Viktimologie - Theorien vom Kriminalitätsopfer


Seminararbeit, 2001

33 Seiten, Note: 16 Punkte


Leseprobe


A. Einleitung und allgemeine Zusammenhänge

‚(...) Ein Sexualmörder hatte eine ganze Reihe von Mäd- chen (Tramper) im Auto mitgenommen und dann umge- bracht. Einem der Mädchen (M) war es gelungen, ihn während der Autofahrt in ein Gespräch zu verwickeln und seinem Opferwerden auf diese Weise zu entgehen.

Als Zeugin antwortete M verwundert auf eine Frage des Gerichts: „Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekom- men, vor diesem Mann Angst zu haben. Er schaute so unbeholfen und ängstlich aus.“ (...)‘ 1

Diesem kurzen Sachverhalt läßt sich die breite Problematik und umfangreiche Fragestellungen der Viktimologie entnehmen. Man reflektiert, warum gerade M „Glück hatte“, die anderen Mädchen jedoch bei nahezu gleichem Tatablauf zum Opfer wurden. Spielte es eine Rolle, wie sie den potentiellen Täter behandelt hat; warum machte er gerade ihr einen so freundlichen Eindruck? Wie wird sie das Erlebte, vor allem den Prozeß verarbeiten und ist sie überhaupt als ‚Opfer‘ anzusehen? Auf diese Fragestellungen ist in den folgenden Ausführungen näher einzugehen und mit ihrer Hilfe die Thematik der Viktimologie zu erörtern.

I. Begriffsklärungen

Zunächst sollen zum besseren Verständnis die grundlegenden Begriffe der Thematik, also die ‚Vik- timologie‘ und das ‚Opfer‘ geklärt werden.

1. Begriff und Gegenstand der Viktimologie

Viktimologie (lat. ‚victima‘, das Opfer) ist die Wissenschaft, die sich mit dem Viktimisierungs- und Entviktimisierungsprozeß, dem kriminellen Opferwerden und dem Reaktionsprozeß darauf, sowie

ihren Voraussetzungen und Konsequenzen befaßt.2 Im Schwerpunkt untersucht sie also die Interak- tion zwischen Opfer und Täter und zwischen Opfer und Sozialkontrolle, also Kriminaljustiz, sozia- len Gruppen (z.B. Familie) und Institutionen (z.B. Medien).3

Von der Viktimologie als Wissenschaft gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen:

a) Viktimologie als eigenständige Wissenschaft/Disziplin - weiter Begriff

Teilweise wird sie als selbstständige Disziplin begriffen, die sich als Parallelwissenschaft zur Kri- minologie versteht und sich ausschließlich den Opfern von Verbrechen, Unfällen und gleichsam Naturkatastrophen zuwendet.4 Nach dieser nur selten vertretenen Auffassung besteht die Aufgabe der Viktimologie darin, die Opferpersönlichkeit unter biologischen, psychologischen und soziologi- schen Gesichtspunkten zu untersuchen. Darüber hinaus soll ein System vorbeugender und therapeu- tischer Maßnahmen entwickelt werden, um das potentielle ‚Zum-Opfer-Werden‘ zu verhindern.5 Von der Konzeption einer solchen übergreifenden Opferlehre geht fraglos eine starke Faszination aus, zumal sich damit ein begrüßenswertes sozialpolitisches Anliegen verbindet. Doch alle diese Aspekte, so wichtig sie auch sind, werden der kriminologischen Bedeutung des Opfers nicht stets gerecht. Denn auch jetzt werden aus der kriminologischen Täterforschung bekannte Fragestellungen oft nur übernommen und auf die Opferanalyse sinngemäß angewandt.6 So macht es die gebotene Einheitlichkeit der vielschichtigen kriminologischen Analyse daher fraglich, die Untersuchung von Situation, Verhalten und Persönlichkeit des Opfers theoretisch zu verselbständigen oder zu einem autonomen Forschungszweig auszugestalten.

b) Viktimologie als Teildisziplin der Kriminologie - enger Begriff

Diesem Kritikpunkt folgt eine andere Ansicht, welche die Viktimologie für eine Teildisziplin der Kriminologie hält, die sich mit der Interaktion zwischen Täter und Opfer in Kriminalitätsentste- hungs- und kontrollprozessen befaßt.7

Dieser Ansatzpunkt ist vorzuziehen. So ist es eben etwas völlig anderes, ob man einer Naturkatast- rophe zum Opfer fällt oder ob man durch eine schuldhafte Straftat verletzt wird. Opferbegriffe und - typen der ersten Ansicht sind zu verschiedenartig, so daß die Aussagen einer Viktimologie, die sich als eigenständige Wissenschaft versteht, zu allgemein und nichtssagend wird.8

2. Der Opferbegriff

Dem engen Viktimologie-Begriff folgend kann Opfer eine Person, Organisation, die Gesellschaft, der Staat oder die internationale Ordnung sein, die durch Kriminalität gefährdet, geschädigt oder zerstört werden.9

a) Allgemeine Opfereigenschaften

Oft wird übersehen, daß Verbrechensopfer auch die Familienmitglieder eines Getöteten oder Perso- nen sein können, die bei der Verbrechensverhütung oder als Hilfspersonen der Polizei bei der Ver- brechensbekämpfung geschädigt worden sind. Mag man noch im Zweifel darüber sein, ob Rauschmittelabhängige, Alkoholiker oder Prostituierte Täter oder Opfer sind,10 vergißt man leicht die Möglichkeit der Selbstviktimisierung: Man macht sich selbst zum Verbrechensopfer.

Organisationen sind häufiger Verbrechensopfer als Einzelpersonen.11 Obgleich die Opfer von Wirt-

schaftskriminalität als Kollektivopfer häufig anonym und schlecht sozial sichtbar sind, gibt es hier keine ‚Verflüchtigung der Opfereigenschaft‘. Täter-Opfer-Interaktionen finden eben nicht nur zwi- schen Einzelpersonen statt. Viktimisierungen ereignen sich auch zwischen Einzelpersonen und Or- ganisationen, zwischen Organisationen, zwischen Einzelpersonen/Organisationen und dem Staat, der Rechtsgemeinschaft oder der internationalen Ordnung.

b) Abgrenzung objektiver – subjektiver Schaden

Zudem muß sich ein Opfer nicht als solches fühlen. Jemand, der irrtümlich annimmt, er habe seine, ihm unbemerkt gestohlene Geldbörse verloren, ist auch ein Opfer. Entsprechendes gilt etwa für Op- fer eines Okkultbetruges, die davon ausgehen, für ihren Beitrag als reelle Gegenleistung den Kon- takt mit Verstorbenen zu erhalten.

Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, zwischen objektivem und subjektiven Schaden zu unter- scheiden und daß eine Beschränkung auf eine Schadensart allein problematisch ist. Wie nachfol- gende Abbildung12 zeigt, können analytisch abstrakt aber auch realiter durchaus Divergenzen auftre- ten:

Objektiver Schaden

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Kombination von objektivem und subjektivem Schaden

Als unproblematisch können die Felder I und IV angesehen werden, da dort jemand zugleich objek- tiv und subjektiv Opfer bzw. Nicht-Opfer ist. Im Falle einer nur subjektiven Opferdefinition (Feld

II) gehen die aus dem Strafrecht kommenden Opferdefinitionen von einem ‚eingebildeten‘ Opfer aus. Die Eigendefinition der Person als Opfer (anders als in der Soziologie, da dort eine entschei- dende Größe) ist hier unbeachtlich. Für einen solchen eingeschränkten Opferbegriff spricht insbe- sondere die sonst kaum lösbare Frage der Schadenshöhe und der Schadenszurechnung. Wer hat ei- nen wie großen Schaden, wenn z.B. jemand am Sonntag einer von außen wahrnehmbaren Arbeit nachgeht, die weder Geruch noch Lärm verursacht?

Somit kann zusammenfassend gesagt werden, daß der Schaden zwar wahrnehmbar (objektiver Schaden), jedoch nicht notwendigerweise auch tatsächlich wahrgenommen sein muß.

II. Rechtshistorische Zusammenhänge

1. Allgemeine Entwicklung der Opferbedeutung – Zusammenspiel mit staatlichem Strafrecht

Als Paradoxon muß festgestellt werden, daß die Schaffung staatlichen Strafrechts zu einer Vernach- lässigung des Opfers führte. Staatliches Strafrecht war nur möglich, indem das Opfer konsequent neutralisiert wurde. Dies war nötig, da in einfachen Gesellschaften die Durchsetzung des Rechts Sache des Verletzen und seiner Sippe war. Allerdings bestand – vor allem zu altgermanischer Zeit – meist die Möglichkeit der Ablösung der Blutrache, indem dies in Sühneverträgen festgesetzt wur- de.13 So wie regelmäßig in Hochkulturen mit der Erschaffung überlokaler Herrschaftsgebiete ent- stand auch im Heiligen Römischen Reich die Bedürfnis nach Zurückdrängung der privaten Selbst- hilfe und ein öffentlicher Anspruch auf Durchsetzung des Rechts. In der deutschen Rechtsgeschich-

te war dies ein mühsamer, von Rückschlägen unterbrochener Weg, der mit den fränkischen Königen begonnen hatte, sich in der Gottes- und Landfriedensbewegung fortsetzte und schließlich in den neuzeitlichen Territorialstaaten endet, die das Gewaltmonopol des Staates und das Offizialprinzip vollständig durchsetzten.14

Dies hat zur Folge, daß das Opfer in der heutigen Strafrechtspflege nur eine marginale Position hat. Zwar veranlaßt es in den meisten Fällen durch seine Anzeige/ seinen Antrag die Strafverfolgung, ist dann aber weitgehend in eine passive Rolle gedrängt. So haben Institute wie die Privatklage, die Nebenklage, das Klageerzwingungsverfahren und der Adhäsionsprozeß nur geringe praktische Be- deutung, stellen zudem hohe Hürden für den vermeintlichen Kläger dar.15

2. Entwicklung einer Opferwissenschaft – die Viktimologie

Weitere Konsequenz war, daß das Verbrechenselement ‚Opfer‘ für Klassiker wie für Positivisten mechanische, statische Begriffe bedeuteten. Sie wurden für sie zu Stereotypen. Dieser Ansicht setz- te der deutsche Kriminologe Hans von Hentig (1887-1974) in seinem Aufsatz „Bemerkungen über die Interaktion zwischen Täter und Opfer“ erstmalig im Jahre 1941 eine dynamische Konzeption gegenüber und gab Anstöße zu einer systematischen Betrachtung des Opfers. Durch einen vielbe- achteten Vortrag über „Neue bio-psycho-soziale Horizonte: Viktimologie“ machte Beniamin Men- delsohn im Jahre 1947 in Bukarest auf die Opferwissenschaft aufmerksam. Hierauf war es wieder Hans von Hentig, der die Viktimologie entscheidend durch Veröffentlichung seines Buches „Der Verbrecher und sein Opfer“ im Jahre 1948 voranbrachte. Henri Ellenberger versuchte 1954, die Täter-Opfer-Beziehung zu klären und betonte die soziale Isolation, die besonders opferanfällig macht. So waren es insbesondere diese drei Wissenschaftler, die erste Denkanstöße hin zur Opfer- forschung gaben.16

Nach dem entscheidenden Anstoß zur Wiedergutmachung des dem Opfer durch die Straftat entstan- denen Schadens durch Sara Margery Fry im Jahre 1957 wurde 1963 in Neuseeland das erste Gesetz zur Entschädigung von Verbrechensopfern erlassen. Es folgten England, Einzelstaaten der USA, Provinzen Kanadas und Australiens. In Deutschland trat erst im Jahre 1976 das Opferentschädi- gungsgesetz OEG in Kraft.

Maßgeblichen Anteil an diesem wissenschaftlichen Konsolidierungsprozeß hatten auch die zehn bisher durchgeführten internationalen Symposien für Viktimologie. Diese Veranstaltung findet in einem dreijährigen Turnus statt, zuletzt im August 2000 in Montreal, Kanada.

Als Ausdruck dieses Entwicklungsprozesses kann auch die 1979 in Münster erfolgte Gründung ei- ner „World Society of Victimology“ gelten. Darüber hinaus nahm im Jahre 1983 der Ministerrat des Europarates in Straßburg die „Europäische Konvention über die Entschädigung für Opfer von Ge- walttaten“ an. In dieser Konvention wurden einheitliche Grundsätze für die staatliche Entschädi- gung von Verbrechensopfern und die internationale Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten des Euro- parates bei dieser Entschädigung festgelegt.

Zudem bildeten sich in vielen Ländern, u.a. in der Bundesrepublik Deutschland („Weißer Ring“,

„Opfer gegen Gewalt“) Vereine zur Unterstützung von Verbrechensopfern.

Die Gründe für den Aufschwung sind verschiedenartig. Stimulierende Wirkung ist von den Opfer- befragungen (vgl. unten, S. 17 ff.) ausgegangen, die ein zunehmend informationshaltigeres und dif- ferenzierteres Bild des Verbrechensopfer vermittelt haben.17 Zudem hatte das gestiegene Engage- ment für sozial Schwache positive Einflüsse. Aufgrund der rapide zunehmenden Informations- und Medienangeboten wurde die Gesellschaft zunächst - heute ist wohl eher eine Abstumpfung und Ver- schiebung der Hemmschwelle eingetreten - im allgemeinen sensibilisiert für das Phänomen der Gewalt, insbesondere bei Kindesmißhandlungen und Vergewaltigungen. Zudem wurde die Hinwen- dung auf das Opfer schließlich von dem sich wieder stärker werdenden „Law-and-Order“-Denken begünstigt.

III. Kriminalpolitische Zusammenhänge - das Opfer in der Kriminalpolitik

Diese Konjunktur opferbezogener Themen ist ein Ausruck dafür, daß heute vielfach kriminalpoliti- sche Strömungen in Gang sind, die das Opfer und seine Interessen wieder in die Strafrechtspflege zurückbringen wollen.18 Hierbei bleibt jedoch das Gewaltmonopol des Staates nach den meisten Reformvorstellungen unberührt, so daß nicht von einem Rückfall in altgermanische Verhältnisse gesprochen werden kann.

1. Neuere Gesetze zu Gunsten des Opfers

Es gibt zunächst zwei wichtige neuere Gesetze, die unmittelbar das Opfer betreffen, nämlich das OEG (Opferentschädigungsgesetz von 1976) und das OSG (Opferschutzgesetz von 1986).

Das OEG erscheint jedoch allgemein als unzureichend, da u.a. keine Leistungen bei Fahrlässigkeits- taten gewährt und von den Krankenkassen häufig Rückforderungen geltend gemacht werden.19

[...]


1 Aus Schorsch; Becker: Angst, Lust, Zerstörung, S. 138.

2 Vgl. Schneider, Einführung in die Kriminologie, S. 304.

3 So Holyst, S. 15.

4 Vgl. Mendelsohn, Une nouvelle branche de la science bio-psychosociale: la victimologie, S. 97.

5 So Mendelsohn, Victimology and Contemporary Society’s Trends, S. 8 f..

6 Vgl. Weis, in: Kirchhoff; Sessar, Das Verbrechensopfer, S. 15ff..

7 So von Hentig, S. 54ff..

8 Vgl. Kaiser, Kriminologie, S. 532 f..

9 Vgl. Viano, S. 3 ff.

10 So Schneider, Einführung in die Kriminologie , S. 305.

11 Vgl. Schneider, Einführung in die Kriminologie, S. 305.

12 Aus Kiefl; Lamnek: Soziologie des Opfers, S. 28.

13 So Göppinger, Kriminologie, S. 163.

14 Vgl. Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, S. 91.

15 Vgl. Kaiser, Kriminologie, S. 532.

16 So insgesamt Schneider, Kriminologie, S. 752 f..

17 Vgl. Kaiser u.a., Kleines kriminologisches Wörterbuch, S. 583.

18 Vgl. Göppinger, Kriminologie, S. 164.

19 So Böhm, Praktische Erfahrungen mit Opferschutz und Opferhilfe, S. 99 ff..

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Viktimologie - Theorien vom Kriminalitätsopfer
Hochschule
Universität Regensburg
Veranstaltung
Kriminologisches Seminar
Note
16 Punkte
Autor
Jahr
2001
Seiten
33
Katalognummer
V102887
ISBN (eBook)
9783640012671
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Viktimologie, Theorien, Kriminalitätsopfer, Kriminologisches, Seminar
Arbeit zitieren
Ulrich Stemmler (Autor:in), 2001, Viktimologie - Theorien vom Kriminalitätsopfer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102887

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