Die Rolle der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Revisionsverfahren

Der Begutachtungsprozess der Eingangsmerkmale „schwere andere seelische Abartigkeit“ und „krankhafte seelische Störung“


Masterarbeit, 2021

80 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kurzzusammenfassung

Abstract

Darstellungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ein kurzer historischer Exkurs
1.2 Eine Brücke zwischen Empirie und Hermeneutik

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Die Grundlagen des psychiatrischen Gutachtens
2.1.1 chuld
2.1.2 Die Schuldfähigkeit §§ 19, 20, 21
2.1.3 Die vier Eingangsmerkmale
2.1.4 Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit
2.1.5 Eine zweistufige Feststellungsmethode
2.2 Probleme und Grenzen
2.2.1 Die Diagnostiken und Modelle der Psychopathologie
2.2.2 Stochastik als wissenschaftliche Methode
2.2.3 Probleme des Gutachtens
2.2.4 Probleme der Eingangsmerkmale
2.3 Die Konsequenzen desSchuldfähigkeitsgutachtens
2.3.1 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
2.3.2 Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung
2.4 Besonders prekäre Fälle
2.4.1 Pädophile
2.4.2 Persönlichkeitsstörungen

3 Methode
3.1 Vorgehen
3.2 tichprobe
3.3 Beschreibung der Messinstrumente
3.4 uswertung der Daten
3.5 blauf

4 Ergebnisse

5 Diskussion
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.2 Einordnung in den bisherigen Forschungsstand
5.3 Alternative Erklärungen und kritische Bewertung
5.4 Objektivität und Begriffsebene
5.4.1 Die Eingangsmerkmale
5.4.2 Die Beurteilung der Schwere
5.4.3 Die Beurteilung der Gefährlichkeit
5.5 Ein anderes Verständnis von Krankheit und Exklusion
5.5.1 Psychiatrie und Gefängnis
5.5.2 Krankheit als psychologisches Noumenon
5.6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Anhang A: Basisfragebogen der Ethikkommission

Anhang B: Tabellen und Abbildungen

Kurzzusammenfassung

Die vorliegende Arbeit versucht, einen Überblick über den juristisch-psychiat­rischen Diskurs der Schuldfähigkeitsbeurteilung vor Gericht zu bieten. Dafür wurden die Daten von über 200 Fällen berücksichtigt (N = 191). Dabei liegt der Fokus auf den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Erhoben wurden unter ande­rem die typischen Delikte der Eingangsmerkmale; deren häufigsten, diagnosti­zierten Krankheiten, Revisionsgründe und durchschnittliche Internierungsdauer. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt allerdings darin, auf die Unschärfere­lation des Diskurses zwischen psychiatrischem Gutachter und der Rechtspre­chung hinzuweisen, die zum Teil aus unterschiedlichen Vorstellungen von Krankheit, Schuld oder Delinquenz besteht. Der Grat zwischen krank-gesund oder schuldfähig-schuldunfähig ist dabei genauso schmal wie das psychiatrische Wissen der meisten Rechtswissenschaftler. Die moralische Verantwortung und gesellschaftliche Wichtigkeit, die in diesem Prozess steckt, darf nicht unter Zu­ständigkeitsverteilungen oder dogmatischen Krankheitsmodellen ausgetragen werden, sondern sollte einer regelmäßigen und interdisziplinären Diskussion un­terliegen, um stets ihre eigenen Rahmenbedingungen und Angemessenheit zu reflektieren. Hier soll eine gemeinsame Diskussionsgrundlage geschaffen wer­den, die versucht die gängigsten Probleme dieses komplexen Themas ins Be­wusstsein zu rufen und gegebenenfalls auch Laien dafür zu sensibilisieren.

Abstract

The present work tries to provide an overview of the legal-psychiatric discourse on the as­sessment of criminal liability in court. The data from over 200 cases were taken into account for this (N = 191). The focus is on the two initial characteristics of the pathological mental disorder and the other serious mental abnormality. Among other things, the typical types of offenses of the input characteristics were recorded; their most frequent diagnosed diseases, reasons for revision and average length of internment. The main focus of this work, however, is to point out the uncertainty relation of the discourse between the psychiatric expert and the jurisprudence, which partly consists of different ideas of illness, guilt or delinquency. The line between sick-healthy and guilty-indulgent is just as thin as the psychiatric know­ledge of most legal scholars. The moral responsibility and social importance inherent in this process must not be carried out under the allocation of responsibilities or dogmatic disease models, but should be subject to regular and interdisciplinary discussion in order to always reflect on their own framework conditions and appropriateness. This work wants to create a common basis for discussion by trying to bring back the most common problems of this complex topic and, if necessary, to sensitize laypeople to the topic.

Darstellungsverzeichnis

Abbildung 1. Grafische Darstellung zwischen Norm und Krankheit am Beispiel der Schizotypie-Modelle von Claridge, Eysenck und Meehl. Quelle: Grant, Green & Mason, 2018, S.560

Abbildung 2. Steigende Anzahl an Unterbringungen und und unterbringungsähnlichen Maßnahmen. Quelle: Cording & Nedopil, 2014, S.157

Abbildung 3. ICD-10 Kriterien der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Quelle: Dilling, Mombour & Schmidt, 2015,S. 279

Abbildung 4. Anzahl der Personen mit Diagnosen aus den verschiedenen Kategorien des ICD-10, sortiert nach den beiden Eingangsmerkmalen krankhafte seelische Störung und schwere andere seelische Abartigkeit

Abbildung 5. Anzahl der in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Personen nach Diagnose.

Abbildung 6. Die häufigsten Revisionsgründe bei Schuldfähigkeitsurteilen, sortiert nach den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren seelischen Abartigkeit

Abbildung 7. Schuldfähigkeitsurteile der beiden Eingangsmerkmale krankhafte seelische Störung und schwere andere seelische Abartigkeit

Abbildung 8. Prozentuale Verteilung der juristischen Konsequenzen nach den Urteilen zur Schuldfähigkeit, sortiert nach den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Die Anzahl der Unterbringungen und die der Freisprüche kann sich zum Teil überschneiden

Abbildung 9. Urteile der fünfStrafsenate, prozentual dargestellt nach Schuldsprüchen

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1. Anzahl der Diagnosen zu Persönlichkeitsstörungen aus verschiedenen Studien. Quelle: Nedopil, 2000,5.305

Tabelle 2. Erhobene Variablen der Aktenanalyse

Tabelle 3. Delikte pro Eingangsmerkmal

"Üaspxychiatnsche Gutachten sowie ganz allgemein die Kriminalanthropologie und der hartnäckige Diskurs der Kriminologie haben hier ihre Funktionen: indem sie die Gesetzes­übertretungenfeierlich in den Bereich der wissenschaftlich erkennbaren Gegenstände ein­weisen, berechtigen sie dieMechanismen der gesetzlichen Bestrafung zum Zugriff nicht nur auf die Gesetzesübertretungen, sondern auf die Individuen - nicht nur auf das, was In­dividuen getan haben, sondern auf das, was sie sind, sein werden, sein können.« (Michel Foucault, Überwachen und Strafen, S.28)

1 Einleitung

Die Frage nach der Schuldfähigkeit eines Täters vor Gericht wird schon seit vielen Jahrzehnten gestellt. Viele gesellschaftliche Veränderungen der Moderne brachten auch Veränderungen des Rechtssystems mit sich. Durch die so etablierten Novellierungen und Reformen, gewannen Medizin und Psychologie für die Justiz immer mehr an Bedeutung. Was anfangs möglicherweise als humanistische Maßnahme unter dem Begriff der mildern­den Umstände eingeführt wurde, modifizierte den Diskurs vollständig. Der Ursprung dieses Phänomens liegt in der immer größer werdenden Bedeutung, die man der Norm beimisst. Sie wird zum Ausgangspunkt aller Überlegungen von Krankheit und damit auch zur Schuld­fähigkeit. Die Gefährlichkeit eines Täters, seine Besserungsfähigkeit oder die Wirksamkeit einer Strafe bilden somit ein neues Referenzsystem; zusammengehalten von einer Brücke zwischen Psychiatrie und Rechtswissenschaft. Streng genommen sind all die Begriffe dieses Referenzsystems wederjuristischer, noch psychologisch-medizinischer Herkunft - sind we­der ein Delikt, noch eine Krankheit oder ein Symptom. Dennoch erreichen sie auf die Schuldfähigkeitsbeurteilung und das Strafmaß einen Einfluss, den man kaum hoch genug einschätzen kann.

1.1 Ein kurzerhistorischerExkurs

Historisch betrachtet ist diese Art des Norm-Denkens noch relativ jung. Wirft man einen Blick ins Mittelalter oder die Renaissance, bezog sich die Strafe stets auf die Tilgung eines Verbrechens, beziehungsweise auf die Wiederherstellung, der durch das Vergehen gebro­chenen Ehre des Souveräns. In den meisten westlichen Gesellschaften von heute reicht die Feststellung eines begangenen Verbrechens nicht mehr aus. Findet sich ein geständiger An­geklagter vor Gericht wieder, kommt es zusätzlich noch zur Frage nach Motiven und Per­sönlichkeit. Der zuständige Experte bei dem man die Antwort sucht, ist in der Regel der psychiatrische Gutachter. Statt weiterhin das Verbrechen zu strafen, geht man dazu über, die Person des Täters selbst zu strafen. Über den Umweg von Motiven, Charakter und Biografie entsteht ein völlig neues Wissen und damit einhergehend auch eine neue wissenschaftliche Methode. Dem Gutachter kommt nun die Aufgabe zu, die Kausalzusammenhänge zwischen der begangenen Tat und der Person des Täters herzustellen. Mit diesem Akt ändert sich schlagartig auch die Vorstellung von Schuldfähigkeit: sie wird zu etwas Subtilerem, etwas was nicht mehr nur an einen Bewusstseinszustand gekoppelt ist, sondern zu etwas was ob­jektiv erfassbar wird.

Es bilden sich ganze Kataloge von neuen Kriterien und Kategorien heraus, die sämt­lich der medizinischen Pathologie entliehen sind. Eines der wichtigsten wird zum Beispiel die Nachvollziehbarkeit eines Verhaltens oder der Persönlichkeit des Täters. Das neue Credo lautet, umso rationaler erklärbar eine begangene Tat ist, umso eher ist ihr Täter auch schuld­fähig. Ist die Tat hingegen nicht nachvollziehbar, wird die Vermutung laut, dass der Täter krank sei.

In dieser Entwicklung setzt sich auch die Abstellung auf die Gefährlichkeit, als Vo­raussetzung der Internierung in eine psychiatrische Klinik durch. Doch an die Stelle, wo vorher noch die Verantwortlichkeit des Einzelnen stand, trittjetzt eine fiktive Zukunftsprog­nose, gestützt durch etwaige Normabweichungen und der Persönlichkeit des Täters. Die Strafe selbst wird zu einer Präventionsmaßnahme zum Wohle der Gesellschaft; die Vorstel­lung von Sühne und Wiedergutmachung tritt hingegen mehr und mehr in den Hintergrund. An dieser Stelle zeichnet sich allmählich folgendes Problem ab: Wenn das Rechtssystem sich eigentlich darauf richtet unerlaubte Handlungen zu sanktionieren, wie rechtfertigt man dann eine Unterbringung aufgrund einer potenziellen Gefahr, bei der noch keine Tat ver­wirklicht wurde? Plötzlich reichen die Mittel der Justiz, in Bezug auf die Schuldfähigkeits­beurteilung, nicht mehr aus und man muss Psychologen und Ärzte in den Prozess miteinbe­ziehen. Man legt die Hoffnung in die Hände des Sachverständigen, dessen Gutachten dazu in der Lage sein soll, die Persönlichkeit des Verbrechers zu (re-) konstruieren, - doch der Bezug zum begangenen Verbrechen selbst, bleibt in aller Regel weiterhin im Dunkeln.

Durch die Akzeptanz dieser neuen Praktiken wird es unweigerlich auch möglich eine Schuldfähigkeit oder eine notwendige Unterbringung in eine psychiatrische Anstalt, anhand verschiedenster Normabweichungen und Charakterzüge abzuleiten. Im Umkehrschluss wer­den Verbrecher und Verbrechen also zu etwas, was man aus der Psychologie und ihren Di­agnostikmanualen ableiten, vorhersehen und korrigieren kann. Damit verzweigen sich ein juristischer und ein psychologisch-medizinischer Diskurs zu einem kaum mehr zu durch­schauendem Geflecht an Methoden und Begrifflichkeiten, denen diese Arbeit gewidmet ist. Das Ziel ist eine Diskussion darüber zuführen, wie wissenschaftlich und sicher das für den Schuldfähigkeitsbeurteilungsprozess herangezogenen Wissen tatsächlich ist.

1.2 Eine Brücke zwischen Empirie und Hermeneutik

Ein zentraler Denkanstoß ist die Überlegung, ob eine rein empirische Betrachtung dieses Themenkomplexes, nicht unweigerlich zu einer verkürzten Sicht führt. Bis heute besteht jedoch das Problem, dass die Psychologie weder so richtig als Natur- noch als Geisteswis­senschaft Fuß gefasst hat. Bevor sich die empirische Psychologie - unter anderem durch die frühen Experimente von Wilhelm Wundt -, zu einer Naturwissenschaft mauserte, war sie noch tief in der Philosophie verwurzelt (eine Entwicklung, die man an dem geisteswissen­schaftlichen Strang von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie noch gut herauslesen kann). An den meisten Institutionen wird sie, aufgrund ihrer statistischen Verfahren und empirisch ausgerichteten Forschung, als Naturwissenschaft behandelt. Einen Beleg bleibt sie aber wei­terhin schuldig, denn außerhalb dieser Verfahren wird bis heute mit Introspektion, Interpre­tation, Deutung und Kommunikation gearbeitet.

Die vorliegende Arbeit möchte den Versuch unternehmen, zwischen diesen beiden Lagern eine Brücke zu bauen und am Beispiel des psychiatrischen Gutachtens verdeutlichen, wie erkenntnisfördernd und konstruktiv diese Annäherung sein kann. Gerade in dem Diskurs über die Schuldfähigkeit vor Gericht, verschwimmen zwei komplexe Spezialwissenschaften zu einem Verwaltungsapparat, der täglich über das Schicksal vieler Menschen entscheidet. Er bildet eine Praxisschnittstelle zwischen einer Vielzahl an Disziplinen (Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Pädagogik, Medizin), bei deren Zusammenfallen, die Ge­fahren und Grenzen von rein empirischen Methoden, besonders eklatant zu Tragen kommen. Häufig fällt es den Personen in diesen Einzelbereichen schwer, die Arbeit des anderen nach­zuvollziehen. Die enorm angewachsenen Wissensbestände, sind für einen Fachfremden kaum noch antizipierbar. Als rein naturwissenschaftliche Disziplin, folgt die Psychologie einem Objektivitätsideal, welches sie nicht erfüllen kann; außerdem gerät ihr durch eine (ausschließlich) empirische Ausrichtung die Potenz abhanden, gesellschaftliche Verbesse­rungen und Normen abzuleiten. Als (reine) Geisteswissenschaft hingegen, fehlt ihr das Fun­dament um allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen, womit sie wieder hinter vagen Ödi- puskomlexen und Traumdeuteleien zurückfällt.

Die Beantwortung der Frage, ob die Psychologie noch im strengen Sinn eine Natur­wissenschaft objektiver Art ist, will sich die vorliegende Arbeit nicht anmaßen. Sie ist primär wissenschaftstheoretischer und philosophischer Natur. Auch die bislang alternativlose Tat­sache, dass Personen die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, aus pragmatischen Gründen weggesperrt werden, soll hier nicht zur Diskussion stehen. Es soll lediglich der Versuch unternommen werden, anhand des Schuldfähigkeitsgutachtens, die Notwendigkeit von Interdisziplinarität zu verdeutlichen, um sich nicht auf einzelne Diagnostikkriterien und Wahrscheinlichkeitsprognosen zu versteifen. Dies gilt umso mehr, da der breite Konsens sich immer mehr in Richtung künstliche Intelligenz entwickelt. Ob Lügendetektoren, Über­wachungskameras oder Magnetresonanztomografie, all diese Hilfsmittel sollten eigentlich immer nur als das dienen was sie sind - Hilfsmittel für eine ganzheitliche und individuelle Betrachtung, die stets aufs Neue angestellt werden muss (Komorowski etal., 2019).

Die zentrale Frage lautet also, ob es zu fehlerhaften Gutachten, Unterbringungen und Schuldsprüchen kommt, worauf sie zurückzuführen sind und ob sie sich verhindern lassen. Gibt es erkennbare Muster, wie manche zu diesem Thema denken oder eine historisch er­kennbare Entwicklung, die zu einem umfassenderen Krankheitsbegriff tendiert? Die Frage­stellungen und Hypothesen die im nächsten Kapitel abgeleitet werden, sind stets in diesem ganzheitlichen Rahmen zu verstehen, eingebettet in einem interdisziplinären Diskurs. Dabei gilt die wohlfeile Floskel, „drei Juristen vier Meinungen“ mindestens ebenso für den psy­chiatrischen Sachverständiger. Nicht selten wird bei einer gutachterlich attestierten Schuld­fähigkeit nach einer Revision, von einem neuen Sachverständigen, eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit prädiziert. Solche Urteile entscheiden bei den Angeklag­ten letztendlich über ihr ganzes Leben - Freispruch, Psychiatrie oder doch lieber lebenslange Haft?

2 Theoretischer Hintergrund

Um fürjeden Leser, unabhängig seiner Disziplin, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, beginnt dieses Kapitel mit der Klärung der wichtigsten Begriffe rund um das Schuldfähig­keitsgutachten. Anschließend folgt eine Diskussion über die zugrunde liegende Vorstellung von Krankheit, deren Ursprung und deren Konsequenzen.

2.1 Die Grundlagen des psychiatrischen Gutachtens

Die Gedanken und Inhalte der vorliegenden Arbeit setzen ein tieferes Verständnis des psy­chiatrischen Gutachtens zur Schuldfähigkeit vor Gericht voraus. Da es sich dabei um ein interdisziplinäres, aber gleichzeitig auch um ein sehr spezielles Wissensfeld handelt, sollen in diesem Kapitel die wichtigsten Voraussetzungen und Begriffe verständlich gemacht wer­den. Die Begriffe bauen dabei aufeinander auf, weshalb zunächst die Schuld selbst, die Schuldfähigkeit und die vier Eingangsmerkmale beschrieben werden; anschließend folgt der zweistufige Prozess der Begutachtung.

2.1.1 Schuld

Schuld stellt im Strafrecht einen der zentralen Grundpfeiler des modernen Rechtssystems dar. Sie bildet die Voraussetzung für Strafe und resultiert aus dem Rechtsprinzip, sowie den Artikeln 11 und 211 des Grundgesetzes, - der Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Thil- mann, 2007). Auch in den Rechtswissenschaften herrschen nicht immer einheitliche Be­griffe, doch gegenüber einigen alternativen Schuldkonzeptionen hat sich die normative Schulddefinition weitestgehend durchgesetzt. Diese besagt: Schuld ist die normative Vor­werfbarkeit einer pflichtwidrigen Willensbildung oder Betätigung (Krümpelmann, 1988). Im Umkehrschluss wird somit die Möglichkeit des anders Handeln-Könnens immer voraus­gesetzt.

Um den juristischen Schuldbegriff definieren zu können, muss vorerst auf das Un­recht einer Tat verwiesen werden. Jedes Verbrechen besteht zunächst aus einem strafbe­standsmäßig-rechtswidrigen Verhalten (Ziegert, 1987). Dies kann in Form von einem Han­deln oder einem Unterlassen geschehen (Kröber, 2011). Der Nachweis dieser Rechtswidrig­keit erlaubt jedoch nur eine Beurteilung der Tat, im Sinne eines fraglichen Verhaltens, das den sozialen Erwartungen widerspricht. Deshalb ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Aspekt essentiell - die Verantwortlichkeit (Neumann, 1985; Ziegert, 1987). Erst wenn die Tat dem Urheber persönlich auch zugerechnet werden kann, kann man von Schuld im juristischen Sinne sprechen (Kröber, 2011). So taucht dieser normative Schuldbegriff - in einer mehr oder weniger ausgeschliffenen Form -, im Laufe des 19. Jahrhunderts auf (Stü- binger, 2000).

Mit dieser axiomatischen Annahme sind auch heute bei weitem nicht alle einverstan­den (Schmidt-Recla, 2000). Aber auch harte Determinismus-Anhänger, die mit der Neuro­wissenschaft das Strafsystem revolutionieren wollten (Roth, 1997; Singer, 2003), relativie­ren inzwischen ihre steilen Thesen. An dieser Stelle soll nicht näher auf die sozial-philoso­phischen Probleme eingegangen werden, die mit dieser Debatte einhergehen. Im Sinne Ro- xins (2015) wird Schuld hier, als eine pragmatische und notwendige Annahme angesehen, deren Voraussetzungen als rechtliches Regulationsprinzip unser unversehrtes Zusammenle­ben erst ermöglicht. Und dafür spielt es letztlich keine Rolle ob es sich bei der Willensfrei­heit um eine Fiktion oder eine Tatsache handelt, da wir im Alltag ohnehin danach leben, als ob wir einen freien Willen (oder freien Unwillen; Libet, 2014) hätten. Auch in der juristi­schen Praxis ist es sekundär, ob ein Täter auch hätte anders handeln können. Nach Thilmann (2007) reicht es bereits aus, dass es in einer Situation der durchschnittlichen Person hätte zugemutet werden können, sich normgemäß zu verhalten, da der Gesetzgeber Willensfrei­heit schlichtweg unterstellt und damit sämtlichen deterministischen Kritikpunkten eine Ab­sage erteilt. In bestimmten Ausnahmefällen kann es jedoch notwendig sein, sich mit dieser Thematik etwas näher auseinanderzusetzen. Und an dieser Stelle steht die Frage nach der Schuldfähigkeitsbeurteilung (Kröber, 2020; Krümpelmann, 1988).

All diese Merkmale die zur Schuldfähigkeitsbeurteilung psychologisch in Betracht kommen, sind paradoxerweise Argumente, die von einer Determinierung des Täters ausge­hen. So spielen zum Beispiel die persönliche Situation des Täters, seine Entscheidungen, genetische Dispositionen, Sozialisierung, Lernvorgänge und deren Auswirkungen auf die Tat eine entscheidende Rolle (Kröber 2020; Thilmann, 2007). An dieser Stelle braucht es also eine gute Begründung, warum all diese determinierenden Aspekte zur Klärung der Schuldfrage überhaupt in Betracht kommen, wenn so etwas wie ein freier Wille als gegeben vorausgesetzt wird.

Bevor man die mildernden Umstände in das Gesetz integrierte, konnte es sein, dass man mit dem Aussprechen von harten Strafen haderte, da die Beweislast nicht eindeutig war (Foucault, 2007). Zwar wird durch deren Einführung die Strenge des Gesetzes ein wenig abgefedert, auf der anderen Seite gibt es somit aber auch weniger Freisprüche, da man einen größeren Interpretationsspielraum hat. Nach Foucault (2007) hält durch genau diesen Um­stand auch ein Grad an Mutmaßung Zugang zum Urteil, da man die Härte der Strafe auch abhängig von der eigenen Unsicherheit (oder der Unsicherheit der Beweise) variieren kann. Heute rückt man vor allem die Motivation, als selbstständiges Schuldelement, neben Vorsatz und Fahrlässigkeit. Dies bedeutet, dass nicht mehr der bloße Vorsatz die Schuld begründet, sondern die Zurechnungsfähigkeit, Fahrlässigkeit, Zumutbarkeit von normgemäßem Ver­halten und das Fehlen besonderer Schuldausschließungsgründe, treten als weitere Voraus­setzungen hinzu. Diese sind in §19 des StGB beschrieben. Wie Kröber (2009) dezidiert be­tont, ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit keine biologische, sondern eine soziale Vari­able, die psychodiagnostisch anhand der zum Tatzeitpunkt vorliegenden Schwächen und Stärken des Täters individuell beurteilt wird (Kröber, 1995), - sie liegt also im Subjekt Täter begründet und nicht in der Tat. Bis auf ein paar Ausnahmen, nimmt das Gesetz an, der Mensch könne zwischen seinen Handlungen frei wählen.

2.1.2 Die Schuldfähigkeit §§ 19, 20, 21

Bereits im 18. Jahrhundert werden die Rufe nach einer verminderten Zurechnungsfähigkeit lauter (Enz, 2016; Schnarr, 2001). Doch in den frühen Erörterungen zur Schuldfähigkeit, wurde von den Psychiatern weniger die Gesetzgebung, als die rechtsphilosophischen Be­griffe der deutschen Idealisten (Hegel, 2004; Kant, 2009) herangezogen. Es galt den Be­wusstseinszustand zu benennen und dessen Auswirkungen auf die freie Willensbestimmung zu erörtern (Kröber 2020); daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. 1933 findet die verminderte Schuldfähigkeit als fakultativer Strafmilderungsgrund (mit einigen Korrekturen durch den Sturz des Nationalsozialismus; Kröber, 2020), Eingang in das deutsche Strafgesetzbuch (Stübinger, 2000; Thilmann, 2007). Umgekehrt mischen sich durch die implementierte Strafmilderungjetzt auch Erkenntnisse über den Täter neben tatbezogenen Fakten, mit in das Urteil ein. Neben der Tat selbst, erhalten somit unterschied­liche Einschätzungen, wie zum Beispiel die Besserungsfähigkeit, bestimmte Grade von Krankheit oder psychischer Störung Einzug in das Urteil und das Rechtssystem (Foucault, 1993). An dieser Schnittstelle beginnen sich der juristische und der psychiatrische Diskurs nun, wie in der Einleitung beschrieben, miteinander zu vermischen. Durch die hohe Stellung des psychiatrischen Gutachtens, wird in erster Linie auf den Täter abgezielt und nicht auf die begangene Tat. Die Erhebungen des Sachverständigen und der diagnostischen Manuale kreisen aber um die verschiedenen Denk- und Lebensweisen der Betreffenden. Eine Analyse des Willens reicht nicht mehr aus, die gesamte Tat muss in die psychosozialen Daten des Täters eingebettet werden und vice versa.

Schuldausschließungs- oder Schuldmilderungsgründe treten lediglich bei Personen in Kraft, die entweder unfähig sind das Unrecht ihrer Tat einzusehen oder entsprechend die­ser Einsicht zu handeln (Dessecker, 2001). Nach §19 StGB ist zum Beispiel grundsätzlich jeder nicht schuldfähig, der den gesetzlich postulierten Reifegrad noch nicht erreicht hat. Dieser wird aber mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres, automatisch von jedem Bürger vorausgesetzt (Thilmann, 2007). Das StGB geht wie bereits besprochen von einer negativen Definition der Schuldfähigkeit aus, da ihre Existenz von vornherein angenommen wird und lediglich bei genau festgelegten Ausnahmefällen eine Schuldunfähigkeit statuiert wird (Thil­mann, 2007). Diese finden sich in den von §§20 und 21 festgelegten Regelungen zur aus­geschlossenen/ beeinträchtigten Schuldfähigkeit. Beide erfordern das Vorliegen einer seeli­schen Störung und sind abhängig von deren Intensität, wie deren Beeinträchtigung auf die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit (Cording & Nedopil, 2014).

All diese Begriffe finden immer nur auf der individuellen Ebene Anwendung, bezo­gen auf eine konkrete Tatsituation (Nedopil, 2000). Dieses zeitliche Zusammenfallen von Vorsatz und Tatzeitpunkt ist unter dem sogenannten Koinzidenzprinzip zusammengefasst (Thilmann, 2007). Auch wenn die Kriterien für §§ 20 und 21 die gleichen sind, zieht ein Urteil nach §21 eine Schuldfähigkeit mit Strafe nach sich; die verminderte Schuldfähigkeit fällt dementsprechend lediglich Schuld mildernd aus. Ebenfalls kann eine Einweisung in den Maßregelvollzug die Folge sein (Dessecker 1997; Nedopil, 2000). Aus diesem Grund sollen diejenigen, welche aufgrund einer Persönlichkeitsstörung in ihrer Verantwortlichkeit einge­schränkt sind, auch anders bestraft werden. Anstelle einer befristeten Haft steht dann unbe­fristete Internierung in einer psychiatrischen Klinik.

Die Aburteilungen zur Schuldunfähigkeit sind im Vergleich zur verminderten Schuldfähigkeit sehr gering. 1995 erhielten lediglich um die 0,14% aller Urteile (Nedopil, 2000) - und um die 0,25% (Lymburner & Roesch, 1999) -, ein Urteil zur Schuldunfähigkeit. Trotz Unterschiede in Gesetzen und Jurisdiktion, scheinen die geringen Zahlen zur Schuld­unfähigkeit in westlichen Kulturkreisen, bis heute eine anthropologische Konstante zu bil­den.

Als Voraussetzung dieser Urteile, hat man um 1975 schließlich, die bis heute gülti­gen Kriterien der Schuldfähigkeit im Gesetz etabliert (Thilmann, 2007) - die „krankhafte seelische Störung§, der (begrifflich unzeitgemäße - Schiemann, 2019; Steinböck, 2001) „Schwachsinn“, die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ und die bislang nur als Strafmilde­rungsgrund geltende, „schwere andere seelische Abartigkeit“ (Schmidt & Scholz, 2016).

2.1.3 Die vier Eingangsmerkmale

Diese vier Eingangsmerkmale sind weder rein psychologische, noch medizinische oder ju­ristische Begriffe. In der krankhaften seelischen Störung und dem Schwachsinn lassen sich klassisch medizinische Wurzeln finden, während die tiefgreifende Bewusstseinsstörung und die schwere andere seelische Abartigkeit primär juristischen Ursprungs sind (Nedopil, 2000). Sie sind das perfekte Beispiel dafür, wie sich das Wissen der Psychologie mit dem der Rechtswissenschaften vermischt. Diese begriffliche Unschärferelation ist nicht selten der Auslöser für Verständnisprobleme zwischen Psychologen und Rechtswissenschaftlern. Da es sich bei den Methoden zur Feststellung dieser Eingangsmerkmalen ebenfalls nicht um klassische medizinisch-psychiatrische Diagnosen handelt, sind die Kriterien von ICD und DSM auch nicht ausreichend um diese vorherzusagen (Gretenkort, 2000; Kröber, 1995; Schiemann, 2019;). In erster Linie ist eine quantitative Abschätzung notwendig, sowie deren Auswirkung auf die konkrete Tat (Nedopil, 2000).

Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung bezieht sich hauptsächlich auf psychisch ge­sunde Affekttäter. Das Attribut tiefgreifend soll verdeutlichen, dass eine Störung über den Bereich des Normalen überschritten hat (Schiemann, 2019). Zwar gibt es auch zu diesem Thema bis heute Debatten über die Validität der Erfassung (Glatzel, 1993; Krümpelmann, 1988), doch handelt es sich dabei primär um ein rechtsphilosophisches und kein psychopa­thologisches Thema, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden soll.

Mit dem diskriminierenden Begriff (Schiemann, 2009; Steinböck, 2001) Schwach­sinn bezeichnet man leichte bis schwere Stufen einer angeborenen Intelligenzminderung, die keine nachweisbare Ursache haben (Perron, 2019). Moderneren Klassifikationssysteme (und ausländische Gesetzgebungen) kodieren ihn bereits begrifflich als Intelligenzminde­rung.

Die krankhafte seelische Störung bezieht sich in erster Linie aufKrankheiten die ei­nen organischen Ursprung haben. Dazu zählen unter anderem Störungsbilder aus dem schi­zophrenen oder manisch-depressiven Kreis, sowie hirnorganische Zustände durch Intoxika­tionen (Schmidt & Scholz, 2003). Auch degenerative Erkrankungen (Demenz) und körper­lich bedingte psychische Anomalien sind hier zu verorten, wenn sie nicht mehr in einem „sinnvollen Erlebniszusammenhang“ (Thilmann, 2007) stehen.

An dieser Stelle ist vielleicht noch zu betonen, dass eine Krankheit keine erwiesene organische Ursache haben muss, sondern diese auch einfach unterstellt werden kann. Dies trifft vor allem bei affektiven Psychosen oder der Schizophrenie zu, für die bislang immer noch keine evidente oder allgemein anerkannte Ursache gefunden wurde. Der Begriff wurde von dem Psychiater Kurt Schneider kodifiziert und neben exogenen und endogenen Psycho­sen, werden auch intellektuelle Minderbegabungen mit bekannter Genese gezählt (Dess­ecker, 1997).

Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung bezieht sich primär auf Affekte, während der Schwachsinn sich auf intellektuelle Minderbegabungen (wie zum Beispiel Oligophrenie) ohne organische Genese bezieht (Schiemann, 2019). Intelligenzdefekte infolge hirnorgani­scher Prozesse fallen also unter die krankhafte seelische Störung; solche ohne nachweisba­ren Organbefund unter den Schwachsinn.

Die schwere andere seelische Abartigkeit ist das letzte der vier Eingangsmerkmale und erfährt gewissermaßen eine Sonderstellung. Sie ist ein Sammelbegriff, für Auffälligkei­ten, die von den anderen Merkmalen nicht erfasst werden. Aufgrund des restriktiven Krank­heitsbegriffs, wollte man mit einem zusätzlichen Merkmal Störungen erfassen, die rein see­lisch bedingt sind (z.B. Neurosen und Psychopathien) oder sich nicht in Form eines Organ­prozesses entwickelt haben (Kröber, 1995; Schiemann, 2019). Sie reicht von somatoformen Störungen, Paraphilie, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, bis hin zum pathologi­schen Spielen. Obwohl sie eine Art Restkategorie ist, wird sie bei der De- und Exkulpierung am häufigsten verwendet (Nedopil, 2000). Nach Rasch (1986) muss die Funktionsbeein­trächtigung der Störung in ihrer Ausprägung oder in den aus ihr resultierenden, sozialen Einbußen einer psychotischen Störung gleichkommen. Laut § 20 StGB, reichen bereits nicht krankheitsbedingte Abweichungen von der Durchschnittsnorm, insofern diese „erheblich“ sind (Thilmann, 2007). Der Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit wurde erst ab 1975 durch eine Strafrechtsreform ergänzt. Von diesem Zeitpunkt stiegen die Fälle von verminderter Schuldfähigkeit an, vor allem bei Delikten wie Raub, Vergewaltigung und Tö­tung. Die Rate bei Totschlag zum Beispiel betrug um 1950 noch etwa 33%, während sie in den Neunzigern bereits bei 50% angekommen ist. Auch bei Mord stiegen die Raten in der­selben Zeit von 19% auf 31% (Kröber, 2009). Dieses Phänomen ist laut Kröber (2009) mehr dem alkoholischen Rausch, als den Persönlichkeitsstörungen zuzuschreiben.

Die Grenzen der Eingangsmerkmale untereinander sind bei weitem nicht so statisch, wie man annehmen mag. Nedopil (2000) nennt zum Beispiel die dissoziale Persönlichkeits­störung, die durch neuere Forschung auf biologische Ursachen zurückgeführt werden konnte, aber in der Regel weiterhin unter der schweren anderen seelischen Abartigkeit zu­sammengefasst wird. Vor allem die schwere andere seelische Abartigkeit ist aus psycholo­gisch-psychiatrischer Sicht schwierig zu beurteilen. Der Begriff der „Schwere“ ist ein

Rechtsbegriff, der mit den diagnostischen Krankheitskriterien nicht eingeschätzt werden kann (Schiemann, 2019). So indiziert häufig bereits der Krankheitswert einer Störung, eine schuldrelevante Schwere nach § 20, während die schwere andere seelische Abartigkeit nur in seltenen Fällen für eine Schuldunfähigkeit ausreicht (Thilmann, 2007). Nur diejenigen Abartigkeiten gelten als schuldrelevant, die eine nachhaltige Persönlichkeitsbeeinträchti­gung des Täters mit sich bringen und seine Handlungsfähigkeit außer Kraft setzen. Wir wer­den an anderer Stelle auf dieses Problem zurückkommen.

2.1.4 Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit

Nachdem der Angeklagte einem Eingangsmerkmal zugeordnet wurde, folgt seine Einschät­zung auf die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit (Dobbrunz & Briken 2020; Nedopil 2000; Thilmann 2007). Es wird davon ausgegangen, dass eine psychische Krankheit, die zum Ver­lust einer „Realitätsprüfung“ (Kröber 2020) führt, die Selbstbestimmung oder den freien Willen derjenigen Person aufhebt. Unabhängig von einer Beeinträchtigung, leitet sich aus den klinisch begründeten Beobachtungen der Verhaltensmöglichkeiten, die Steuerungsfä­higkeit ab - die Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln (Kröber, 2020). Das Strafrecht er­fordert eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob in einem Problembereich „ein reales Zu­kunftswissen mit der erforderlichen Appellfunktion für die Verhaltenssteuerung gegeben ist, oder ob lediglich Bewusstseinsvorgänge nach der Art von Tagträumen oder Phantasien vor­liegen, die keinen bewussten Realitätsgehalt aufweisen und deshalb die Steuerungsinstanz desMenschen nichtansprechen(Behrendt, 1983 S.28).“

Auch wenn man seit Anbeginn der modernen Psychiatrie meint, diese Fähigkeiten zur Realitätsprüfung ablesen zu können, erweist sich die Frage nach einer verminderten Schuldfähigkeit als ungleich schwieriger. Wie bereits ausgeführt wurde, gibt es zur Prüfung ein zweischrittiges Verfahren, welchesjetzt näher erläutert werden soll. Zunächst wird erör­tert, ob die Einsicht das Unrecht einer Tat einzugestehen vorhanden ist (Einsichtsfähigkeit). Und anschließend im zweiten Schritt, ob der Betreffende entsprechend dieser Einsicht hat handeln können (Steuerungsfähigkeit). Eine knappe und praktisch anwendbare Definition der Steuerungsfähigkeit gibt es dabei nicht (Janzarik, 1993). Deshalb muss die Grenze zwi­schen der verminderten und aufgehobenen Steuerungsfähigkeit, stets von der Rechtspre­chung neu austariert werden (Nedopil, 2000). Das Problem dabei ist: Die Bestimmung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt ist retrospektiv genauso schwer zu erfassen, wie die tatsächliche Motivation des Täters. Laut Nedopil (2000) lässt sich dieses Wissen bestenfalls mittelbar rekonstruieren, da diese Erkenntnis aus einer Fremdperspektive nicht objektiv er­fassbar ist - sprich, mit empirischen Mitteln nicht sicher feststellbar ist.

2.1.5 Eine zweistufige Feststellungsmethode

Da es sich bei der Beurteilung der Schuldfahigkeit also nicht um empirisch beweisbare Fak­ten handelt (Kröber, 2020; Nedopil, 2000; Thilmann, 2007), geht man von dem im ersten Kapitel beschriebenen normativen Schuldbegriff aus, so kann man diesem Dilemma mit ei­nem Kunstgriff entgehen, - dem psychiatrischen Gutachten. Dabei dienen die Art der Diag­nosen und deren Beeinträchtigungen als Hauptbeurteilungskriterium. Zwar lassen sich auch diese Störungen nicht immer körperlich messen (da sie sich nicht körperlich manifestieren), aber man geht von einer sukzessiven Annäherung über das qualitative psychiatrische Gut­achten aus (Kröber, 2020; Nedopil, 2000). Man vergleicht das erhobene Wissen und Ver­halten des Straffälligen, sowie die inneren und äußeren Umstande, mit der vorherrschenden Norm (Jahnke, Laufhütte & Odersky, 2005). Die Schuld wird dabei als subjektive Zurech­nung normabweichenden Verhaltens betrachtet, wenn von anderen in derselben Situation normgerechtes Handeln erwartet werden kann (Schreiber & Rosenau, 2004) oder der Tater dabei hatte anders handeln können (Witter, 1990).

Der Gutachter wird primar dann eingeschaltet, wenn es gemaß §§ 63, 64 und 66 StGB um eine Einweisung oder Entlassung (§ 67 d II StGB) des Maßregelvollzugs, eine Entlas­sung aus lebenslanger Haft (§ 57 a StGB) oder eine Aussetzung zur Bewahrung von Rest­strafen bei Verurteilungen von über zwei Jahren geht (bei Straftatern die wegen Sexualde­likten oder gefahrlicher Straftaten verurteilt wurden). Außerdem bei Prüfungen der Ein­gangsmerkmale für aufgehobene und verminderte Schuldfahigkeit, bei Sozial- oder Krimi­nalprognose, bei Sicherungen von psychisch kranken Rechtsbrechern (§§ 63, 64, 67d StGB) und ebenso bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) oder der Sicherungsverwahrung (§ 66).

In all diesen Fallen spielt das psychiatrische Gutachten eine entscheidende Rolle. Es folgt der erste Schritt der psychisch-normativen Methode zur Schuldfahigkeitsprüfung (Je- scheck & Weigend, 1996). Er besteht zunachst in der Zuordnung des Eingangsmerkmals; dafür soll die Schwere der Abartigkeit beschreiben werden, um im zweiten Schritt die daraus resultierende Beeinträchtigung auf die Steuerungsfahigkeit ableiten zu können (Dobbrunz, Briken 2020; Nedopil, 2000).

Der Blick richtet sich dabei auf den Einzelfall, wie sich eine bestimmte Störung auf die psychische Verfassung eines Täters auswirkt und gegebenenfalls dessen Steuerungsfä­higkeit aufhebt. Der Verlauf dieser Exploration und der wertende Vergleich, den der Gut­achter dafür anstellen muss, werden maßgeblich von der Person des Befragenden mitbe­stimmt, was zu einer subjektiven Beeinträchtigung führt (Kröber, 2011; Thilmann, 2007). Sollte eine solche Beeinträchtigung vor Gericht augenfällig werden, ist das entsprechende Urteil revisionsgerichtlich anfechtbar. Nicht selten kommt es zu solchen fehlerhaften Beur­teilungen, zum Beispiel in Bezug auf eine fehlerhafte Unterbringung in der Psychiatrie oder eine mangelhafte Gefährlichkeitsprognose (Kröber, 2020). Wie hoch die Dunkelziffer ist und wie viele Mängel übersehen werden, lässt sich nur schätzen. Die durch die revisionsge­richtliche Aufdeckung dieser fehlerhaften Gutachten und Unterbringungsgründe sollen eines der zentralen Elemente der vorliegenden Arbeit bilden.

Fragestellung 1: Wie häufig kommt es bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit zufehlerhaf­ten Gutachten undfehlerhaften Urteilen aufEbene derLandgerichte?

Da der reine Krankheitswert einer psychischen Störung aber noch nicht ausreicht, folgt noch eine weitere Überlegung im zweiten Beurteilungsschritt. Es gilt herauszufinden ob die Krankheit im konkreten Fall eine Funktionsstörung zur Folge hatte, welche die freie Willensäußerung zum Tatzeitpunkt ausschließt (Kröber, 2009). Voraussetzungen dieser freien Willensäußerung sind nach Kröber (2009) eine intakte Kritik- und Urteilsfähigkeit. Die Frage lautet, ob der Täter wegen einer psychischen Störung zum Tatzeitpunkt fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dabei sollten Un­rechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit theoretisch streng auseinandergehalten werden sol­len (Boetticher et al., 2007; Dessecker 1997; Thilmann, 2007).

In der Praxis ist die Frage nach dem Vorhandensein einer schweren anderen Abar­tigkeit, woran man sie genau erkennt und ob eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt vorliegt, nicht so einfach zu beantworten (Kröber, 2020). Häufig bedient man sich dabei der Planmäßigkeit des Handelns als Krücke, was methodischjedoch proble­matisch sein kann (Boetticher et al., 2007; Kröber 2020). Auch das Zuordnen einer Störung - wie zum Beispiel der Schizophrenie, bei der man bis heute unsicher ist, wie genau sie somatisch oder psychisch entsteht -, macht die Festlegung auf eines der Eingangsmerkmale schwierig. Diese Zuordnung kann aber bereits dafür ausschlaggebend sein, ob eine Person für eine unbefristete Zeit interniert wird (Schiemann, 2019). Als roter Faden sollen hier noch zwei weitere zentrale Fragestellungen an die Hand gegeben werden:

Fragestellung 2: Wie verteilen sich Straftaten und Diagnosen auf die Eingangsmerkmale?

Fragestellung 3: Werden die krankhafte seelische Störung und die schwere andere seelische Abartigkeit vor Gericht in Bezug auf stattgegebenen Revisionen, Haftdauer und Schuldfä­higkeit ungleich behandelt?

Bevor wir diese Fragenjedoch ausführlicher diskutieren können, ist es sinnvoll, sich vorher noch einmal über die allgemeinen Erkenntnisgrenzen und deren historischen Ent­wicklungen der Krankheitsmanuale zu beschäftigen, da viele Hürden bereits hier beginnen. Währenddessen werden auf Basis dieser Fragestellungen noch einige Arbeitshypothesen ab­geleitet.

2.2 Probleme und Grenzen

Die bisherigen Ausführungen haben sich in erster Linie auf die theoretischen Grundlagen des Schuldfähigkeitsgutachtens bezogen. Doch wie man vielleicht schon vermuten mag, ver­läuft dieser Prozess in der Praxis keineswegs immer so lehrbuchhaft. Im nächsten Kapitel soll näher auf die Fallstricke des Begutachtungsprozesses und deren mögliche Konsequen­zen eingegangen werden. Wie bereits ausgeführt, stellt dessen Beurteilung keine rein juris­tische und keine rein psychiatrische Frage dar. Ihre Beantwortung ist äußerst vorausset­zungsvoll und sollte nicht leichtfertig getroffen werden (Boetticher et al. 2007).

Ähnlich wie bei den organischen Krankheiten, versucht man Symptome oder Krite­rien in Gruppen zusammenzufassen und diese aus Wahrscheinlichkeitsaussagen abzuleiten. Deshalb ist es sinnvoll, zunächst über die verschiedenen Arten von diagnostischen Modellen und Methoden zu diskutieren. Anschließend folgen die Vorteile, Limitationen und Prob­leme, die diese mit sich bringen. Mögliche Ursachen für letztere, sieht die vorliegende Arbeit in dem Relikt eines überholten somatischen Krankheitsbegriff, der bis heute von vielen als vom Psychischen getrennt betrachtet wird (Schiemann, 2019).

2.2.1 Die Diagnostiken und Modelle der Psychopathologie

Aus psychiatrischer Sicht kann man Kraepelms triadisches Modell (sowie die Weiterent­wicklungen von Kretschmer und Jaspers), als Vorläufer der modernen Diagnostik und die Einteilung der psychischen Krankheiten sehen. Nach Nedopil (2000) hat dieses auch die gesetzlichen Vorgaben der Schuldfähigkeit maßgeblich beeinflusst. Kraepelin (2017) pos­tuliert darin drei Unterkategorien psychischer Krankheit: organische Erkrankungen, endo­gene Psychosen und abnorme Spielarten des seelischen Wesens. Damit ist auch der Grund­stein der Eingangsmerkmale gelegt; lediglich die zusätzliche Prüfung der Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit musste in einer Strafrechtsreform von 1975 ergänzt werden (Nedopil, 2000).

Nach Witter (1990) hat Krankheit für die Psychiatrie eine psychologische (abnorme seelische Erscheinung) und eine medizinische Komponente (deren Rückführung auf eine somatische Krankheit). Nach Nedopil (2000) stellt diese Trennung die Ursache für die spe­kulative Annahme dar, dass krankhafte Abnormität zu einer Aufhebung der Verantwor­tungsfähigkeit führt - außerdem spiegele die Psychiatrie Wissen über die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten wider, das bis heute nicht erwiesen ist. Auch wenn man davon ausgeht, dass in den diagnostischen Manualen stets das aktuellste Wissen für Diagnosen zusammengetragen wird, hilft dies bei der Feststellung der Eingangsmerkmale wie bereits ausgeführt nicht weiter. Unabhängig davon müssen auch ICD und DSM viel Kritik einste­cken und sind methodisch der Schuldfähigkeitsbeurteilung äußerst ähnlich (Bruner, Müller, Vogel & Briken; 2016). Allein durch die Veränderung und stetige Neuerkenntnis der Wis­sensbestände in den Humanwissenschaften, erfahren die Kriterien permanent eine Neuerung und somit auch das, was als normal und als pathologisch gilt. Die Frage, ob dieses Wissen immer wieder an die jeweiligen kulturellen, historischen und ökonomischen Verhältnisse angepasst wird oder umgekehrt, dass sich durch dieses Wissen der Blick auf die Gesellschaft und die Norm wieder ändert, soll hierbei ausgeklammert werden.

Die Psychologie macht Anleihen bei der Medizin, die Rechtswissenschaft bei der Psychologie. Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit fließen die Erkenntnisse vieler Dis­ziplinen ineinander, was gelegentlich für Verwirrung sorgen kann. Die Begriffe Krankheit und Bewusstseinsstörung sind für den Juristen (z.B. Fehlen von Besonnenheit) und den Psy­chiater (z.B. Fehlen von Orientierung) völlig unterschiedliche Dinge (Rauch, 1993). Diese Unschärferelation besteht sogar schon bei den Fachkollegen untereinander: Beck und Kol­legen (1962), sowie Kreitmann und Kollegen (1961) kamen in ihren inzwischen etwas älteren Studien zu der Erkenntnis, dass lediglich um die 54 % der Diagnosen erfahrener Psychiater am selben Patienten, zum gleichen Ergebnis kamen.

Dieser bezeichnende Umstand führte den Psychiater und Gerichtsgutachter Norbert Nedopil (2000) vermutlich auch zu der Aussage, dass „die von Fachleuten abgegebenen Di­agnosen weder zuverlässig sind noch eine sichere Abgrenzung einer bestimmten Erkrankung zu einer anderen erlauben (S.81)“. Auch Rösier, Hoffmann, Klasen und Hengesch (1993) warnen ausdrücklich vor einer dogmatischen Überbewertung einer kriteriengeleiteten Diag­nostik, da das unsystematische Aufgreifen isolierter Einzelelemente, am Ende zu diffusen und folgenschweren Fehlbeurteilungen führt - außerdem verleitet sie zu einem kataloghaf­ten Abarbeiten von bereits vorher bestehenden Annahmen (Dobbrunz & Briken, 2020).

So werden mithilfe von Cluster- und Faktorenanalysen, Merkmale und Symptome extrahiert, um das Pathologische quantitativ erfassen zu können. Nicht wenige vermuten bis heute eine gemeinsame Struktur hinter der organischen Medizin und der Psychopathologie; doch diese Betrachtung kann manchmal einige Schwierigkeiten mit sich bringen (zum Bei­spiel in Bezug auf die Schizophrenie oder manche Persönlichkeitsstörungen, deren Ursache bis heute ungeklärt sind). Sie sind nicht nur durch gemeinsame Begriffe, sondern durch die­selben Methoden charakterisiert, wie zum Beispiel Symptome in Gruppen einzuteilen und Krankheitsentitäten zu definieren. Die Krankheit wird somit zu einer Art Essenz, die man über die Symptome ablesen kann, in denen sie sich äußert (Foucault, 1968). In dieser Be­trachtung der Pathologie spielt die Persönlichkeit des Individuums eine zentrale Rolle: sie wird zu dem Element, in dem sich die Krankheit entwickelt, - also zum Kriterium der Be­urteilung und zum Maß der Krankheit zugleich (Foucault, 1968).

2.2.2 Stochastik als wissenschaftliche Methode

Durch die Einführung des Wahrscheinlichkeitsdenkens in die Pathologie, gilt es für die Fest­stellung einer Krankheit, isolierte, serielle Ereignisse in ihrer Ganzheit wahrzunehmen (Ne­dopil, 2000; Rasch 1986; Saß 1985). Statt die Individualität einer Krankheit zu eruieren, konzentriert man sich darauf, einzelne Zeichen und Symptome aus Wahrscheinlichkeitsaus­sagen zu deduzieren. Dabei darf man aber folgendes Problem nicht aus den Augen verlieren: Die Wahrscheinlichkeitsgrade der einzelnen Störung, sind nicht mit der Analyse der Störung selbst, oder deren Schwere gleichzusetzen. So erheben in der Regel hohe Fragebogen-Werte der klinischen Diagnostiken mit ihrer Punktezahl, lediglich eine Wahrscheinlichkeit für die Diagnostizierbarkeit einer Störung - und nicht deren Intensität, Qualität oder Schwere (Grant, Green & Mason, 2018; Schorsch, 1988).

Jedes einzelne Item dient also als Zeichen und damit als ein Indiz stochastischer Ge­wissheit. Somit wird die Erscheinungsform einer Störung auf eine Relation zwischen Merk­malen verlegt, die diese Störung bezeichnet. Erzielt man beispielsweise zwei positive Wahr­scheinlichkeiten und drei negative, ist eine Diagnose mit einer hohen Wahrscheinlichkeit abzulehnen. Sind diese Symptome, Zeichen oder Items aus einer hinreichend großen Masse an Fällen beobachtet, gelten sie als valides Wissen. Dabei sollte man immer daran denken, dass es sich bei diesem Prozess um eine künstliche Zergliederung handelt, die nicht unbe­dingt eine objektive Entsprechung in der Welt haben muss (Foucault, 1968; Nedopil, 2000). Die Einheit zwischen den verschiedenen Formen der psychischen Krankheit ist immer nur künstlich und die Psychiatrie kommt ohne diesen positivistischen Kunstgriff nicht aus, wes­halb sie sich stets um neue Modelle und Kriterien bemühen muss, den tatsächlichen Störun­gen in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Und mit den sich wandelnden sozio-ökonomi­schen Verhältnissen, werden sich auch diese stochastische Manifestationsarten wandeln.

Einen rein quantitativen Aspekt ist man heute dahingehend ausgewichen, indem man sich auf das Ausmaß und den Verlauf der Krankheiten konzentriert und weniger auf die Unterschiede zwischen tatsächlichen Krankheiten und deren Spielarten (Nedopil, 2000). Das zu einer höheren Gewichtung bzw. Ergänzung des qualitativen Aspekts. Cording und Nedo­pil (2014) meinen dadurch, zumindest einen Gewinn an Objektivität durch kriteriengeleitete Verfahren verzeichnen zu können. Doch die gewöhnliche Diagnose fußt weiterhin lediglich auf einer Wahrscheinlichkeitsaussage, der man trotz verschiedener Schulenzugehörigkeiten, Erfahrungen und Fremdwahrnemungsfilter gerecht werden muss. Bei der Feststellung der Eingangsmerkmale zur Schuldunfähigkeit findet dieser Prozess zusätzlich noch zeitversetzt statt, da die erhobenen Merkmale, retrospektiv zum genauen Tatzeitpunkt erfasst werden müssen. Das sollte unabhängig davon geschehen, ob sie zum Explorationszeitpunkt vorhan­den waren oder nicht. Diesen Anforderungen können Gutachten praktisch nur sehr einge­schränkt gerecht werden (Nedopil, 2000); dennoch stellen sie einen wichtigen Bestandteil der rechtspsychologischen Praxis dar (diagnostische Manuale und Eingangsmerkmale). Dass bei der Begutachtung, sämtliche anerkannten Modelle und Verfahren herangezogen werden können, macht es ungleich komplizierter. Die Auswahl obliegt nämlich dem einzel­nen Sachverständigen, der im pflichtgemäßen Ermessen, die Methode seiner Informations­gewinnung (und -gewichtung) für das Gericht frei wählen darf (Boetticher et al., 2007). Er muss dabei den Richter lediglich von der Plausibilität seiner Untersuchungsmethoden und

Denkmodellen überzeugen (Boetticher et al., 2007). In der Regel hat der Richter aber auch kein fundiertes psychologisches und diagnostisches Wissen, aus diesem Grund wurde der Gutachterja ursprünglich bestellt.

Auch die diagnostische Unterscheidung zwischen normalen und anormalen Persön­lichkeitsmerkmalen bringt in der Praxis einige Probleme mit sich. Grant, Green und Mason (2018) verdeutlichen diese Problematik am Beispiel verschiedener Psychose-Modelle (Ab­bildung 1). Es erfordert schon eine Menge an Fachexpertise, um sich den Krankheitsvorstel­lung welche um die einzelnen Modelle kreisen, bewusst zu werden und was noch wichtiger ist, deren Bedeutung auf die diagnostische Aussagekraft. In Meehls Modell gelten zum Bei­spiel alle Formen der Schizotypie als abnorme Persönlichkeitsmerkmale; bei Claridge hin­gegen kann auch die Psychoseanfälligkeit in der Allgemeinbevölkerung pathologisch wer­den. Wie Abbildung 1 eindrucksvoll verdeutlicht, ist die Spanne zwischen Krankheit und Gesundheit äußerst volatil und wechselt mit dem Modell, welches man als Erklärung heran­zieht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Grafische Darstellung zwischen Norm und Krankheit am Beispiel der Schizotypie-Modelle von Claridge, Eysenck und Meehl. Quelle: Grant, Green and Mason, 2018, S.560.

Bezeichnend sind auch die umstrittenen Experimente von Rosenhan (1973), bei de­nen sich geistig gesunde Menschen unter Vortäuschung einer psychischen Störung, in die Psychiatrie haben einweisen lassen, um die Reaktionen der Anstalten zu erforschen. Es wur­den 11 von 11 Schein-Patienten aufgenommen. Außerdem wurde bei einigen eine Schizo­phrenie oder Psychose diagnostiziert. Nach durchschnittlich 19 Tagen wurden die Schein­Patienten, nach Beendigung der Simulation, als symptomfrei entlassen. In einer Folgeunter­suchung informierte Rosenhan (1973) eine weitere Klinik darüber, er würde in den nächsten Monaten versuchen einige weitere Schein-Patienten einweisen zu lassen. Von 193 aufge­nommenen Patienten wurden 41 für Testpersonen gehalten und 42 als verdächtig eingestuft. In Wirklichkeiten wurden gar keine Patienten an die Klinik vermittelt (Rosenhan, 1973).

Zwar werden die Diagnostikmanuale der Psychologie regelmäßig neu aufgelegt, doch selbst wenn man damit in positivistischer Manier ein Erkenntnisfortschritt annehmen möchte, bleiben sie forensisch gesehen irrelevant (Schiemann, 2019). Damit bleibt aber die Frage offen, worauf forensisch-psychiastrische Krankheitskonzepte und Entscheidungen nun genau gründen sollen (Nedopil, 2000). Aus juristischer Sicht besteht dieses Problem ebenfalls, so schildert zum Beispiel Mosbacher (2020) seine Erfahrungen mit ungenügenden und missverständlichen psychiatrischen Gutachten.

Bis heute versuchen deshalb verschiedene Arbeiten die Qualität und Transparenz von Begutachtungsprozessen zu verbessern (Boetticher et al., 2007; Dobbrunz & Briken, 2020; Kröber, 2020). Dobbrunz und Kollegen (2020) baten drei Berufsgruppen (Juristen, Psycho­logen und Psychiater), um eine Einschätzung von verschiedenen prototypischen Fallvignet­ten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Items in ihrer Interrater-Reli­abilität ungenügend seien, einer mangelnden Operationalisierung und Heterogenität unter­liegen (Dobbrunz & Briken, 2020).

2.2.3 Probleme des Gutachtens

Bereits der Schuldbegriff selbst, ist mit einigen Unsicherheiten belastet, die einen Vorsicht walten lassen sollten. Denn es kommt wie Thilmann (2007) berichtet, immer wieder vor, dass Voraussetzungen hineininterpretiert werden, die kein solides Fundament haben. Zwar ist der Schuldbegriff, wie er im ersten Kapitel definiert wurde, für unsere Rechtsstaatlichkeit unerlässlich, doch darf er einen nicht vergessen lassen, wie vage, umstritten und inhaltlich schwer zu erfassen er ist (Thilmann, 2007).

Dennoch muss die Strafrechtslehre mit einer Begriffsklarheit abreiten, welche die Psychologie vermutlich nie erreichen kann. Der Krankheitsbegriff der Rechtsprechung und der Medizin/Psychologie haben eine ganz andere Bedeutung. Der medizinisch-psychologi­sche ist an das diagnostische Wissen gekoppelt, welches sich alle paar Jahre ändert; der ju­ristische ist von diesem Wissen unabhängig und seit über hundert Jahren recht statisch (Cording & Nedopil, 2014; Kröber, 2009). Da sich der rechtliche Begriff nicht an den bio­logischen Ursachen oder Merkmalen der Krankheit orientiert, liegt dem juristisch aufgela­denen Begutachtungsprozess ein völlig anderes Bezugssystem zugrunde. Deshalb können die diagnostischen Manuale in diesem Zusammenhang auch nicht bei der Schuldfrage wei­terhelfen (Cording & Nedopil, 2014). Thilmann (2007) kommt deshalb zu folgender Fest­stellung: Je weniger eine seelische Störung auf organischen, eindeutig diagnostizierbaren Ursachen beruht, umso größer wird die subjektive Einschätzung der Gutachter, die in diesen Situationen immer mit einspielt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Die Rolle der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Revisionsverfahren
Untertitel
Der Begutachtungsprozess der Eingangsmerkmale „schwere andere seelische Abartigkeit“ und „krankhafte seelische Störung“
Hochschule
Hochschule Fresenius Frankfurt
Note
2,3
Jahr
2021
Seiten
80
Katalognummer
V1027468
ISBN (eBook)
9783346431875
ISBN (Buch)
9783346431882
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rolle, schuldfähigkeit, revisionsverfahren, begutachtungsprozess, eingangsmerkmale, abartigkeit, störung
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Die Rolle der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Revisionsverfahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027468

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