Bürgerinitiativen sind Ausdruck der unmittelbaren Demokratie im Rahmen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Artikel neun im Grundgesetz) „Bürgerinitiativen gelten als Ausdruck eines Wertewandels von Pflicht- und Akzeptanzwerten bis hin zu Partizipations- und Selbstverwirklichungswerten, wobei dieser Wertewandel in der Regel nicht abrupt auftritt, sondern sich als Wertesynthese darstellt.“(Zitat von Helmut Klages)
Auswirkungen dieses Wertewandels:
Dieser Wertwandel hat sich in Deutschland im Gefolge der „Revolution“ von 1968 durchgesetzt, ausgehend von den jüngeren und besser ausgebildeten Be-
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völkerungsgruppen. Er wirkt sich in einem Verlangen nach mehr Lebensqualität und mehr politischer Mitsprache aus. Mehr Lebensqualität bedeutet unter anderem nicht nur bessere Wohnungen, sondern auch ein besseres Wohnumfeld, Parks, Verkehrsberuhigung, gute Infrastruktur, mehr und bessere Kindergärten, Spielplätze, ein verbessertes kommunales Kulturangebot, mehr Möglichkeiten für alten Menschen, besserer Umweltschutz. An Beispielen sei dies genug. Mehr politische Mitsprache bedeutet: Keine Planung mehr über die Köpfe der Betroffenen hinweg, Bürgerbeteiligung und Bürgernähe. Eine Kommunalpolitik alten Stils als Exklosivbeschäftigung von Verwaltung und kommunalen Eliten geht nicht länger. Wenn die betroffenen Menschen ein kommunale Planung, eine anstehende oder bereits getroffene Entscheidung nicht passt, entsteht leicht eine Bürgerinitiative, die alle Register von Einflußnahme und Einsprüchen zu ziehen in der Lage ist.
(einige) Tätigkeitsfelder von Bürgerinitiativen:
Zwei Richtungen von Bürgerinitiativen:
1. die sogenannten „Ein-Punkt-Organisationen“ sind die meisten der auf 3000-5000 geschätzten Bürgerinitiativen, die sich auf sachlich und sozial eng begrenzte Probleme konzentrieren. 2. Ebenfalls auf kommunaler Ebene bemüht sich eine andere Ausprägung der Bürgerinitiative um Interessendurchsetzung durch Veränderungen kommunaler Machtstrukturen. Es sind neuere Initiativen, deren Spektrum von
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der rechtlich anerkannten selbständigen Körperschaft (Verbandsklage) bis zu parteiähnlichen Gebilden reicht, ohne jedoch deren Struktur vollkommen u übernehmen.
Institutionalisierung von Bürgerinitiativen
Institutionalisiert sind Bürgerinitiativen bisher nur in der Gemeindeordnung von Rheinland-Pfalz:
(§17)geregelte Verfahren, auf Verlangen der Bürger bestimmte kommunale Angelegenheiten durch den Gemeinderat beraten und entscheiden zu lassen; ähnlich in Hessen und Baden-Württenberg das Bürgerbegehren und in verschiedenen Gemeindeordnungen der Ländern die Bürgerversammlung.
Reaktion auf Bürgerinitiativen:
Vertreter von Regierung und Parteien reagieren unsicher auf diesen neuen politischen Faktor, der dahingehend charakterisiert ist, Anhänger unterschiedlicher politischer Richtungen für gemeinsame Ziele und Aktionen zu mobilisieren und zu integrieren.
Unterschiede zwischen Bürgerinitiativen und Parteien:
• Bürgerinitiativen bewerben sich nicht unmittelbar um ein Mandat (wobei es in der Kommunalpolitik durchaus vorkommen kann, dass ihr Engagement in eine Kandidatenliste mündet).
• Bürgerinitiativen haben kein umfassendes politisches Programm, sondern verfolgen nur ein einziges Ziel(z.B. die Verhinderung eines bestimmten Staßenbauprojekts).
• Bürgerinitiativen weisen keine feste und auf Dauer angelegte Organisation auf.
• Bürgerinitiativen existieren ohne formelle Mitgliedschaft, ohne Satzung, ohne formalisierten Willensbildungsprozess usw.
Bürgerinitiativen und Integrationsparteien im Vergleich:
Begünstigt sind Bürgerinitiativen dadurch, dass sie weniger auf gesamtgesellschaftliche Erfordernisse und Perspektiven Rücksicht nehmen müssen und
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wollen und in der Vermittlungen gemeinsamer Perspektiven mehr sinnstiftend wirken können als die großen Integrationsparteien. Insofern erscheinen ihre Lösungsvorschläge häufig attraktiver und eingängiger als die der Parteien.
Gewerkschaften und Bürgerinitiativen -
Von der Arbeitsteilung zur Konfrontation:
Gewerkschaften und Bürgerinitiativen scheinen eine ganze Zeit lang relativ uninteressiert nebeneinander zu existieren. Die Bürgerinitiativen, weil sie sich um die nichtorganisierten Interessen im Infrastrukturbereich kümmerten - also um die Lücken, die nicht zuletzt die Gewerkschaften offen gelassen hatten, Kindergärten, kleine Kassen, Randgruppenarbeit, Rettung von Stadtbild und Naherholungsgebiet, lokaler Umweltschutz - das waren die ersten Kristallisationspunkte der Bürgerinitiativen. Ihre Mitglieder kamen vornehmlich aus Mittelschichten, die traditionellerweise wenig Berührung mit den Gewerkschaften haben, obwohl häufig, wenn auch vergeblich, Bündnisse angestrebt wurden.
Die Gewerkschaften andererseits schauten von Anfang an skeptisch auf diese spontanen Aktionsgruppen. Ihre lose Organisationsform widerstrebte dem traditionellen Organisationsglauben alter Gewerkschafter; in Arbeiterschaft und Betrieb waren Bürgerinitiativen nicht präsent; ihre Aktionsformen - Demonstrationen, Eingaben, Hausbesetzungen, Selbsthilfemaßnahmen - liefen dem Politikverständnis zuwider, das die parlamentarisch-repräsentativen Entscheidungsprozesse der bundesdeutschen Demokratie bis in die Gewerkschaftsgremien selbst fest internalisiert hatte. Dennoch gab es hier und dort auf lockerer Ebene Zusammenarbeit. BÜRGERINITIATIVEN wurden in erster Linie als Problem angesehen, mit dem sich Verwaltung und Parteien befassen sollten, und diese selbst sahen ebenfalls hier ihre Hauptadressaten. Eine klare Arbeitsteilung schien dies Nebeneinander zu erleichtern. Aktionsfeld der Gewerkschaften der Produktionsbereich; Aktionsform der Lohnkampf - Aktionsfeld der Bürgerinitiativen der Reproduktionsbereich; die Aktionsform spontane Aktion und politisch-publizistischer Druck.
Dies relativ neutrale arbeitsteilige Verhältnis änderte sich mit der ökonomischen Krise seit 197/74 zunehmend bis zu dramatischen Zuspitzungen und Zusammenstößen im um die Kernenergie1976/77. Die Erbitterung kulminierte mit der Demonstration gegen den Bau des Kernkraftwerks von Brokdorf in Itzehoe am 19.02.1977, mit dem Vorwurf des „Atomfilz“ zwischen Gewerkschaften, Konzernen und Politik. Gewerkschaften warfen den Bürgerinitiativen nähe zum Terrorismus und mindestens nützliche Idiotie gegenüber Kommunisten und Anarchisten vor. „Bürgerinitiativen müssen wissen, dass sich Gewerkschaften nicht zum Handlanger chaotischer Entwicklungen machen lasse“, so Heinz Vetter. Oder in der Mitgliederzeitschrift der IG Bergbau und Energie, Einheit: „Die gewaltsamen Anschläge auf unsere rechtsstaatliche Ordnung werden nicht weniger, sonder nehmen zu. Dazu gehören nicht die feigen Morde
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an Drenkmann, Buback, Ponto und vielen anderen. Dazu gehören auch jene gewaltsamen Aktionen und Bauplatzbesetzungen, wie wir im Zusammenhang mit der Sicherung unserer Energieversorgung erleben; und schließlich als Spruchbund der Arbeiter auf der Baustelle Grohnde gegen die Mitglieder eines Anti-Atomdorfes: „Jagt die Molukker in die Weser“.
Bürgerinitiativen und Gewerkschaften -
Konkurrenz oder Kooperation:
Der Abstand zwischen Bürgerinitiativen und Gewerkschaften ist im Grunde nicht so groß. Programmatisch überlappen sich viele Ziele der Gewerkschaften nach Demokratisierung, Lebensqualität, Umweltschutz, Bildungspolitik und generellen Verbesserungen des Infrastrukturbereichs mit den Forderungen von Bürgerinitiativen. Historisch ist die spontane Aktionsform der Bürgerinitiativen nicht so weit von den Wurzeln der Gewerkschaften als Arbeiterinitiativen entfernt.
Diese möglichen Voraussetzungen einer Kooperation werden allerdings erschwert durch: a) kurzfristige Interessenkollisionen in den Zielen, besonders bei der (fragwürdigen) Alternative Umweltschutz oder Arbeitsplätze und b) durch die innerorganisatorischen Strukturdifferenzen, die die Kommunikation oft fast unmöglich machen, wenn Bürgerinitiativen den Gewerkschaften Verkrustung, Funktionärwirtschaft, Bürokratisierung und Ämterverfilzung vorwerfen und die Gewerkschaften kontern mit dem
Vorwurf illegaler Aktionsformen, fehlender Verantwortlichkeiten und Unterwanderung durch radikale Gruppen.
Zusammengefasst richtet sich die Kritik der Gewerkschaften an den Bürgerinitiativen gegen: 1) die Zielformulierung 2) die Organisationsform und 3) die Aktionsformen
Bürgerinitiativen vertreten stets „die bessere Sache“?
Auch Bürgerinitiativen vertreten durchaus Teilinteressen, den Vereinen und Verbänden dabei ähnlich. Zur Vermutung, sie verträten stets „die bessere Sache“ besteht wenig Anlaß. Bürgerinitiativen gewinnen bislang vor allem die besser Ausgebildeten und besser Verdienenden. Das hat Auswirkungen auf die von ihnen vertretenen Ziele. Den Namen Bürgerinitiativen verdienen sie von der sozialen Zugehörigkeit ihrer Mitglieder meist zu recht. Manchmal reagieren Verwaltungen auf dieses Faktum so, dass sie heikle Planungen durch solche Gegenden legen, deren soziale Struktur wenig Widerstand erwarten läßt.
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Die Arbeitsweisen von Bürgerinitiativen im Umweltschutz_
In der Arbeit von Bürgerinitiativen haben sich drei strategische Grundsätze bewährt: die Überparteilichkeit, die Gewaltlosigkeit sowie die demokratische und dezentrale Organisationsstruktur.
Überparteilichkeit bedeutet keineswegs Unparteilichkeit. Sie bedeutet auch nicht, dass Parteimitglieder in Bürgerinitiativen nicht mitarbeiten dürfen, sie bedeutet lediglich, dass sie bei ihrer Tätigkeit in der Bürgerinitiativen auf Parteipropaganda (z.B. das Verteilen von Flugblättern oder Broschüren, die mit dem Parteinamen gekennzeichnet sind) verzichten müssen. Es bleibt ihnen jedoch unbenommen, ihre Sachargumente vorzubringen. Dieser Grundsatz gilt ausnahmslos für alle Personen.
Der Grundsatz der Gewaltlosigkeit bedeutet nicht Passivität oder Den-Kopf-in-den-Sand-Stecken, es bedeutet auch nicht, dass man sich ausschließlich auf legale Aktionsmethoden beschränkt. Gewaltfreie, direkte Aktion wie eine Baustellenbesetzung oder die Blockade eines Zufahrtsweges durch Sitzstreikende sind mit dem Prinzip der Gewaltlosigkeit durchaus vereinbar. Sie sollten jedoch nur als allerletztes Mittel, nachdem alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden angewandt werden. Es Akte des bürgerlichen Unge-horsams, die bei dem, der sie begeht, ein hohes Maß an Selbstbeherrschung, Zivilcourage und Opferbereitschaft voraussetzen, den er muß bereit sein, sich beschimpfen, schlagen, verhaften und ins Gefängnis werfen zulassen, um auf diese Weise zu demonstrieren, dass es ihm mit seinem Widerstand wirklich ernst ist.
Der dritte Grundsatz schließlich, die demokratische und dezentrale Organisationsstruktur bedeutet, dass Sprecher gewählt und Mehrheitsbeschlüsse anerkannt werden. Die Verbindlichkeit von Mehrheitsbeschlüssen gilt ohnehin in allen demokratischen Organisationen. Bürgerinitiativen sind aber auf-grund ihrer lockeren Organisationsstruktur in besonderer Gefahr, dass
Mehrheitsbeschlüsse mißachtet werden. Um zu vermeiden, dass es zu unüberbrückbaren Gegensätzen oder gar Spaltungen in den Bürgerinitiativen kommt, bemüht man sich Abstimmungen möglichst zu vermeiden. Bei wichtigen Entscheidungen sprechen die Mitglieder in der Regel solang miteinander, bis sich die große Mehrheit einig geworden ist. Dezentrale Organisationstruktur heißt, jede Bürgerinitiativen handelt weitgehend selbstständig. Die regionalen und nationalen Zusammenschlüsse nehmen nur die aufgaben war, die von den regionalen Bürgerinitiativen nicht wahrgenommen werden können. Die
Bürgerinitiativen bemühen sich also, die von ihnen gesellschaftlich erstrebten Strukturen in ihrer eigenen Organisation zu verwirklichen.
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In der Bürgerinitiativen-Bewegung manifestiert sich nach meiner Überzeugung der Wunsch der Bürger nach politischer Mitsprache und Mitbestimmung. Wird diesem Verlangen nicht Rechnung getragen, so wird es sich auf mehr oder minder nachdrückliche Weise Bahn brechen. So wie bei einem Dampfkessel, der unter Oberdruck steht, das Sicherheitsventil mit gellenden Pfeilen anspritzt, so war der von einigen Bürgerinitiativen praktizierte Ungehorsam ein Alarmsignal, das die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein brennendes Problem lenken sollte.
Bürgerinitiativen im Umweltschutz_
Empirische Studien, deren Ergebnisse Repräsentativität für das Gesamtphänomen „Bürgerinitiative“ in der Bundesrepublik Deutschland beanspruchen können, gibt es nicht. Selbst bei räumlich und thematisch begrenzten Untersuchungen ist die Repräsentativität in den meisten Fällen fraglich. Alle Untersuchungen bis auf wenige Ausnahmen sind nach Auftrag staatlicher Organe durchgeführt wurden.
Für den Umfang der Bürgerinitiativen-Aktivitäen sind keine zuverlässigen Zahlen bekannt. Repräsentative Umfragen ermittelten Anteile von 3% und 1,3% für Bürgerinitiativen-Mitglieder. Für 1972/73 ist insgesamt von 3000-4000 Bürgerinitiativen mit 60000-120000 Aktivmitgliedern auszugehen. Für die Zeit nach 1976 sind für die Bürgerinitiativen allgemein nur empirische unabgesicherte Schätzungen bekannt, sie schwanken für die Bürgerinitiativen-Zahl zwischen 4000 und 50000. Die Zahl der Umwelt-Bürgerinitiativen liegt wahrscheinlich bei ca. 3000-3000, in denen bis 230000 Personen aktiv sind. BÜRGERINITIATIVEN werden von der Mehrheit der Bevölkerung positiv eingeschätzt. 43% sind eventuell bereit, in einer Bürgerinitiativen mitzuarbeiten. In Fragen des Umweltschutzes ist die Glaubwürdigkeit von Bürgerinitiativen weit höher als die von Politikern, 48% erwarten am ehesten von Bürgerinitiativen einen wirkungsvollen Beitrag zum Umweltschutz, von Parteien und Gewerkschaften nehmen dies nur 8% bzw. 2% an.
Zuverlässige Daten zum Anteil von Umwelt-Bürgerinitiativen an Bürgerinitiativen allgemein sind nicht vorhanden. Für die Zeit vor1976 liegt der Anteil etwa zwischen 40% und 50%. Neuere Ergebnisse liegen nicht vor. Umwelt-Bürgerinitiativen haben sich bis 1977 als Schwerpunkte die Bereiche Ener-gie(40%), Verkehr(33%) und Landschaftsschutz(32%) herausgebildet. Erste Ergebnisse zur Perzeption von Umweltbelastungen durch Bürgerinitiativen-Mitglieder deuten darauf hin, dass sich die größten Differenzen zur Gesamtbevölkerung in der Einschätzung geplanter Einrichtungen ergeben, insbesondere in den Bereichen der Energie und des Landschaftsschutzes. Daher scheint weniger die akute Umweltbelastung als die Sorge um die zukünftige Umweltqualität zur Bildung von Umwelt-Bürgerinitiativen zu führen. Die Ergebnisse der Ziel- und Handlungsebene der Umwelt-Bürgerinitiativen widerlegen die These der engen räumlichen und zeitlichen Begrenzung der b-Aktivitäten.59% der Umwelt-Bürgerinitiativen verfolgen sowohl konkrete als
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auch allgemeine Ziele, über 2000 Gruppen sind in Dachvebänden zusammengeschlossen, 58% als eingetragene Vereine organisiert. 52% der 1977 erfassten Umwelt-Bürgerinitiativen sind vor 1973 gegründet wurden. Die Zahl der Mitglieder pro Bürgerinitiativen ist, vergleichlich mit 1972, stark angestiegen. Der Anstieg betrifft jedoch vornehmlich registrierte Mitlieder. Die Differenz zwischen registrierten und aktiven Mitgliedern hat sich ebenfalls vergrößert.
Die Verstetigung und Ausweitung von Bürgerinitiativen-Aktivitäten bringt eine Formalisierung der Entscheidungsprozesse mit sich. Personal- und Sachentschädigungen werden in der Regel durch Abstimmung getroffen, formelle Verfahren vorwiegend von Bürgerinitiativen mit kleiner Mitgliederzahl und lockeren Organisationsgrad angewandt.
Mitglieder von Bürgerinitiativen sind überwiegend männlich, zwischen 25 und 40 Jahre alt, haben höhere Schulbildung und sind Beamte oder Angestellte. Die Analyse der potentiellen Mitglieder von Bürgerinitiativen ergibt analoge Ergebnisse, Ausnahmen: Die stärkste Bereitschaft zu Bürgerinitiativen-Arbeit wird von Befragten zwischen 14 und 25 Jahren geäußert, die Bereitschaft von Arbeitern stieg an und entspricht etwa dem Durchschnittswert der Gesamtbevölkerung.
Umwelt-Bürgerinitiativen haben die zahl ihrer Aktionsformen stark erhöht. Durchschnittlich wurden 5,9 angewandte Aktionsformen aufgeführt. Der Schwerpunkt liegt hierbei in der Mobilisierung der Öffentlichkeit. Der Konfliktpartner ist dabei zu 79% die Verwaltung, 75% der Umwelt-Bürgerinitiativen legten konkrete Alternativpläne vor. Über die Entwicklung gesamtgesellschaftlicher Alternativkonzepte sind keine generalisierbaren Daten bekannt.
Konkrete Formen - Beispiele christlicher Basisgruppen:
Die konkreten Formen christlicher bzw. kirchlicher Umwelengagements in Gestalt von „Basisgruppen“ möchte ich kurz vorstellen. Das erscheint mit daher so wichtig, weil zu Recht der Einwand erhoben werden könnte, die Kirche und in der Kirche rede man zwar über Bürgerinitiativen, nun auch noch über ihre etwaigen historischen Ursprünge und Parallelen und geistig tief verwurzelten Impulse. Doch man ließe es mit dem Analysieren und Deklamieren sein Bewenden haben. Dass dem nicht so ist, möchte ich mit der Skizzierung einiger solcher Basisgruppen belegen.
Ich nenne:
1) Die „Interessengemeinschaft zur Bekämpfung des Fluglärms e.V.“ 2) Den „Evangelischen Gesprächskreis Naturwissenschaft - Landschaft -Mensch“, der sich später “Ökumenische Aktionsgruppe Mensch - Umwelt“ nannte
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3) Die „Ökumenische Arbeitsgruppe für Umweltfragen im Main-Taunus-Kreis e.V.“ 4) Die „Bürgerinitiativen östlicher Untermain e.V.“ 5) Die im Frankfurter Westend tätige „Aktionsgemeinschaft Westend“ 6) Das „Umweltschutzforum Berlin auf kirchlicher Basis“ 7) Die „Saaraktion Mensch und Umwelt gegen Zerstörung der Lebensgrundlagen e.V.“ 8) Den „Landeschristlichen Arbeitskreis für Umweltfragen in Schleswig-Holstein“ 9) Die „Aachener Bürgerinitiativen Christen und Politik“ 10) Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter im Raum Kaiserstuhl
Die Beschreibung der Gruppen muß sich auf einige wenige Angaben beschränken. Freilich wären die Aufgaben und Zielsetzungen, die Erfolge und Mißerfolge jeder der genannten Gruppe einer eigenen ausführlichen Darstellung wert. Zukunftserwägungen:
Die jüngsten demoskopischen Erhebungen legen die Annahme nahe, dass die Parteien der Bundesrepublik Deutschland nach 1976 von ihrem Legitimationshochplateau zu Beginn der 70er Jahre herunter gerutscht sind. Dies ist nicht nur, aber auch auf die Ausweitung der Bürgerinitiativen erster Generation („Selbthilfeorganisationen“ mit Zielsetzung auf „lokal“er und „kommunal“er Ebene) zu einer politischen und „sozialen Bewegung“ zurückzuführen. Die Zahl der Bürgerinitiativen erster Generation wird im freiheitlichen Vorsorgestaat notwendig zunehmen. Da die Entstehung aller drei Parlamentsparteien für den Ausbau der Kernenergie letztlich gefallen ist und weil dahinter eine umfassende politisch-ökonomisch-soziale Konzeption steht, wird sich der Konflikt der Parlamentsparteien mit den Bürgerinitiativen der zweiten Generation(„weniger lose Organisation“ „im Zeichen einer allgemeinen Zielsetzung“) verschärfen. Die Alternative der Bürgerinitiativen zweiter Generation scheint gegenüber der Konzeption der Parlamentsparteien umfassend kompromißunfähig.
In dieser Situation wäre es eine sowohl demokratietheoretisch als auch machtpragmatisch schwerwiegende Fehlleistung, wenn die Parteien ihre legitime Gegnerschaft gegenüber Bürgerinitiativen der zweiten Generation auf die der ersten übertrügen. Die Parteien verschlechtern ihre Chance, sich mit umfassenden, den Umweltschutz stärker berücksichtigenden Programmen gegenüber der Konkurrenz der Bürgerinitiativen zweiter Generation durchzusetzen in dem Maße, wie sie ihre ursprüngliche Beteiligungsbereitschaft gegenüber den Bürgerinitiativen der ersten Generation weiter einschränken.
Fazit:
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Die Bürgerinitiativen als vierte Gewalt? Sofern Bürgerinitiativen Ausdruck des Volkswillens sind, d.h. von der großen Mehrheit der Bevölkerung in ihren Forderungen und Zielen unterstützt werden, sind sie nicht nur die vierte, sondern die erste Gewalt, denn die unmittelbare Äußerung des Volkswillen hat Vorrang vor der abgeleiteten Entscheidungsbefugnis der Repräsentanten. Die Politisierung und Aktivierung der Bürger kann in einem Land, das in seiner Verfassung verkündet:“ Alle Gewalt geht vom Volke aus“ eigentlich nur begrüßt werden. Wer sich jedoch den politisch aktiven und engagierten Bürger wünscht, der muß ihm auch Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte einräumen. Die Forderung nach Erweiterung bzw. Einführung plebiszitärer Elemente in die bundesdeutsche Verfassung ist daher nur eine logische Konsequenz des Rufes nach dem politisch mündigen Bürger. Sie ist zugleich eine logische Konsequenz der Bürgerinitiativen-Bewegung. Von ihnen könnte daher ein heilsamer Einfluß auf die Parteien und politischen Institutionen dieses Landes, die bisher konkurrenzlos das politische Feld beherrschten, ausgehen. Denn auch hier gilt die alte Wahrheit: Ein Volk hat letzten Endes die Regierung, die es verdient.
Quellenangaben:
• „Bertelsmann-Lexikothek“
• „Meyers Neues Lexikon“
• „Das Große Lexikon in Farbe“ (Merit)
• „Schülerduden - Das Wissen von A bis Z“
• „Schülerduden - Politik und Gesellschaft“
• „Duden - Die Deutsche Rechtschreibung“
• „Bürgerinitiativen in der Gesellschaft“ Politische Dimensionen und Reaktionen (Necker-Verlag/Hrsg. Volker Hauff)
• „Bürger machen Politik“ Einflußnahme-Strategien-Bürgerinitiative (Beltz/Hrsg. Rainer Buck)
• „Von der Illegalität ins Parlament“ Werdegang und Konzepte der Neuen Bürgerbewegungen (Ch,Links/Hrsg. Helmut Müller-Enbergs, Marianne Schulz, Jan Wielgohs)
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- Arbeit zitieren
- Thomas Schrowe (Autor:in), 1999, Bürgerinitiative, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102666