Gerechtigkeit als Grundsatz der Besteuerung

Eine Würdigung wesentlicher Aspekte des deutschen Einkommensteuerrechts


Bachelorarbeit, 2020

80 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Motivation der Arbeit

2. Gerechtigkeit als Grundsatz der Besteuerung
2.1 Was ist Gerechtigkeit? Eine umfassende Definition
2.2 Grundsätze der Besteuerung
2.3 Geschichte der Steuergerechtigkeit
2.4 Grundprinzipien der Steuergerechtigkeit
2.5 Rolle der Steuerpolitik: Reformen und Ansätze für ein gerechtes Steuersystem

3. Grundsystematik der Einkommensteuer in Deutschland und Würdigung wesentlicher Aspekte hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit
3.1 Überblick über die Systematik der Einkommensteuer
3.2 Geschichte und Wesen der Einkommensteuer
3.3 Würdigung wesentlicherAspekte hinsichtlich der Steuergerechtigkeit
3.3.1 Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer
3.3.1.1 Einkunftsarten und deren Behandlung
3.3.1.2 Abziehbarkeit von Aufwendungen der Berufsausbildung
3.3.1.3 Außergewöhnliche Belastung nach § 33 ff. EstG
3.3.2 Tarif der Einkommensteuer
3.3.2.1 Progressiver Einkommensteuertarif
3.3.2.2 Ehegattensplitting
3.3.3 Lenkungsnormen im Einkommensteuerrecht
3.4 Weitere denkbare Regelungen des Einkommensteuerrechts, deren Gerechtigkeit in Frage gestellt werden kann

4. Wahrnehmung der Gesellschaft und Kritik an der Gerechtigkeit der Besteuerung
4.1 Wahrnehmung der Steuergerechtigkeit in Deutschland, sowie verhaltensbezogene und soziale Folgen.
4.2 Mögliche Gründe für die Wahrnehmung der Steuergerechtigkeit in Deutschland
4.3 Einfluss soziologischer und psychologischer Aspekte auf die Wahrnehmung von Steuergerechtigkeit

5. Zusammenfassung der Ergebnisse, Handlungsempfehlungen und kritische Würdigung

Vorwort

Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen meines Studiums der Betriebswirtschaft an der Technischen Hochschule Ingolstadt.

Zu dem Thema inspiriert haben mich die letzten acht Jahre meiner Tätigkeit in der Steuerkanzlei und die Zusammenarbeit mit den Mandanten. An dieser Stelle möchte ich mich recht herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen für die bereichernde Zusammenarbeit bedanken.

Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Jordan für die gute Betreuung dieser Arbeit.

Außerdem danke ich der Hanns-Seidl-Stiftung e.V. für die finanzielle Unterstützung während meines Studiums.

Ingolstadt, den 15.01.2020

Katharina Petra Mayer

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Motivation der Arbeit

Im Artikel drei des deutschen Grundgesetzes verankert, gilt die Gleichheit vor dem Gesetz und damit einhergehend die Gerechtigkeit als wichtiger Grundpfeiler unseres Rechtsstaates. Schon Immanuel Kant maß der Gerechtigkeit eine große Bedeutung zu, in dem er soweit ging zu sagen „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben“1.

In einer aktuellen Umfrage geben 82 % der Befragten an, dass sie das Steuersystem in Deutschland als ungerecht empfinden. Auf die Frage welche Bereiche in Politik und Sozialem in Deutschland als ungerecht empfunden werden, landete das Steuersystem auf Platz eins, dicht gefolgt von der Einkommensverteilung und dem Rentensystem2. Es stellt sich die Frage ob das deutsche Steuersystem tatsächlich besonders ungerecht gestaltet ist oder worauf sich die wahrgenommene Ungerechtigkeit zurückführen lässt.

Bei dem Vergleich der verschiedenen Steuerarten des Steuersystems in Deutschland ist die Einkommensteuer schon aufgrund ihres hohen Steueraufkommens von großer Bedeutung. Die unterschiedlichen Erhebungsformen miteingerechnet hat die Einkommensteuer das höchste Steueraufkommen unter den Steuerarten in Deutschland3. Als Steuerart, in der das Leistungsprinzip und das Gleichheitsprinzip in besonderer Weise Anwendung finden wird die Einkommensteuer von der Kölner Steuerrechtsschule als Königin der Steuern bezeichnet4.

Die Idee der Steuergerechtigkeit ist nicht neu und so sind viele der Dokumente zum Thema Steuergerechtigkeit sind schon vor Jahrzehnten entstanden5, doch in einer Zeit, in der soziale Ungleichheit6 zunimmt, die Bundesrepublik Deutschland von Rekordsteuereinnahmen7 profitiert und die Bevölkerung weiterhin von der Ungerechtigkeit des Steuerrechts überzeugt ist, hat dieses Thema nicht an Bedeutung verloren. Nach John Rawls muss eine „Theorie [...] fallen gelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind“8. Angesichts der Forderung nach Gerechtigkeit im Steuersystem, verfolgt die vorliegende Arbeit folgende Forschungsfrage:

Inwieweit vertreten einzelne Aspekte des deutschen Einkommensteuerrechts den Besteuerungsgrundsatz der Gerechtigkeit und wie gerecht wird das Steuersystem von der Bevölkerung wahrgenommen?

Gegenstand der Arbeit ist es, anhand wesentlicher Aspekte des Einkommensteuerrechts zu prüfen, ob die Gerechtigkeit der Besteuerung objektiv gegeben ist. Dabei ist es die Zielsetzung Gerechtigkeit als Begriff der Rechtsphilosophie näher zu ergründen und die Ansätze verschiedener Perspektiven aus Rechtsphilosophie, Steuerrechtswissenschaft und Soziologie darzulegen. Des Weiteren soll die Arbeit einen kurzen Überblick über das aktuelle System der Einkommensteuer, den historischen Hintergrund und das Wesen der Einkommensteuer geben. Im Anschluss werden die Gerechtigkeitstheorien auf verschiedene Aspekte der Einkommensteuer angewandt, um anhand ausgewählter Grundprinzipien der Steuergerechtigkeit zu prüfen, ob sie als gerecht einzustufen sind. Weiterhin soll die Wahrnehmung der Gerechtigkeit des Einkommensteuerrechts in der Gesellschaft anhand von Statistiken und Umfragen zusammengetragen werden. Zuletzt werden Gründe für die Wahrnehmung recherchiert und untersucht. Eine Zusammenfassung der Arbeit, die Handlungsempfehlungen und die kritische Würdigung zur Gerechtigkeit der Besteuerung im Einkommensteuerrecht runden die Arbeit ab.

2. Gerechtigkeit als Grundsatz der Besteuerung

2.1 Was ist Gerechtigkeit? Eine umfassende Definition

Dem Rechtswissenschaftler Bernd Rüthers nach, ist Gerechtigkeit „ein Urtrieb von oft unterschätzter Wirkungsmacht, vergleichbar dem Durst, dem Hunger und der Sexualität“9 10 11. Mit dieser Aussage verdeutlichte er die Tragweite der menschlichen Sehnsucht nach Gerechtigkeit.

Bei dem Versuch ein System auf seine Gerechtigkeit zu prüfen, ist es unumgänglich den Begriff der Gerechtigkeit zunächst genau zu bestimmen und bestimmte Kriterien festzulegen, anhand derer dieserWert gemessen werden kann.

Der römische Jurist Ulpian definierte die Tugend der Gerechtigkeit als den „beständigen und dauerhaften Willen, jedem sein Recht zuteilwerden zu lassen“1011. Als kritisch gesehen wird bei dieser Definition, dass es an der Festlegung von Kriterien fehlt, anhand derer Gerechtigkeit festgemacht werden kann. So kann diese lediglich eine erste Orientierung geben. Bei dem Versuch Ungerechtigkeit von Gerechtigkeit abzugrenzen könnte man ein Verhalten ohne Bindung an Regeln und Willkür anführen. Da der Begriff der Gerechtigkeit als wandelbar gilt und abhängig von Zeit und Kultur ist, kann eine wissenschaftliche Begründung nur in Gestalt von Konsistenz- und Kohärenzanforderungen erfolgen12.

Gerechtigkeit kann auch im Sinne seiner sozialen Funktionen gesehen werden. Dabei sieht der Rechtswissenschaftler Winfried Kluth in Gerechtigkeit auch ein Mittel zur Bewahrung des sozialen und inneren Friedens. Als schlüssige Kriterien nennt er die konstitutionelle Gründungsfunktion der Menschenwürde und die Ausgestaltung einzelner Freiheits- und Gleichheitsrechte. Ersteres entsteht durch die Anerkennung des Menschen als Rechtssubjekt und fundamentale Gleichheit aller Menschen. Dabei sei der heutige Konsens, dass einige Kriterien als Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit angesehen werden. Dazu gehört die Rechtsstaatlichkeit als Gegensatz staatlicher Willkür, die Freiheitsrechte, die durch Diskriminierungsverbote ergänzten Gleichheitsrechte, sowie ein elementares Set sozialer Rechte zur Befähigung der Entfaltung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.13

Nach dem Begründer der Kölner Steuerrechtsschule wird Gerechtigkeit als Grundregel menschlichen Zusammenlebens verstanden, bei der jedoch die Auffassung von Gerechtigkeit je nach Zeit und Ort unterschiedlich sein kann14. Als Tugend, jedem „das Seine“ zuzuteilen entwickelte Aristoteles den Begriff weiter und Unterschied erstmals zwischen ausgleichender und zuteilender Gerechtigkeit. Dabei wird im Verhältnis der Bürger untereinander von ausgleichender Gerechtigkeit und im Verhältnis des Bürgers zum Staat von zuteilender Gerechtigkeit gesprochen15.

Bei der Entscheidung „Jedem das Seine“ zuteilen zu wollen, gibt es nach Chaim Perelman sechs Möglichkeiten dies zu tun, indem man „Jedem das Gleiche“, „Jedem nach seinen Verdiensten“, „Jedem nach seinen Werken“, „Jedem nach seinen Bedürfnissen“, „Jedem nach seinem Rang“ und „Jedem nach dem ihm durch Gesetz Zugeteilten“ gibt. Dabei handelt es sich bei Ersterem um die Regel des absoluten Egalitarismus, der eine bedingungslose Gleichbehandlung auf allen Ebenen fordert. Alle weiteren Formen knüpfen die Verteilung an unterschiedliche Maßstäbe.16 Dabei gilt, dass keines der Kriterien allgemeine Gültigkeit erfahren kann, sondern die unterschiedlichen Formen eher fallabhängig angewandt werden können. Tipke ergänzt das Modell von Perelman an dieser Stelle um das Kriterium „Jedem nach seiner Fähigkeit“ und sieht dies als sinnvolles Kriterium für die Messung der Steuergerechtigkeit17.

Die Rechtsphilosophie sieht in der Gerechtigkeit den normativ-prinzipiengeleiteten Willen der bereits aus der Wortherkunft des Begriffs „iustizia“ hergeleitet werden kann. Dieses Streben kann sich sowohl als persönliche Haltung der Personen in Form einer Tugend oder Rechtschaffenheit, als auch als organisierter Rechtswillen einer Institution äußern. Aus der Sicht des Rechtsphilosophen Köhler ist es zwingend notwendig den Begriff der Gerechtigkeit auf Prinzipien zu begründen und differenziert zu betrachten.18

Paul Kirchhof versucht Gerechtigkeit mit 5 Grundanliegen zu umschreiben. Das erste Anliegen ist es, dass niemand die Rechte anderer verletzen darf. Außerdem soll jeder über genug Selbstbestimmung verfügen um nach seinem persönlichen Glück zu streben. Entscheidungen, die nur das Individuum betreffen, soll jeder frei treffen dürfen. Haben Entscheidungen jedoch Auswirkung auf Andere, muss sich das Individuum gegenüber den Betroffenen verantworten. Im Fall des Staates sind Entscheidungen gegenüber dem Bürger zu verantworten, insofern diese ihn betreffen. Diese Verantwortlichkeiten müssen so gehandhabt werden, dass sich Entscheidungen z.B. Gerichtsurteile verallgemeinern und auf die Allgemeinheit übertragen lassen. Zuletzt soll das Recht auch eine Kultur des Maßes fördern und diejenigen belohnen, die beständig nach Besserem streben aber Maß und Grenze kennen19.

Nicht unerwähnt bleiben sollte bei der Frage nach der wahrgenommenen Gerechtigkeit die Theorie der sozialen Gerechtigkeitsforschung. Diese sieht die Gerechtigkeit als einen ähnlichen Begriff wie „das Gute“ oder „das Schöne“ und versucht die Antwort anhand von zwei unterschiedlichen Fragen zu beantworten. Die einzig richtige Antwort kann es darauf nicht geben und es geht immer mehr um ein Streben nach Etwas. Zum einen geht es darum wie die Welt sein sollte und zum anderen wie sie tatsächlich ist und wie sie wahrgenommen wird.20

Der Begriff der Gerechtigkeit ist nicht eindeutig bestimmt und wird je nach Wissenschaft und Kontext unterschiedlich interpretiert. Es lassen sich aber bestimmte Gemeinsamkeiten erkennen. Was immer wieder auftaucht ist der „Wille“ oder das „Streben“ nach einem elementaren Wert, einer Art Perfektion, die vielleicht nie erreicht wird oder auch nicht erreicht werden kann, da sie nicht eindeutig für jeden Menschen gleich zu definieren ist. Trotzdem lohnt es sich danach zu streben. Häufig erscheint auch das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit, jedem sein Recht zuteilwerden zu lassen und ihn vor Willkür zu schützen. Als ein Teil der Gerechtigkeit ist auch die Gleichheit ein Begriff, der in dem Zusammenhang häufiger auftaucht. Dabei erscheint sie entweder als individuelle Gleichheit „Jedem das Seine“, als Gleichheit nach verschiedenen Kriterien „Jedem nach seiner Fähigkeit“ oder als elementarerBegriff i. S. d. Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz.

Betrachtet man die Unterschiede der verschiedenen Ansätze so fällt auf, dass Kluth und Kirchhoff die persönliche Entfaltung, die Selbstbestimmung, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Freiheit im Gegensatz zu Wegener, Köhler und Tipke in die Begriffsbestimmung miteinbinden. Wegener hingegen setzt aus Sicht der Soziologie vollkommen andere Maßstäbe in dem er den Blick darauf richtet wie die Welt sein sollte und wie sie tatsächlich wahrgenommen wird. Köhler hingegen ergänzt in seiner Definition die Gerechtigkeit als persönliche Tugend.

Wie von Tipke und Kluth angeführt kann die Definition je nach den äußeren Zuständen (Zeit, Kultur Ort, Wissenschaft) andere Schwerpunkte setzen und anders interpretiert werden.

Hinsichtlich der Schwerpunkte dieser Arbeit wird für die Definition kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben. Sie soll sich auf die wesentlichen Aspekte konzentrieren, die auch für das Steuerrecht besonders relevant sein könnten.

Eine passende Definition könnte daher folgendermaßen ausgestaltet sein: Gerechtigkeit, als Grundlage menschlichen Zusammenlebens, ist das Streben nach Gleichheit, jedem sein Recht zuteilwerden zu lassen und der Schutz vor Willkür.

2.2 Grundsätze der Besteuerung

Die ersten Maßstäbe bei der Festlegung von Grundsätzen der Besteuerung lieferte Adam Smith mit seinen vier Steuermaximen equality, certainty, convenienve and economy. Mit „equality“ meint Smith, dass die Bürger eines Staates ähnlich wie bei der Verwaltung eines großen Gutes ihren Beitrag im Verhältnis zur Größe ihres Anteils an dem Gut beisteuern sollen. Des Weiteren sei die Bestimmtheit über die Höhe der Steuerlast, den Zeitpunkt der Zahlung und der Schutz vor Willkür eine der wichtigsten Rahmenbedingungen, zur Vermeidung von Bestechung und Übermut (certainty). Als weitere Grundregel sorgt „convenience“ für eine Erhebung der Steuer zu einem Zeitpunkt, an dem es dem Steuerpflichtigen am leichtesten fällt seine Zahlung zu leisten. Der Begriff „economy“ steht dafür, dass die Steuer wirtschaftlich sinnvoll erhoben werden soll und dem Bürger so wenig wie möglich Geld entzieht. Dazu führt Smith an, dass die Verwaltung zur Erhebung der Steuer selbst etwas von der Steuer aufzehrt, die Steuer dem „Gewerbfleiß [sic] hinderlich sein“ kann, eine unkluge Steuer die Hinterziehung oder Umgehung der Steuer befördern kann und die Last des mit der Steuer verbunden Verwaltungsaufwands den Bürger mehr belasten kann, als es dem Staat nutzen würde21.

Darauf aufbauend teilte Adolph Wagner die Grundsätze der Besteuerung in die vier Kategorien Finanzpolitische Prinzipien, Volkswirtschaftliche Prinzipien, Prinzipien der Gerechtigkeit oder der gerechten Steuerverteilung und Steuerverwaltungsprinzipien ein. Unter den Prinzipien der Gerechtigkeit verstand er vor allem die Allgemeinheit und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung22.

Als weiteren Meilenstein ist auf diesem Gebiet die Arbeit von Fritz Neumark an der Universität Tübingen zu verzeichnen. Er unterscheidet zwischen fiskalisch­budgetäre, ethisch-sozialpolitische, wirtschaftspolitische und steuerrechtliche und steuertechnische Besteuerungsgrundsätze23.

Gemäß des Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sind „alle Menschen [...] vor dem Gesetz gleich“. Aus diesem Absatz ist auch der Grundsatz der Steuergerechtigkeit und damit einhergehend die Ausrichtung der Besteuerung nach derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit24.

Nach Tipke ergibt sich aus dem Grundgesetz lediglich die Gleichheit, welche nur eine Komponente der Gerechtigkeit sei. Zu der Gleichgerechtigkeit gehöre immer auch die Sachgerechtigkeit, welche die Gerechtigkeit im Allgemeinen bilden.25

Bei den unterschiedlichen Theorien über die Grundsätze der Besteuerung besteht Einigkeit darüber, dass Steuergerechtigkeit immer zu den wichtigsten Grundsätzen der Besteuerung zählen muss.

2.3 Geschichte der Steuergerechtigkeit

In der Zeit vor der Französischen Revolution in Frankreich wurden immer wieder Steuern eingeführt, die vorwiegend Menschen aus ärmeren Schichten verstärkt besteuerten und von der Belastung reicherer Bürger absahen. Der Analytiker Alexis de Tocqueville beobachtete, dass der Staat die Gesellschaft dadurch zunehmend spaltete26.

Zur Verwirklichung der Gleichheit in der Besteuerung befand sich erstmals 1818 eine Klausel zur Allgemeinheit der Besteuerung in der Bayrischen Verfassung. Demnach sollte die „Theilnahme [sic] an den Staats-Lasten [...] für alle Einwohner des Reichs allgemein, ohne Ausnahme irgendeines Standes und ohne Rücksicht auf vormals bestandene besondere Befreyungen [sic]“27 sein.

In ähnlichem Wortlaut folgten dem die Badener Verfassung von 1818 und die Preußische Verfassung von 1850. Schließlich schloss sich die Weimarer Verfassung dieser Entwicklung an und fortan war die Steuergleichheit ein Teil des Art. 13428. Dieser Artikel galt zum damaligen Zeitpunkt als höchster Besteuerungsgrundsatz und war für den Gesetzgeber bindend29.

Die heute noch geltende Formulierung in der Definition von Steuern als „Geldleistungen, die [...] allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“30 wurde erstmals in der Reichsabgabenordnung 1919 verwendet und 1977 in den § 3 Abs. 1 S. 1 AO übernommen31.

Mit dem veränderten Weltbild des Dritten Reiches ging eine Änderung in der Auslegung der Gesetze einher. Auch die Rechtsprechung und die Steuergesetzgebung blieben davon nicht verschont. Der steuerliche Gleichheitsgrundsatz wurde ausgehebelt, da im Sinne der Rassenlehre „biologisch ungleiches nicht rechtlich gleich“32 behandelt werden könne33. Im Zuge des Antisemitismus wurden Sondersteuern für Juden erhoben, mit dem Ziel ihnen ihr Vermögen zu entziehen. Somit wurden Grundprinzipien wie die Gleichheit der Besteuerung für einige ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen nicht anerkannt, was sich mit dem Gleichheitsprinzip in sich widerspricht.34

Mit Beginn der Bundesrepublik Deutschland wandelte sich das Bild. Das Bild der Steuerpolitik wurde zunehmend von wirtschaftspolitischen Aspekten geprägt, da die Stärkung des Wirtschaftswachstums im Vordergrund stand35. Effizienzgewinne wurden der Verteilungsgerechtigkeit vorgezogen. Mit der Zeit rückten auch die Lenkungs- und Steuerungsfunktion immer mehr in die Mitte der Diskussion. Die Einkommensteuer als Mittel der sozialen Umverteilung rückte in den Hintergrund36. In den darauffolgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Wahlversprechen für ein Steuersystem im Sinne der Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft. Die angekündigten Reformen für ein gerechtes oder einfaches Steuersystem blieben jedoch aus37.

Im Laufe der Zeit verändern sich die Vorstellungen von Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Daher hat sich auch der Gerechtigkeitsbegriff im Steuerrecht immer wieder gewandelt. Heute unterscheidet man zwischen der horizontalen und der vertikalen Steuergerechtigkeit. Bei der vertikalen Steuergerechtigkeit muss die Besteuerung von Steuerpflichtigen mit hohem Einkommen im Vergleich zu Steuerpflichtigen mit niedrigem Einkommen im Vergleich unterschiedlich hoch sein. Horizontal betrachtet sollen Steuerpflichtige mit gleich hohem Einkommen auch gleich hoch besteuert werden38

2.4 Grundprinzipien der Steuergerechtigkeit

Um Gerechtigkeit als einen der Grundwerte in ein Gesetz einfließen zu lassen ist es sinnvoll bestimmte Grundprinzipien zu definieren, denen der Geist des Gesetzes folgen soll.

Schon die grundlegende Methodik der Kölner Steuerrechtsschule ist durch das Aufstellen von Prinzipien geprägt, da diese nach ihrer Auffassung die Basis für ein gerechtes Steuersystem bilden39. Vergleichbar mit anderen Wissenschaften ist auch das Steuerrecht unterschiedlichen externen Einflüssen ausgeliefert, deren Kausalverlauf nicht immer erkennbar ist. Durch seine Kompliziertheit, fehlender systemgestaltender Grundsätze, innerer Widersprüchlichkeiten und einer hohen Dynamik an Änderungen wird von einem Steuerchaos gesprochen. Steuerprinzipien sollen dabei die Aufgabe erfüllen, dieses Chaos in geordnete Bahnen zu lenken. Die Festlegung von Richtig und Falsch kann im Steuerrecht nicht eindeutig durch ja oder nein beantwortet werden. Als allgemeine Rechtsgedanken, die in ihrer Auslegung konkretisiert werden müssen kann die Richtigkeit nicht empirisch, sondern nur durch Argumentation und Vernunft beantwortet werden40.Diese Argumentation fällt leichter, wenn man sich an Prinzipien orientieren kann, die wesentlich greifbarer sind als ein so allumfassender Wert wie Gerechtigkeit.

So beeinflussen Prinzipien die Kriterien der Besteuerung nicht direkt, sondern rechtfertigen die Erhebung der Abgabe und den konkreten Beitrag zur Gesamtsteuerlast an sich41.

Prinzipien geben der Rechtswissenschaft eine Struktur und bilden das Gerüst zur Herstellung von Recht und Ordnung. Die Basis für diese Ordnung bilden Fundamentalprinzipien wie das Leistungsfähigkeitsprinzip und daraus abgeleitete Subprinzipien wie das Prinzip der Gleichwertigkeit von Einkunftsarten42.

Die Orientierung an Grundprinzipien scheint bei der Prüfung eines Grundsatzes der Besteuerung Sinn zu machen. Diese Prinzipien werden je nach Autor unterschiedlich untergliedert und unterschieden. Dabei ist es in Bezug auf das Thema dieser Arbeit interessant, besonders die Prinzipien zu betrachten, die in der Schnittmenge betrachtet für die Themen Gerechtigkeit und Einkommensteuerrecht besonders interessant sind.

Vorstellung relevanter Prinzipien

Der allgemeine Gleichheitssatz i. S. d. Art 3 Abs. 1 GG könnte so interpretiert werden, dassjeder Bürger den gleichen Betrag an Steuern zu zahlen hätte. Jedoch wird spätestens mit der Aussage des Bundesverfassungsgerichts klar, dass „die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz [...] nicht einen gleichen Betrag von jedem Inländer“ fordert, sondern „daß [sicjjeder Inländerje nach seiner finanziellen Leistungsfähigkeit gleichmäßig zur Finanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben herangezogen wird“43. Als Maßstab gilt es demnach Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln44. Wird das Gleichheitsprinzip durchbrochen, so bedarf es einem sachlichen Grund. Dieser muss verhältnismäßig und angemessen sein, es darf sich also nicht um eine willkürliche Ungleichbehandlung handeln45.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip lässt sich laut BVerfG aus der Verfassung ableiten. Das BVerfG beruft sich dabei zum Teil auf den Grundsatz der steuerlichen Lastengleichheit, abgeleitet durch den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG, auf den Gleichheitssatz selbst oder auf die Steuergerechtigkeit46. Außerdem stützt es sich aber auch auf andere Artikel des Grundgesetzes wie beispielsweise dem Artikel 6 (Schutz von Ehe und Familie). Es ist auf keine Steuerart beschränkt, ist aber besonders relevant für Ertragsteuern. Maßgebliche Komponenten sind die horizontale und die vertikale Steuergerechtigkeit. Erstere sagt aus, dass Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit gleich zu besteuern sind. Letzteres beschreibt, dass das Ausmaß der Leistungsfähigkeit in Bezug auf die Höhe angemessen berücksichtigt werden muss47. Ein weiteres Grundprinzip ist die Besteuerung des Nettoeinkommens (Nettoprinzip). Dabei besagt das objektive Nettoprinzip, dass sich das steuerliche Einkommen aus der Differenz aus Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen ergibt48. Das subjektive Nettoprinzip bestimmt die Steuerfreiheit des Existenzminimums49.

Auch das Verbot der Übermaßbesteuerung, das Sozialstaatsprinzip und das Gebot der Folgerichtigkeit werden aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip abgeleitet50.

Dabei ist die Leistungsfähigkeit nur eine von vielen möglichen Eigenschaften, nach denen eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann. Wenn ein Steuerpflichtiger mehr verdient als der andere, so ist und bleibt es eine Ungleichbehandlung, den ersteren mehr zu besteuern als den letzteren. Allerdings ist diese Art der Ungleichbehandlung sachlich durch die Leistungsfähigkeit zu rechtfertigen. Dies kann bei anderen sachlichen Gründen analog angewendet werden51.

Im Zuge des Leistungsfähigkeitsprinzips werden individuell erhaltene staatliche Leistungen von der Steuerbemessungsgrundlage getrennt. Der Bürger hat keinen Anspruch auf Einflussnahme auf die Verwendung der von ihm gezahlten Steuergelder. Dies gibt dem Staat eine finanzielle Entscheidungsfreiheit über die Steuergelder und ermöglicht eine langfristige Planung zur Investition der Steuergelder. Außerdem orientiert sich das Leistungsfähigkeitsprinzip ausdrücklich an der Belastbarkeit des Steuerpflichtigen und nicht an der Höhe der Staatseinnahmen, die erzielt werden sollen52.

Das Prinzip der Opfergleichheit dient als Maßstab zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit eines Individuums. Das auferlegte subjektive Opfer soll für alle gleich groß sein53. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem gleichen absoluten dem gleichen proportionalen und dem gleichen marginalen Opfer. Dazu gibt es keine Einigkeit darüber, welches Konzept die Gerechtigkeit der Besteuerung am besten widerspiegelt54. Unter der Annahme, dass das subjektive Opfer eines wohlhabenden Menschen größer sein kann, als das Opfer eines weniger wohlhabenden Menschen, wenngleich die subjektive Belastung gleich groß bleibt, ist das Modell des gleichen proportionalen Opfers am ehesten gerecht.

Das Prinzip sozialstaatlich gerechter Besteuerung lässt sich aus dem Grundgesetz ableiten, wonach die Bundesrepublik Deutschlang ein Sozialstaat ist. Daraus resultiert das auch Prinzip des steuerfreien Existenzminimums und die Progressivität der Einkommensteuer55.Die Freistellung des Existenzminimums basiert auf einem Verfassungsgebot und berücksichtigt das Existenzminimum des Steuerpflichtigen und dessen unterhaltsberechtigter Familie56 (subjektives Nettoprinzip)57.

Ein weiteres Grundprinzip ist die Folgerichtigkeit. Nach dem Willen des BVerfG hat „der Gesetzgeber [eine] [...] einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne [der] Belastungsgleichheit umzusetzen“58. Dabei geht es darum Entscheidungen konsequent durchzuführen und logische Gesetzesstrukturen zu schaffen, die in sich stimmig sind59. Außerdem sollen getroffene Belastungsentscheidungen auf alle Steuerpflichtigen gleichermaßen angewandt und nicht durchbrochen werden60. Weicht der Gesetzgeber davon ab bedarf es einer sachlichen Begründung61.

Der Grundsatz des Legalitätsprinzips (Gesetzmäßigkeit der Besteuerung) zielt darauf ab, dass ohne Gesetz keine Steuer erhoben werden darf. Er gewährleitstet Rechtssicherheit und sorgt dafür, dass eine Steuer nur dann erhoben werden darf, wenn dies auf Basis eines Gesetzes geschieht62.

Die Gerechtigkeitspostulate Allgemeinheit, Gleichmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Besteuerung (Übermaßverbot) gehören zu den ältesten Gerechtigkeitsgrundsätzen im Steuerrecht. Sind die Allgemeinheit und die Gleichmäßigkeit gegeben, so ist auch der Verhältnismäßigkeit genüge getan. Dabei wird unter der Allgemeinheit der Besteuerung die Heranziehung zur Steuerpflicht eines Jeden verstanden, unabhängig von dessen persönlichen Merkmalen wie Religion, Staatsangehörigkeit und Rasse63. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist eine Komponente der Besteuerungsgleichheit und verlangt die Gleichheit bei der Durchsetzung in der Steuererhebung und eine gleichmäßige Anwendung der Steuergesetze64.

Das Äquivalenzprinzip (Nutzenprinzip) beschreibt die Idee, dass die Steuergelder, die einer Person auferlegt werden in Zusammenhang mit dem Ausmaß staatlicher Leistungen stehen, die er erhält. Bei der marktmäßigen Äquivalenz ist die auferlegte Steuer abhängig von dem Marktwert der erhaltenen staatlichen Leistungen, den der Steuerpflichtige für die Leistung hätte bezahlen müssen. Nach herrschender Meinung ist das Äquivalenzprinzip aufgrund der Zugänglichkeit öffentlicher Güter für alle Bürger nicht umsetzbar65.

Bei der Besteuerung von natürlichen Personen profitieren häufig die Einkommensschwächeren wie zum Beispiel Familien mit Kindern von den staatlichen Leistungen. Schon deshalb macht das Äquivalenzprinzip für diese Art Steuer keinen Sinn. Dazu kommt, dass Steuern nach der Definition i. S. d. § 3 Abs. 1 AO Geldleistungen ohne Gegenleistung sind. Dieses Verständnis von Steuern schließt das Äquivalenzprinzip kategorisch aus.66 Aus den aufgeführten Gründen findet das Äquivalenzprinzip in dieserArbeit keine weitere Erwähnung.

Nach dem Kopfsteuerprinzip zahlt jeder unabhängig von Einkommen und Vermögen gleich viel Steuern67. Da dieses Prinzip in Deutschland keine Anwendung mehr findet, wird dieses Prinzip bei der folgenden Untersuchung nicht berücksichtigt.

Daneben existieren noch weitere Prinzipien, wie das Prinzip der sachlichen Universalität68, die Gleichwertigkeit der Einkunftsarten und die Besteuerung nach Leistung und Gegenleistung. Für die vorliegende Untersuchung sind sie eher von untergeordneter Bedeutung oder werden nicht allgemein als Prinzipien der Steuergerechtigkeit anerkannt und finden daher keine weitere Erwähnung.

2.5 Rolle der Steuerpolitik: Reformen und Ansätze für ein gerechtes Steuersystem

Bei der Frage, welchen Einfluss die Steuerpolitik auf die gerechte Ausgestaltung der Gesetze nimmt und welche Reformen diesbezüglich vorgenommen wurden ist zu beobachten, dass das Thema der Steuergerechtigkeit hauptsächlich während politischer Wahlkampfperioden zu Tage tritt. Ansonsten wird dem Thema eher weniger Beachtung geschenkt. Das könnte daran liegen, dass zwar Einigkeit darüber besteht, dass Steuergerechtigkeit ein elementarer Grundsatz der Besteuerung ist, aber jede Partei etwas anderes darunter versteht. In der Hinsicht Einigkeit zu erzielen ist schwer. So wird Steuergerechtigkeit bei der SPD, den Grünen und den Linken regelmäßig als ein Mittel zur Umverteilung gesehen69.

Kritikern erscheint es, als wären Bestrebungen der Gerechtigkeit in der Politik außerdem sehr berechnend und folgten psychologischen Strategien. Solange die Auswirkungen der Gesetzesänderung nur Randgruppen betreffen, wird das individuelle Gerechtigkeitsempfinden für den Großteil der Gesellschaft nicht tangiert. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Maßnahme gegen die Prinzipien des Gerechtigkeitsgrundsatzes verstößt70.

Laut aktuellem Koalitionsvertrag sind einige Gesetzesänderungen geplant und teilweise schon im Gange, wie die Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Zinsen oder die selektive Streichung des Solidaritätszuschlags71. So gibt es immer wieder Bemühungen für Gesetzesänderungen mit dem Ziel eines gerechteren Besteuerungssystems. Dennoch wird das Steuersystem wie ein Flickenteppich betrachtet, der selbst für Steuerexperten zum Teil als unüberschaubar wahrgenommen und als „Steuerchaos“ bezeichnet wird72. Aus diesem Grund fordern Kritiker grundlegende Reformen des deutschen Steuerrechts. Dazu wurden immer wieder Vorschläge von Seiten der Steuerrechtswissenschaft vorgelegt. Dazu zählt der Karlsruher Entwurf der Einkommensteuer im Jahr 2002. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhoff legte einen Entwurf für ein Steuersystem vor, mit dem Ziel eines systematischen und einfachen Einkommensteuerrechts im Sinne der Gerechtigkeitstheorien nach John Rawls und Immanuel Kant73. Derart grundlegende Reformen blieben jedoch bis heute aus und so wird tendenziell an alt bewährten Strukturen festgehalten. Ob diese Strukturen in Bezug auf das Einkommensteuerrecht gerecht ausgestaltet sind, zeigt sich im folgenden Kapitel.

3. Grundsystematik der Einkommensteuer in Deutschland und Würdigung wesentlicherAspekte hinsichtlich ihrerGerechtigkeit

3.1 Überblick über die Systematik der Einkommensteuer

Die deutsche Einkommensteuer ist eine direkte Steuer und fließt als Gemeinschaftsteuer i. S. d. Art. 106 Abs. 3 S. 1 GG Bund, Länder und den Gemeinden zu. Unter Einbeziehung aller Erhebungsformen der Einkommensteuer ist sie, noch vor der Umsatzsteuer, die größte Einnahmequelle des Staates und demnach auch von hoher Bedeutung für Staat und Bürger. Es handelt sich um eine direkte Steuer, da die Steuerpflichtige Person Steuerschuldner gern. 36 Abs. 2 und Abs. 4 EStG und gleichzeitig Steuerträger der Einkommensteuer ist. Durch diese Belastung wird der Bürger, sei es durch den Fiskus beabsichtigt oder nicht, in seinen Entscheidungen gelenkt. Dabei fließen verschiedene Motive des Staates in die Lenkungsfunktion mit ein. Zum einen das Sozialstaatsprinzip, nach dem der Staat soziale Gesichtspunkte miteinbezieht und beispielsweise Steuerpflichtige mit dem Pflegepauschbetrag gemäß § 33b Abs. 5 EStG entlastet. Außerdem sind Grundprinzipien der Verfassung wie der besondere Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG als Steuerbegünstigungen im Einkommensteuerrecht verankert. Das heutige Einkommensteuersystem beruht auf dem subjektiven und objektiven Nettoprinzip, das heißt die Aufwendungen, die bei der Einkünfte Erzielung entstehen werden von den Einnahmen abgezogen74. Dazu gehört auch ein steuerfreies Existenzminimum von 9.408 €75 gemäß § 32a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG. Durch die Einbeziehung persönlicher Faktoren und die Orientierung an der individuellen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen gilt sie als gerechteste Steuerart76. Das jährliche Steueraufkommen liegt bei etwa 300 Milliarden Euro. Mit über 50 % des Steueraufkommens zahlen die reichsten 10 % der Bevölkerung den größten Teil der Steuerlast77.

3.2 Geschichte und Wesen der Einkommensteuer

Das erste Konzept einer Einkommensteuer auf deutschem Boden durch Friedrich Karl Reichsherr vom und zum Stein im Jahr 1806 erfolgte nach dem Vorbild Großbritanniens. Eine wichtige Rolle spielten hierbei der progressive Steuertarif, das steuerfreie Existenzminimum und die Ermittlung der Bemessungsgrundlage durch eine Steuererklärung. Dennoch wurde mit der Einführung kein Existenzminimum vorgesehen, da die Steuer aus einer großen finanziellen Notlage, ausgelöst durch Niederlagen und Reparationszahlungen, heraus eingeführt wurde. Es gab bereits eine Unterscheidung der Einkunftsarten und unterschiedliche Steuersätze für Einkommen aus Besitzwerten und Einkommen aus Werten, die dem Steuerpflichtigen nicht gehörten, wie etwa Gehalt. Wenige Jahre später fanden auch das Existenzminimum, ein System der Steuerklassen und die teilweise Selbstdeklaration Anwendung. Da Letztere eine Gefahr der Steuerhinterziehung barg wurde wenig später eine Klassensteuer eingeführt, die die Steuerpflichtigen anhand ihrer Statuskriterien einstufen sollte. Die Schwierigkeit, dass die genaue Ermittlung der Höhe der Einkünfte nicht möglich war, erschwerte auch die Einbeziehung der steuerlichen Leistungsfähigkeit und machte eine gerechte Besteuerung nahezu unmöglich78.

Das System belastete geringere Einkommen ungleich stärker und konnte aufgrund fehlender Instanzen und Steuererklärungspflicht keine gleichmäßige Besteuerung gewährleisten79. Ursprünglich war die Gerechtigkeit der Ertragsteuern, wenn überhaupt, nur an die objektive Leistungsfähigkeit gekoppelt und die persönlichen Verhältnisse blieben ohne Berücksichtigung. Nach und nach ergab sich bei Vertretern der Vermögensteuer ein Bestreben, die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Mit der liberalen Ideologie des 19. Jahrhunderts stieß die Idee auf immer mehr Zuspruch80. Als eine der elementarsten Veränderungen dieser Zeit, prägte die Industrialisierung die Beschäftigungsstruktur maßgeblich. Der Anteil der Bevölkerung der in der Landwirtschaft beschäftigt war sank und es bildete sich eine neue soziale Klasse der Fabrikarbeiterschaft. Neben der neuen Wirtschaftsordnung veränderten sich die Aufgaben des Staates, der vorher nur als Rechtsstaat agierte. Er wandelte sich in einen Rechts-, Sozial-, Lenkungs- und Leistungsstaat81.

Mehr Beachtung erfuhr das Leistungsfähigkeitsprinzip mit der Steuerreform 1873. Maßgeblich beeinflusst wurde die Reform durch den Entwurf von Otto Camphausen, der seinen Fokus auf das Einkommen als Besteuerungsmaßstab richtete und auf die Berücksichtigung persönlicher Verhältnisse hinwirkte82. Das erste EStG ohne Unterscheidung zwischen Stadt und Land wurde erst 1891 eingeführt83. Beeinflusst durch die Ernennung Johannes von Miquel zum preußischen Finanzminister war nicht primär die Erhöhung der Staatseinnahmen das Ziel, sondern ein System „ausgleichender Gerechtigkeit“ zu schaffen84. Bereits zu diesem Zeitpunkt waren „die zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung des Einkommens verwendeten Ausgaben“ vom Einkommen abzuziehen, unabhängig von der Quelle der Einkünfte. Was den Steuertarif anbelangt so kannte das EStG bereits ein steuerfreies Existenzminimum und der Steuersatz belief sich auf 0,6 bis 4 %. Der Kinderfreibetrag, sowie ein Abzug außergewöhnlicher Belastungen waren bereits ein Bestandteil des Steuerrechts. So fand der Leistungsfähigkeitsgedanke bereits zu diesem Zeitpunkt Anwendung85.

Mit der Reform des Reichsfinanzministers Matthias Erzberger in der Weimarer Republik wurde eine grundsätzliche Neuordnung des Finanzwesens durchgeführt.

[...]


1 Tipke, 1981,S. 4

2 TNS Emnid, 2008b.

3 Vgl. Arbeitskreis "Steuerschätzungen", 2018.

4 Vgl. Coimbra, 2015.

5 Siehe Kapitel 2.3 Geschichte der Steuergerechtigkeit

6 Vgl. Oxfam, 2019.

7 Statistisches Bundesamt, 2019.

8 Rawls, 2017, S. 19.

9 Rüthers, 2009, S. 159.

10 lustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi."Ulpianus, Digesten 1.1.10.1.

11 Vgl. Übersetzung Wendland, 2015, S. 854.

12 Vgl. Kluth, 2010, 124 f.

13 Vgl. Kluth, 2013, 9-22.

14 Vgl.Tipke, 1981, S. 9.

15 Vgl. Höffe, 2010, 149 f.

16 Vgl.Tipke, 1981, S. 9-19.

17 Vgl. Tipke, 1981, S. 20.

18 Vgl. Köhler,2017,S. 1-3.

19 Vgl. Kirchhof, 2010, S. 68-70.

20 Vgl. Wegener, 1995, S. 195-196.

21 Vgl. Smith, 2013, S. 848-850.

22 Vgl. Wagner, 1890, S. 304-306.

23 Vgl. Neumark, 1970, 45-46.

24 Vgl. Zuck, 2017, 401.

25 Vgl. Tipke und Kruse, 42.

26 Vgl. Kirchhof, 2000, S. 11.

27 Vgl. Maximilian Joseph, von Gottes Gnaden König von Baiern, 30. Mai 1818, S. 15.

28 Vgl. Kirchhof, 2000, S. 10-12.

29 Vgl. Mosler, 2000, Art. 134 Anm. 4.

30 Vgl. Bundesregierung, 1977, S. 620.

31 Vgl. Kirchhof, 2000, S. 10-12.

32 Majer, 2002, S. 7.

33 Vgl. Majer, 2002, S. 7.

34 Vgl. Seer, 2014, S. 186-189.

35 Vgl. Schremmer, 1994b, S. 37.

36 Vgl. Schremmer, 1994b, S. 75 f.

37 Vgl. Sahm, 2019, 266ff.

38 Vgl. Birk, 2011, 354 ff.

39 Vgl. Lang, 1988, llff.

40 Vgl. Mössner, 2011, S. 83-87.

41 Vgl. Vanistendael, 2011, S. 103.

42 Vgl. Tipke, 2000-2012, S. 68-70.

43 BVerfG, 22. Juni 1995, S. 2617.

44 Vgl. Weber-Grellet, 2013, Rn. 13.

45 Vgl. BVerfG, 12. Dezember 1967, Rn. 80.

46 Vgl. Desens, 2016, 240 ff.

47 Vgl. Gersch et al., 2018, §3AO Rn. 14-17.

48 Vgl. Schneider, 2009, S. 87.

49 Vgl. Epping, 2019, Rn. 149.2.

50 Vgl. Gersch et al., 2018, §3AO Rn. 14-17.

51 Vgl. Mellinghoff und Palm, 2008, S. 180-181.

52 Vgl. Kirchhof, 2000, 18 f.

53 Vgl. Lindahl, 1919, S. 179-182.

54 Vgl. Musgrave, 1969, S. 74-80.

55 Vgl. Lang, 2016, S. 105.

56 Vgl. Epping, 2019, Rn. 149.2.

57 Vgl. Epping, 2019, Rn. 149.2.

58 BVerfG, 7. November 2006, Rn. 97.

59 Vgl. Birk, 2009, 881 ff.

60 Vgl. Gersch et al., 2018, §3AO Rn. 14-17.

61 Vgl. BVerfG, 7. November 2006, Rn. 97.

62 Vgl. Lang, 2016, 105 f.

63 Vgl. Neumark, 1970, S. 67-75.

64 Vgl. BVerfG, 27. Juni 1991, 972 f.

65 Vgl. Haller, 1981, 39 ff.

66 Vgl. Tipke, 2000-2012, 476 f.

67 Vgl. Tipke, 2000-2012, 473 f.

68 Vgl. Desens, 2016, S. 246.

69 Vgl. Eckhoff, 2016, S. 214.

70 Vgl. Birk,2011,S.358.

71 Vgl. Kube, 2018, 408 f.

72 Vgl. Gebhardt, 2004, 84f.

73 Vgl.Tipke, 2002, 149 f.

74 Vgl. Weber-Grellet, 2013, 10.

75 Stand 2020

76 Vgl. Lang, 2016, S. 107.

77 Vgl. Beznoska, 2018.

78 Vgl.Seer, 2014, S. 25-42.

79 Vgl. Raupach, 1996 Abschnitt 1, Rn. 1-3.

80 Vgl. Schremmer, 1994b, 18 f.

81 Vgl. Ziegler, 2013, S. 197-286.

82 Vgl. Seer, 2014, S. 43-45.

83 Vgl. Raupach, 1996 Abschnitt 1, Rn. 1-3.

84 Vgl. Mann, 1978, 311f.

85 Vgl. Raupach, 1996 Abschnitt 1 Rn. 3 .

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Gerechtigkeit als Grundsatz der Besteuerung
Untertitel
Eine Würdigung wesentlicher Aspekte des deutschen Einkommensteuerrechts
Hochschule
Technische Hochschule Ingolstadt
Note
2,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
80
Katalognummer
V1027149
ISBN (eBook)
9783346430762
ISBN (Buch)
9783346430779
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Besteuerungsgrundsätze, Einkommensteuer, EStG, Steuergerechtigkeit, Steuerphilosophie, Steuerpolitik, Leistungsfähigkeitsprinzip
Arbeit zitieren
Katharina Petra Mayer (Autor:in), 2020, Gerechtigkeit als Grundsatz der Besteuerung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027149

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