Nadolny, Sten - Die Entdeckung der Langsamkeit (S.198, Z.31 - S.206, Z.16)


Referat / Aufsatz (Schule), 2001

6 Seiten, Note: +2


Leseprobe


Nadolny, Sten - Die Entdeckung der Langsamkeit

Heutzutage muss alles immer schneller gehen. Die industrielle Revolution des vorletzten Jahrhunderts löste eine wahre Geschwindigkeitsrevolution aus. Die Technik ermöglichte immer schnellere Vorgänge. Im 21. Jahrhundert muss alles noch schneller gehen. Das macht jedoch auch vielen Menschen, die diesen Ge- schwindigkeiten nicht folgen können, Probleme.1 Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ ist gerade deshalb von seiner Thematik her so ak- tuell. Darin erzählt der Autor nämlich mit biographischen Zügen von John Frank- lin, der trotz seiner Langsamkeit ein großer Seefahrer wird und seine Ziele, unter anderem die Entdeckung der Nordwestpassage, erreicht.

Natürlich kommt es in Franklins Seefahrerkarriere auch zu nicht ganz so erfolg- reichen Momenten. Auf der im Jahre 1818 gestarteten Expedition der Schiffe „Dorothea“ und „Trent“ zum Nordpol verläuft sich eine Gruppe, bestehend aus John Franklin und Teilen aus seiner Schiffscrew, aufgrund starken Nebels bei einer der Fußwanderungen in der Arktis. John Franklin, Leiter der Wanderung, ignoriert die Vorschläge seiner Mannschaft und nimmt sich die nötige Zeit, um über die Lösung des Problems nachzudenken. Diese findet er auch als einziger und bewahrt sich und seine Leute dadurch vor dem sicheren Tod. Für ihn steht nämlich fest, dass sich die ganze Eisplatte, auf der sie sich befinden, drehen musste und sie deshalb im Kreis laufen. Durch andauernde Schüsse, machen sie das Schiff auf sich aufmerksam und ihre Kameraden können dadurch den Standort der Gruppe ausmachen und sie retten (vgl. S.198, Z.31 - S. 200, Z.26).

John kann daraufhin den Oberkommandierenden Buchan überreden, die Expedition fortzusetzen (vgl. S.200, Z.27 - S.201, Z.16).

Einige Tage später überrascht ein Sturm die beiden Schiffe und bringt sie in eine lebensbedrohliche Situation. Wiederum rettet allein Franklins ruhige Art und sein gründliches Nachdenken ihrer aller Leben, denn er entdeckt einen Fjord, in dem sich die Schiffe vor dem Sturm in Sicherheit bringen können (vgl. S.201, Z.17 - S.206, Z. 16)

Im Bezug auf sprachlich-stilistische Mittel lässt sich zu diesem Ausschnitt sagen, dass der Autor „nüchtern-knapp, in luziden, parataktischen Reihungen“2 schreibt und dass die „Sprache schnörkellos und präzise“3 ist. Sten Nadolny gestaltet die- sen Ausschnitt aus seinem Roman aber auch mit einigen Stilmitteln. Am häufigs- ten verwendet der Autor die Personifikation. Phrasen, wie: „Der Sturm sprang so plötzlich heran, als habe er im Hinterhalt gelegen.“ (S.201, Z.31f.), machen den Text und die beschriebene Situation anschaulich und erleichtern den Lesefluss. Aber auch die Ironie, dass „[ü]ber den daherjagenden Wetterwolken [...] ein ruhi- ger, silbriger Himmel weiter [lächelte]“, drückt der Autor mit einer Personifikati- on aus (ebd. Z.32f.). Metaphern haben ebenfalls eine ausschmückende Funktion, treten allerdings nicht so gehäuft auf („Die Könige des Schulhofes lernen es“ , S.200, Z.23). Illustration ist wohl auch ein Beweggrund zur Verwendung dieses bildhaften Stilmittels, wie an dem folgenden Zitat aus dem Roman erkennbar wird: „Alle Männer purzelten hin, [...] es war, als zöge man unter ihnen einen Teppich weg.“ S.203, Z.15 - Z.17). Darüber hinaus finden sich Vergleiche („Die nächste See [...] schlug das Schiff erneut in die Wand wie ein Ei in die Pfanne.“ , ebd. Z.22f.), unbeantwortete Fragen („Aber warum blieb Franklin so ruhig?“ , S.202, Z.36 - S.203, Z.1) und der rauen Personengattung, Seemänner, entspre- chend, Umgangssprache („Sie haben ein Schweineglück, Sir!“ S.200, Z.7). Zuletzt sind noch die doch recht zahlreichen Ellipsen zu nennen: „Mit dem Boot zur Dorothea? Purer Selbstmord.“ (S.202, Z.21). Dieses Stilmittel lässt sich durch das Erzählverhalten recht gut erklären und führt dadurch schon zum nächs- ten Gesichtspunkt im Hinblick auf die Form des vorgegebenen Textausschnitts.

„Ein dezent auktorialer Erzähler führt den Leser in variierender Erzählhaltung durch die ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT.“4 „Die intime Vertrautheit des Erzählers mit der Hauptfigur führt dazu, dass Erzähler- und Figurensicht häu- fig kaum auseinander zu halten sind“5, wie die Ellipse des vorherigen Paragra- phen verdeutlicht: „Mit dem Boot zur Dorothea? Purer Selbstmord.“ (S.202, Z.21). Bei diesem Zitat ist nämlich nicht klar, ob das der Erzähler oder John Franklin denkt oder sagt. Der Blick des Erzählers ist zwar zumeist eng an die Hauptfigur gebunden, dennoch handelt es sich um eine bewegliche Perspektivfüh- rung, d.h. der Autor wechselt zwischen Figurensicht und der Sicht des Erzählme- diums. Ein innerer Monolog ist in dem behandelten Textausschnitt nicht zu er- kennen, dafür aber erlebte Reden („Kaum hatte er das gedacht, wusste er: Back erinnerte ihn an Tom Barker, seinen Mitschüler vor zwanzig Jahren.“ S.200, Z.24 - Z.26) und Erzählerberichte. Dadurch, dass der Erzähler immer wieder hinter den Romanhelden zurücktritt, entsteht eine intime Nähe zwischen Leser und Hauptfi- gur und er bekommt das Gefühl mitten im Geschehen, an der Seite des Helden zu stehen.6

Das Erzähltempus ist im ganzen Roman das Präteritum. Weitgehend handelt es sich im vorgegebenen Textausschnitt um Zeitdeckung. Es kommen jedoch auch Zeitsprünge („Vier Stunden später hörten sie dünn einen Schuss“ S.200, Z1), Zeit- raffung („John befahl, ein Notlager aus Eisplatten zu bauen.“ S.199, Z.5) und Rückblicke in die Vergangenheit vor, wie das folgende Zitat belegt: “>>Niemals sich schämen müssen wie Kapitän Palmer.<< Fünfzehn Jahre war das her.“ S.202, Z.23 - Z.25).

Nach den Äußerlichkeiten des Ausschnittes ist jetzt noch die Deutung zu nennen. Dass John langsam ist, wird den ganzen Roman durch deutlich. Das Entschei - dende ist jedoch, was diese Langsamkeit für John Franklin bedeutet. Zunächst möchte ich auf diese Frage anhand des vorliegenden Textausschnittes eingehen. Vieles deutet auf jeden Fall darauf hin, dass John Franklin sein „Handicap“, wie es Teile seiner Crew bezeichnen (vgl. S.199, Z.18f.), im Laufe des Romans akzeptiert hat: „>>Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache <<“ (S.199, Z.10). Er arbeitet nicht gegen seine persönliche Geschwindigkeit, sondern weißdamit umzugehen. Er denkt sich Situationen aus und überlegt, was er bei welcher am besten tun kann, um dann seine Langsamkeit zu kompensieren und schnell handeln zu können. Dies belegt das folgende Zitat, worin von dem Sturm die Re- de ist, bei dem der Schiffarzt Gilfillan über Bord geweht wurde: „John entschied, dass er hier nur blind entscheiden konnte, er hatte sich auch solche Fälle über- legt.“ (S.202, Z.7f.). Gerade weil John Franklin aber auch mit seiner Langsamkeit lebt und sie angenommen hat, bleibt er in hektischen Situationen, wie bei dem überraschend aufkommenden und lebensbedrohlichen Sturm, so ruhig („Aber warum blieb Franklin so ruhig?“ S.202, Z.36 - S.203, Z.1), nimmt sich Zeit zum Nachdenken und kann genau aus diesem Grund sich so gut konzentrieren und findet die Lösungen zu den Problemen. Damit bedeutet seine Langsamkeit für John Franklin jedoch eine Überlegenheit gegenüber den anderen, die keine Ah- nung hatten, was zu tun sei. Diese Tatsache und die Gegebenheit, dass Franklin seiner Mannschaft in dem vorgegebenen Ausschnitt zweimal das Leben gerettet hat, und zwar wegen seiner gründlichen Überlegung aufgrund von seiner persön- lichen Geschwindigkeit, verschaffen ihm natürlich auch die Anerkennung und den Respekt der anderen („>>Sie haben ein Schweineglück, Sir!<< bemerkte Back erleichtert und frech, aber von Geringschätzung war nichts zu spüren, im Gegen- teil.“ S.200, Z.7 - Z.9) und machen ihm das Leben als Kapitän seines Schiffes erheblich angenehmer und einfacher, wie er selbst bemerkt: „Ich habe es leichter jetzt, dachte er [...]. Die Könige des Schulhofs lernen es, auf mich zu hören.“ (S.200, Z.22 - Z.24). Natürlich verhilft ihm seine Langsamkeit auch zu Ausdauer, was ja in der Natur der Sache liegt. Diese Ausdauer ist es aber, die immer wieder gefordert ist, so wie zum Beispiel bei der Rettungsaktion der „Dorothea“, bei der sich das Schiff erst nur zollweise bewegt, aber nach einiger Zeit dann doch in Bewegung kommt und so gerettet werden kann (vgl.S.205, Z.27f. und S.206, Z.9 - Z.16). Die Kameraden hätten bestimmt früher aufgegeben („>>Wir müssen sie aufgeben.<< keuchte Kirby“ S.206, Z.2) aber John Franklins Durchhaltevermö- gen macht sich bezahlt, bis er mit seinem Vorhaben ans Ziel kommt. Alles in al- lem bedeutet John Franklins Langsamkeit in dem vorgegebenen Ausschnitt für ihn keinen Nachteil, vielmehr Überlegenheit in Krisensituationen und dadurch Anerkennung durch die anderen. Sie hat ihm und seiner Mannschaft zudem zwei- mal das Leben gerettet.

Diesen Erfolg durch Ausdauer und Geduld aufgrund seiner Langsamkeit erfährt John Franklin auch bei den Verhandlungen mit dem Repräsentanten der Pelzge- sellschaft in Fort Chipewyan (vgl. S.220f.). Back gegenüber erklärt er sein Ver- halten folgendermaßen: „>>Ich habe gelernt, immer so lange dumm auszusehen, bis ich klug bin. Oder bis die anderen noch dümmer aussehen als ich. Glauben Sie mir das!<<“ (S.221, Z.24 - Z.27).7 Auch, wenn er mit seiner eigenen Geschwin- digkeit zurecht kommt, lebt er dennoch in einer Welt der „Schnellen“.

Ganz anders um den Zeitraum ab dem ersten September auf der 1819 gestarteten Landreise. Durch Hunger und Kälte sehr geschwächt, verfielen alle in eine „Langsamkeit, die nicht sehend war, sondern blind“ (S.249, Z.12f.). In dieser La- ge sind alle so langsam wie John Franklin. Allerdings bedeutet Johns Langsam- keit in dieser Situation für ihn auch keine Überlegenheit. Er kann sich und die anderen diesmal nicht dadurch retten, dass er sich nur Zeit nimmt und nachdenkt oder dass er als einziger die Ruhe hat sich zu konzentrieren oder lange nach einer Lösung zu suchen. Hier sind auf einmal alle gleich und auch gleich hilflos. Brach- te John Franklin seine persönliche Geschwindigkeit im anderen Ausschnitt unter anderem noch Vorteile, fehlen diese in einer Lage, in der alle gleich schnell oder langsam sind.

Zum Schluss lässt sich abrundend sagen, dass der literarische John Franklin trotz seiner Langsamkeit dennoch seine Ziele erreicht hat. Er hat die Nordwestpassage entdeckt, auch wenn diese unnütz ist. Er ist ein erfolgreicher Seefahrer geworden und das hätte ihm sicherlich keiner seiner Kameraden aus der Kindheit zugetraut.8 Allerdings ist es in meinen Augen nicht immer möglich die Kritik des Autors im Bezug auf die immer schneller werdende Zivilisation zu beherzigen. Hohe Ge- schwindigkeit ist in der heutigen Zeit in sehr vielen Bereichen äußerst wichtig. Daten müssen blitzschnell übermittelt werden, zum Beispiel bei der Vorwarnung für ein Erdbeben oder um die Koordinaten eines verunglückten Tankers an die Einsatztruppe weiterzuleiten, die das Schiff so schnell wie möglich zu bergen versuchen muss. Auch an der Börse ist „High Speed“ von größter Relevanz. Mög- lichst schon vor der Schreckensnachricht, dass die Kurse fallen, sollte der Anlie- ger informiert sein. Allerdings wäre ein bisschen mehr von John Franklins Lang- samkeit im privaten Leben der heutigen Zeit angebracht. Jeder ist im Freizeit- stress und hat kaum noch Zeit für den anderen. Die Tatsache, dass John Franklin Begründer des Franklinschen Systems ist, welches auf Geduld, Selbstdisziplin, Respekt vor anderen Menschen, sei es Freund oder Feind, schließlich Gerechtig- keit gegenüber jedem und absolute Aufrichtigkeit, um nur ein paar Leitideen zu nennen, beruht, machen den literarischen John Franklin über alle Niederlagen hinweg zu einem erfolgreichen Menschen, denn dieses System wäre wünschenswert in jeder Lebenslage.9

Anmerkungen

[...]


1 vgl. Kohpeiß, Revolution der Geschwindigkeit, S.103 - S.106

2 s. ebd., 3.5.3 Stil, S.65

3 s. ebd.

4 s. ebd., 3.5.2 Erzählposition, Erzählverhalten und Handlungsführung, S.61

5 s. ebd., S.62

6 vgl. ebd., S.62f.

7 vgl. www.hausarbeiten.de S.4

8 vgl. www.hausarbeiten.de S.4

9 vgl. www.hausarbeiten.de S.5

Ende der Leseprobe aus 6 Seiten

Details

Titel
Nadolny, Sten - Die Entdeckung der Langsamkeit (S.198, Z.31 - S.206, Z.16)
Note
+2
Autor
Jahr
2001
Seiten
6
Katalognummer
V102752
ISBN (eBook)
9783640011322
Dateigröße
338 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nadolny, Sten, Entdeckung, Langsamkeit
Arbeit zitieren
Cathryn Wynn-Edwards (Autor:in), 2001, Nadolny, Sten - Die Entdeckung der Langsamkeit (S.198, Z.31 - S.206, Z.16), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102752

Kommentare

  • Gast am 29.12.2002

    Hallo Cathryn.

    du hast nicht per zufall noch eine personencharakteriesierung dieses buches? ich muss ein Referat halten über dieses Buch und habe mühe damit. wäre sehr froh wenn du so etwas hast.
    besten dank für deine bemühungen.
    Donat Bachofner

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Titel: Nadolny, Sten - Die Entdeckung der Langsamkeit (S.198, Z.31 - S.206, Z.16)



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