Ästhetische Ideen und Dichtkunst in der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" von Immanuel Kant. Konzeption und Bedeutung für die Literatur


Hausarbeit, 2021

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Bestimmung und Rekonstruktion der Konzeption ästhetischer Ideen
2.1 Die ästhetische Idee als eine vom Verstandes- und Vernunftbegriff unterschiedene Anschauung
2.2 Die original-schöpferische Darstellung ästhetischer Ideen durch das Genie

3 Die Dichtkunst als bevorzugte Ausdrucksform ästhetischer Ideen
3.1 Die für die schönen Künste exemplarische Darstellung und Evokation ästhetischer Ideen in der/durch die Dichtkunst
3.2 Die Bevorzugung der Dichtkunst gegenüber den bildenden Künsten und der Kunst des schönen Spiels der Empfindungen .

4 Fazit/Schluss

1. Einleitung

In seiner Deduktion der reinen ästhetischen Urteile (§§ 30-54) der Kritik der ästhetischen Urteilskraft entwirft Kant ein System der schönen Künste, in dem die Konzeption ästhetischer Ideen sowohl auf der Ebene der künstlerischen Produktion als auch auf der Ebene des ästhetischen Urteils eine tragende Rolle spielt. In der vorliegenden Arbeit soll Kants Theorie der ästhetischen Ideen näher bestimmt und in ihrer Bedeutung für die schöpferische Tätigkeit des Genies einerseits sowie das freie Spiel der Erkenntniskräfte andererseits rekonstruiert werden. Im ersten Teil der Arbeit wird erläutert, warum es sich bei der ästhetischen Idee um eine Anschauung handelt, die sich als Vorstellung der Einbildungskraft wesentlich vom Verstandes- bzw. Vernunftbegriff unterscheidet und aufgrund ihrer Einbindung in das freie Spiel der Erkenntniskräfte indirekt erkenntnisfördernd wirkt. Dabei soll auch dargelegt werden, welche Implikationen sich aus der Differenzierung zwischen diskursivem und originalem Begriff für die dem Genie zugesprochene und als Geist betitelte Fähigkeit der Darstellung ästhetischer Ideen ergeben. Im zweiten Teil der Arbeit soll eruiert werden, inwiefern aus der spezifischen Art und Weise der Darstellung und Evokation ästhetischer Ideen in der bzw. durch die Dichtkunst für Kant eine Auszeichnung ebendieser Kunstform resultiert. Aus einer vergleichenden Gegenüberstellung der Dichtkunst mit den bildenden Künsten und der Kunst des freien Spiels der Empfindungen (Musik und Farbenkunst) wird deutlich werden, dass der hohe ästhetische Wert der Dichtkunst damit zusammenhängt, dass sie den niedrigsten „Grad der Versinnlichung des Ausdrucks“ (Mathisen, 2018: 168) besitzt — eine Eigenschaft, aus der folgt, dass die Dichtkunst dem an die schöne Kunst gestellten Anspruch, eine spontane Bildung der übersinnlichen ästhetischen Ideen und die Entfaltung des freien Spiels der Erkenntniskräfte gemäß dem „Princip des Idealisms der Zweckmäßigkeit“ (KU, AA 05: 350) zu ermöglichen, in besonderer Weise gerecht wird.

2. Bestimmung und Rekonstruktion der Konzeption ästhetischer Ideen

2.1. Die ästhetische Idee als eine vom Verstandes- und Vemunftbegriff unterschiedene Anschauung

Beachtet man zunächst, dass die ästhetische Idee unter anderem als „Anschauung (der Einbildungskraft) [...], der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann“ (KU, AA 05: 342) definiert wird, so macht es Sinn, davon auszugehen, dass die Opposition zwischen ästhetischer Idee und Begriff der „dichotomische[n] Aufteilung der Gattung ,Vorstellung‘“ (Karasek, 2015: 1114) in Anschauung und Begriff, die Kant unter anderem in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft erläutert, entspricht: Während die Anschauung sich als Mittel der Erkenntnis unmittelbar auf einen Einzelgegenstand bezieht, bezieht sich der Begriff auf mehrere Gegenstände, die hinsichtlich eines Merkmals übereinstimmen (vgl. KrV: B 377). Der reine Begriff, den Kant wiederum in den sich auf die Erfahrung beziehenden Verstandes- und den erfahrungstranszendenten Vernunftbegriff unterteilt (vgl. ebd.), zeichnet sich dabei durch eine „discursiv[e]“ (KrV: B 92f.) Erkenntnis aus, die von einer „intuitiv[en]“ (ebd.) abzugrenzen ist. Wenn Kant betont, dass die ästhetische Idee durch keinen bestimmten Begriff adäquat ausgedrückt werden kann, meint er den Begriff als Verstandes- bzw. Vernunftbegriff, der sich vom epistemischen Status der ästhetischen Idee als Anschauung prinzipiell unterscheidet: Eine ästhetische Idee durch einen Verstandes- bzw. Vernunftbegriff auszudrücken, hieße, eine Einzelvorstellung durch eine allgemeine Vorstellung darzustellen und damit über die grundsätzliche Inkompatibilität von Anschauung und Begriff1 hinwegzusehen. Zwar führt Kant an, dass die ästhetische Idee dem Vernunftbegriff insofern ähnelt, als sie im Sinne einer übersinnlichen Vorstellung, die sich beispielsweise auf Fiktives beziehen kann, „zu etwas über die Erfahrungsgränze [sic] hinaus Liegendem wenigstens streb[t]“ (KU, AA 05: 314); dennoch sind beide Vorstellungen einander wesentlich entgegengesetzt, ist doch die ästhetische Idee eine Anschauung, der kein diskursiver Begriff gerecht werden kann, während dagegen die Vernunftidee ein diskursiver Begriff ist, dem keine Anschauung entspricht (vgl. KU, AA 05: 314). Dass das Genie die ästhetische Idee dennoch mithilfe eines Begriffs ausdrücken kann, scheint in diesem Zusammenhang paradox. Dieser Umstand soll im Folgenden beleuchtet werden.

2.2. Die original-schöpferische Darstellung ästhetischer Ideen durch das Genie

Der vermeintliche Widerspruch, der darin gesehen werden könnte, dass Kant einerseits behauptet, die ästhetische Idee sei durch keinen Begriff darstellbar und andererseits dem Genie ebendiese als Geist bezeichnete Fähigkeit zuspricht, ist deshalb nur ein scheinbarer, weil Kant implizit zwischen dem diskursiven Begriff einerseits und dem originalen Begriff andererseits differenziert (vgl. KU, AA 05: 316f.). Während der diskursive Begriff die ästhetische Idee, wie bereits erläutert, nicht darstellen kann, ist der originale Begriff dazu sehr wohl imstande. Dies hängt damit zusammen, dass die durch den gegebenen Begriff ausgelösten Teilvorstellungen neue Anschauungen darstellen, die sich der Darstellung durch den bereits vorhandenen diskursiven Begriff entziehen. In diesem Zusammenhang führt Andreas Kablitz an, dass bei Kant „dem freien Gebrauche der Einbildungskraft der gegebene Begriff gegenübersteht“ (Kablitz, 2018: 157). Demnach sei zwischen einer freien Aktivität der Einbildungskraft, deren hervorgebrachte Anschauungen nicht mit dem gegebenen Verstandes- oder Vernunftbegriff übereinstimmen müssen, und einer „Fremdbestimmtheit“ der Einbildungskraft „durch den gegebenen Begriff“ (ebd.: 158), wie sie bei der diskursiven Erkenntnis nötig ist, zu unterscheiden. Entsprechend schreibt Kant über das Verhältnis zwischen Verstand und Einbildungskraft, dass im Gebrauch der Einbildungskraft zum Erkenntnisse, die Einbildungskraft unter dem Zwange des Verstandes und der Beschränkung unterworfen ist, dem Begriffe desselben angemessen zu sein; in ästhetischer Absicht aber die Einbildungskraft frei ist, um noch über jene Einstimmung zum Begriffe, doch ungesucht reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm, zu liefern [.] (KU, AA 05: 316f.).

Diese freie Aktivität der Einbildungskraft in ästhetischer Hinsicht ist für die schöpferische Tätigkeit des Genies zentral: Sie bildet Anschauungen in Form von ästhetischen Ideen, die nur noch neue, originale Begriffe angemessen ausdrücken können, weil der gegebene diskursive Begriff sie nicht berücksichtigt. Damit ist die Bildung ästhetischer Ideen als Aktivität der Einbildungskraft insofern in das freie Spiel der Erkenntniskräfte eingebunden, als sie, anders als diejenigen Anschauungen, die zur diskursiven Erkenntnis beitragen, nicht dem Zwang einer Übereinstimmung mit dem gegebenen Verstandes- oder Vernunftbegriff untergeordnet ist. Der originale Begriff, der sich in den Ausdrucksformen der schönen Künste äußert, eröffnet deshalb „eine neue Regel [.], die aus keinen vorhergehenden Principien oder Beispielen hat gefolgert werden können“ (KU, AA 05: 317), weil auch die Anschauung der ästhetischen Idee, auf die er sich bezieht, neu ist und vom gegebenen Begriff nicht abgedeckt wird. Da der originale Begriff sich nicht aus den logischen Schlussfolgerungsprinzipien der diskursiven Erkenntnis ergibt, lässt er „sich ohne Zwang der Regeln mittheilen“ (ebd.). Das bedeutet jedoch nicht, dass die ästhetische Idee als Anschauung, die das Genie darzustellen vermag, jeglicher Erkenntnis im Weg steht. Im Gegenteil: Kablitz weist darauf hin, dass Kant die ästhetische Idee insofern „zu einem Instrument der Erkenntnis“ (Kablitz, 2018: 158) macht, als sie in ihrer Einbindung in das freie Spiel der Erkenntniskräfte indirekt zur Erkenntnis beiträgt. So schreibt Kant zwar, dass die ästhetische Idee selbst keine Erkenntnis werden kann, weil sie mit keinem diskursiven Begriff kompatibel ist (vgl. KU, AA 05: 342). Dennoch betont er, dass die ästhetische Idee insofern zur Erkenntnis beiträgt, als der Verstand die durch die freie Aktivität der Einbildungskraft entstandenen ästhetischen Ideen „nicht sowohl objectiv zum Erkenntnisse, als subjectiv zur Belebung der Erkenntnißkräfte, indirect also doch auch zu Erkenntnissen anwendet“ (KU, AA 05: 317). Die ästhetischen Ideen, deren Bildung und Darstellung zunächst nicht den Regeln des Verstandes folgen, dienen dem Verstand, der sich als Erkenntniskraft in einem Zusammenspiel mit den Anschauungen befindet, nachträglich zur Erkenntnis, die sich dann wiederum im originalen Begriff äußert. Der Verstand ist damit bei der Darstellung ästhetischer Ideen nicht gänzlich unbeteiligt, er dient allerdings nur als Vehikel, etwas nicht-diskursiv Entstandenes — „unentwickelten Stoff“ (ebd.) — zu einer subjektiven Erkenntnis zu formen, die nur der originale Begriff vermitteln kann. Kablitz zufolge vollzieht Kant damit einen „Funktionswandel der ästhetischen Idee“, der darin besteht, dass „er der Erkenntnis ein Stück von jener Freiheit zurückgewinnt, welche das logische Urteil aufgrund seiner Natur, das heißt um seiner Bestimmtheit willen, gerade verspielen musste“ (Kablitz, 2018: 158). Dass die schöne Kunst als Ausdrucksform ästhetischer Ideen damit indirekt eine erkenntnisfördernde Rolle spielt, wird insbesondere in der später folgenden Beantwortung der Frage, warum Kant die Dichtkunst unter den schönen Künsten präferiert, von Belang sein. Zunächst soll jedoch erläutert werden, auf welche spezifische Art und Weise die Dichtkunst ästhetische Ideen sowohl darstellt als auch evoziert.

3. Die Dichtkunst als bevorzugte Ausdrucksform ästhetischer Ideen

3.1. Die für die schönen Künste exemplarische Darstellung und Evokation ästhetischer Ideen in der/durch die Dichtkunst

Die ästhetischen Ideen sind bei Kant sowohl auf produktionsästhetischer als auch auf rezeptionsästhetischer Ebene von Bedeutung. Bei der produktiven Darstellung ästhetischer Ideen durch das Genie spielen dabei die sogenannten ästhetischen Attribute eine wichtige Rolle:

Man nennt diejenigen Formen, welche nicht die Darstellung eines gegebenen Begriffs selber ausmachen, sondern nur, als Nebenvorstellungen der Einbildungskraft, die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken, Attribute (ästhetische) eines Gegenstandes, dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden kann. So ist der Adler Jupiters mit dem Blitze in den Klauen ein Attribut des mächtigen Himmelskönigs und der Pfau der prächtigen Himmelskönigin (KU, AA 05: 315).

Die ästhetischen Attribute sind von den logischen Attributen zu unterscheiden, die mittels des Verstandes vom gegebenen Begriff eines Gegenstandes abgeleitet werden können (vgl. ebd.) und stellen freie, bildhafte Assoziationen mit dem vorgestellten Gegenstand dar. Damit unterscheiden sich ästhetische Ideen von ästhetischen Attributen in der Hinsicht, dass die ästhetische Idee mit dem gegebenen Begriff eines Gegenstandes und das ästhetische Attribut unmittelbar mit dem Gegenstand selbst assoziiert wird. Den ästhetischen Attributen wird eine wichtige Funktion bei der Darstellung ästhetischer Ideen in der schönen Kunst zugesprochen: So nehmen etwa „Dichtkunst und Beredsamkeit den Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästhetischen Attributen der Gegenstände her [...]“ (ebd.). So manifestiert sich das ästhetische Attribut im originalen Begriff, den das Genie zum Beispiel in der Dichtkunst wählt, um seine ästhetischen Ideen, die durch einen Vernunftbegriff ausgelöst werden, darzustellen: Kant verwendet hier das Beispiel des „große[n] König[s]“, der „seine Vernunftidee von weltbürgerlicher Gesinnung“ dadurch „belebt“ (KU, AA 05: 315f.), dass er in seiner sprachlichen Äußerung einen Sonnenuntergang als ästhetisches Attribut wählt (vgl. KU, AA 05: 316). Entscheidend ist, dass das ästhetische Attribut, welches das Dichtergenie für den Ausdruck seiner vom Vernunftbegriff ausgelösten ästhetischen Ideen hernimmt, beim Rezipienten der Dichtkunst wiederum „eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich kein Ausdruck findet“ (ebd.). Einerseits stellt das Genie in der Dichtkunst ästhetische Ideen mithilfe eines originalen Begriffs dar, in dem sich das von ihm gewählte ästhetische Attribut widerspiegelt, andererseits evoziert er eben durch das ästhetische Attribut beim Rezipienten der Dichtkunst eine Vielzahl von Teilvorstellungen, bei denen es sich wiederum um ästhetische Ideen handelt (vgl. KU, AA 05: 316). Die Möglichkeit einer systematischen Kompatibilität zweier für die Kant'sche Theorie ganz und gar unverzichtbarer Lehrstücke, nämlich des rezeptionsästhetischen eines freien, harmonischen Spiels der Erkenntnis- und Gemütskräfte und des produktionsästhetischen eines allein dem Genie zugeschriebenen Vermögens der Darstellung ästhetischer Ideen (Hamm, 2013: 86) wird hier thematisiert, macht Kant doch einen engen Zusammenhang zwischen der Produktions- und der Rezeptionsebene ästhetischer Ideen deutlich: Auf der Produktionsebene entstehen die ästhetischen Ideen durch das Vorhandensein eines gegebenen Begriffs und werden mithilfe eines ästhetischen Attributs ausgedrückt; auf der Rezeptionsebene „konstituieren“ (Nachtsheim, 2018: 185) die vom Genie gewählten Attribute ästhetische Ideen beim Rezipienten, die in ein freies Spiel der Erkenntniskräfte eingebunden sind und wiederum — vorausgesetzt, es handelt sich beim Rezipienten nicht auch um ein Genie — nicht ausgedrückt werden können. Dabei ist davon auszugehen, dass die indirekt erkenntnisfördernde Funktion der ästhetischen Ideen, die aus der Einbindung der Anschauungen ins freie Spiel der Erkenntniskräfte resultiert, nicht nur auf produktionsästhetischer, sondern auch auf rezeptionsästhetischer Ebene stattfindet. Zwar schildert Kant hier mit der Dichtkunst exemplarisch einen Zusammenhang, der auf die schöne Kunst im Allgemeinen zutrifft. Im nächsten Abschnitt wird jedoch deutlich werden, dass die Berührung der Produktionsebene mit der Rezeptionsebene ästhetischer Ideen in der Dichtkunst in einer Weise stattfindet, die sie von den bildenden Künsten und der Musik qualitativ abhebt.

3.2. Die Bevorzugung der Dichtkunst gegenüber den bildenden Künsten und der Kunst des schönen Spiels der Empfindungen

Kant unterteilt die schönen Künste in die redenden Künste (Beredsamkeit und Dichtkunst), die bildenden Künste (Plastik und Malerei) und die Kunst des schönen Spiels der Empfindungen (Musik und Farbenkunst) (vgl. KU, AA 05: 320ff.). Unter den redenden Künsten ist die Dichtkunst der Beredsamkeit aufgrund ihres intelligibleren Status vorzuziehen: Während diese „ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft [betreibt]“ (KU, AA 05: 321), führt jene „ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes“ (ebd.) aus. Außerdem betont Kant den problematischen, weil tendenziell manipulativen Charakter der Beredsamkeit (vgl. KU, AA 05: 327). Dass er die Dichtkunst auch gegenüber den bildenden Künsten und der Kunst des schönen Spiels der Empfindungen präferiert, wird an verschiedenen Stellen der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile deutlich. So schreibt Kant etwa am Anfang des Paragraphen 53:

Unter allen [schönen Künsten] behauptet die Dichtkunst [...] den obersten Rang. [...] Sie stärkt das Gemüth, indem sie es sein freies, selbstthätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt, die Natur als Erscheinung nach Ansichten zu betrachten und zu beurtheilen, die sie nicht von selbst weder für den Sinn noch den Verstand in der Erfahrung darbietet, und sie also zum Behuf und gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen (KU, AA 05: 326).

Zentral für den ästhetischen Wert der Dichtkunst ist demnach ihr Übersinnliches ausdrückender und evozierender Charakter. Die bereits erläuterte Eigenschaft der schönen Kunst, übersinnliche, die Erfahrung transzendierende ästhetische Ideen darzustellen und auszulösen, tritt bei der Dichtkunst insofern besonders deutlich hervor, als sie, wie Steinar Mathisen anführt, den niedrigsten „Grad der Versinnlichung des Ausdrucks“ (Mathisen, 2018: 168) besitzt. So weist er darauf hin, dass Kant indirekt den spezifischen Charakter des Ausdrucks der Dichtkunst beschreibt, wenn er ex negativo den Ausdruck der bildenden Künste bestimmt. Dieser finde nämlich (anders als bei der Dichtkunst) „nicht durch Vorstellungen der bloßen Einbildungskraft, die durch Worte aufgeregt werden“ (KU, AA 05: 321f.) statt. Während bei der Plastik und der Malerei „Gestalten im Raume zum Ausdruck für Ideen“ (KU, AA 05: 322) gemacht werden und damit der Ausdruck der ästhetischen Ideen materialisiert bzw. „versinnlicht“ (Mathisen, 2018: 168) wird, verliert der Ausdruck ästhetischer Ideen bei der Dichtkunst deshalb seinen übersinnlichen Charakter nicht, weil er zwar von den sinnlich wahrnehmbaren Worten veranlasst wird, mit diesen aber nicht identisch ist. Der übersinnliche Charakter, der die Dichtkunst auszeichnet, folgt für Kant damit aus einer ausbleibenden Identität von sinnlichem Medium und Ausdruck. Dieser bleibt bei der Dichtkunst ideell, besteht er doch ausschließlich aus „Vorstellungen der bloßen Einbildungskraft“ (KU, AA 05: 321), also aus den ästhetischen Ideen, die durch die vom Genie gewählten ästhetischen Attribute einerseits ausgedrückt, andererseits ausgelöst werden. Damit werden die ästhetischen Ideen in der Dichtkunst insofern nicht entfremdet, als sie ihrer für sie wesentlichen Übersinnlichkeit nicht beraubt werden. Die Nähe zwischen der Produktion und der Rezeption ästhetischer Ideen, die oben erläutert wurde, ist bei der Dichtkunst aufgrund ihres nicht-sinnlichen Ausdrucks dementsprechend besonders stark ausgeprägt.

[...]


1 Dabei handelt es sich hier um den diskursiven Begriff, der ausschließlich aus den logischen Regeln des Verstandes bzw. der Vernunft hervorgeht. Wie später noch deutlich werden wird, kann der originale Begriff des Genies, der über den Umweg der freien Einbildungskraft entsteht, sehr wohl als adäquater Ausdruck für ästhetische Ideen dienen.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Ästhetische Ideen und Dichtkunst in der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" von Immanuel Kant. Konzeption und Bedeutung für die Literatur
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Kants 'Kritik der ästhetischen Urteilskraft'
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
12
Katalognummer
V1027269
ISBN (eBook)
9783346434364
ISBN (Buch)
9783346434371
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ästhetische, ideen, dichtkunst, kritik, urteilskraft, immanuel, kant, konzeption, bedeutung, literatur
Arbeit zitieren
Paul Orru (Autor:in), 2021, Ästhetische Ideen und Dichtkunst in der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" von Immanuel Kant. Konzeption und Bedeutung für die Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027269

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