Das BverfG im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik
0. Einleitung
Nach dem früheren Präsidenten des obersten Gerichtshofes ( Supreme Court ) der U.S.A., Charles E. Hughes, gibt es in den U.S.A. zwar eine Verfassung. Welchen Inhalts diese Verfassung ist, wird nach seiner Ansicht jedoch letztlich von den Ric htern bestimmt, die diese auszulegen und anzuwenden haben.1Wenn es auch grundlegende Unterschiede zwischen dem Supreme Court und dem Bundesverfassungsgericht2geben mag, so verdeutlicht dieser Ausspruch auch Wesensmerkmale der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch in der BRD gilt das Grundgesetz3faktisch so, wie es das BVerfG auslegt. Hält man sich vor Augen, daß die Verfassung die gesamte rechtliche Grundordnung unseres Gemeinwesens darstellt, so kommt dem BVerfG ohne Zweifel eine herausgehobene Stellung im Rahmen der Verfassungsordnung zu.4Aus diesen Gründen könnte das erwähnte Zitat bei einigen Lesern auch Unbehagen über die Machtfülle der 16 Richter am BVerfG regen, die nicht direkt vom Volk gewählt werden, aber trotzdem auf die Verfassung und somit auf die Regeln des Zusammenlebens in der BRD erheblichen Einfluß ausüben. Hier drängt sich die Frage auf, welche Stellung das BVerfG im staatlichen Gefüge der BRD überhaupt einnehmen darf und welche es tatsächlich einnimmt.
1. Die Verfassungsgerichtsbarkeit im System der staatlichen Gewalten
1.1. Das BVerfG als Teil der Rechtsprechung
Nach dem GG ist das BVerfG mit mannigfaltigen Aufgaben betraut. So hat es etwa letztverbindlich über die Vereinbarkeit von Landes- oder Bundesrecht mit der Verfassung, über die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern sowie zwischen einzelnen Verfassungsorganen zu entscheiden.5Insbesondere kommt dem BVerfG jedoch die Aufgabe zu, den Bürger vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt in seine Grundrechte zu schützen.6
Zusammenfassend ist das BVerfG dazu berufen, Verstöße der öffentlichen Gewalt insgesamt gegen das GG zu verhindern7. Man spricht daher auch vom BVerfG als Hüter der Verfassung..8 Dieser Aufgabe kommt das Bundesverfassungsgericht gemäß Art 92 GG - und bereits ausweislich seines Namens -als Gericht und somit als Teil der rechtsprechenden Gewalt nach. Im Rahmen der klassischen Gewaltenteilung fällt der Judikative die Aufgabe zu, konkrete Rechtssteitigkeiten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten nach Maßgabe der bestehenden Gesetze zu entscheiden.9Davon ist insbesondere die Aufgabe der Legislative zu unterscheiden, die durch politische Willensakte rechtsgestaltend tätig wird.10
Diese Zuordnung des Bundesverfassungsgericht zur rechtsprechenden Gewalt in Abgrenzung zur schöpferisch rechtsgestaltenden Legislative nach dem GG wird insgesamt dadurch deutlich, daß das BVerfG im Rahmen seiner Zuständigkeiten nur auf Antrag tätig werden und Streitigkeiten nur nach dem Maßstab der Verfassung entscheiden kann.11
Festzuhalten bleibt also, daß das BVerfG durch das GG der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet ist. In Abgrenzung zum parlamentarischen Gesetzgeber bestehen seine Aufgaben also nicht in aktiver Gestaltung, sondern in rechtlicher Kontrolle.12
1.2. Bezüge des BVerfG zum Bereich des Politischen
1.2.1. Durch die Aufgabenfülle des BVerfG bedingte politische Bezüge
Trotz der Zuordnung zur rechtssprechenden Gewalt ist das BVerfG nicht frei von Bezügen zur Sphäre des Politischen. Im Gegenteil : die Urteile des BVerfG haben oftmals unmittelbare Auswirkungen auf das politische Leben in der BRD.13
Kraft seiner ihm durch das GG zugewiesenen Zuständigkeiten kann das BVerfG etwa gegen die Entscheidung des Bundestages in Fragen der Wahl- und Mandatsprüfung angerufen werden ( Art. 41 GG ) , politische Parteien gemäß Art. 21 II GG verbieten oder im Organstreitverfahren14Kompetenzstreitigkeiten zwischen Exekutive und Legislative entscheiden.15
Besonders deutlich tritt den Einfluß des BVerfG auf das Wirken des Gesetzgebers durch die Möglichkeit hervor, im Rahmen einer abstrakten16oder konkreten17Normenkontrolle eine vom Gesetzgeber beschlossene Norm für nichtig zu erklären. In diesen Fällen hat der politische Willensentscheid der gesetzgebenden Organe vor dem Befund des BVerfG zurückzustehen. Wie diese Auswahl verdeutlicht, liegt in den Aufgaben des BVerfG notwendig ein Einwirken in den Kompetenzbereich der anderen beiden Teilgewalten.18Daraus ergibt sich die unmittelbare Bedeutung der Rechtsprechung des BVerfG für die Politik in der Bundesrepublik.
1.2.2. Durch den Normencharakter der Verfassungssätze bedingte Bezüge
Wie bereits erwähnt entscheidet das BVerfG ausschließlich in Anwendung von Verfassungsrecht.19
Während das Gesetzesrecht, das im Rang unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene steht, stark detaillierte Regelungen enthält, weisen die Verfassungsvorschriften einen hohen Abstraktionsgrad auf.20Dies ist darauf zurückzuführen, daß der Verfassungsgeber das GG als weitegehend offene Verfassung konstruiert hat.21Auf eine konkrete Festlegung, insbesondere in gesellschaftspolitischen Fragen, wurde vielerorts in GG verzichtet, um dem politisch-sozialen Wandel wesentlichen Raum zu öffnen.22Diese Offenheit schlägt sich in vielen Verfassungsbestimmungen geringen Bestimmtheitsgrades nieder.23
Die Vorschriften des GG, insbesondere im Grundrechtsabschnitt, sind daher nicht ohne weiteres aus sich heraus auf den Einzelfall anwendbare Regelungen. Vielmehr handelt es sich um knappe Grundsatzaussagen über die Staatorganisation und die Grundrechte des Bürgers, die ihrem Inhalt nach noch näher zu bestimmen sind.24
Um einen Einzelfall nach Maßgabe der Verfassung zu entscheiden, bedarf es daher einer Konkretisierung der Verfassungsvorschriften, um sie judiziell auf den Einzelfall anwenden zu können.25 Hierbei orientiert sich das BVerfG an den allgemeinen Regeln zur Auslegung und Interpretation von Gesetzen.26Insbesondere hat das BVerfG bei der Anwendung unbestimmter Verfassungsvorschriften nach der Stellung der anzuwendenden Norm im Gesamtzusammenhang der Verfassung zu fragen27und die Vorschrift in diesem Sinne auszulegen und anzuwenden. Dies ist aufgrund der erwähnten Offenheit der Verfassung nicht unproblematisch, besteht dadurch doch die Gefahr, daß das BVerfG durch seine Auslegung der Verfassung dem Gesetzgeber mit der Ausgestaltung eines im GG bewusst eröffneten Interpretationsspielraums zuvorkommt.
Insoweit ist allerdings eine Vorrangstellung des Gesetzgebers zu beachten. In einem demokratischen Staat ist es Sache der parlamentarischen Gesetzgebers, über die in der Verfassung offen gelassenen Fragen zu entscheiden.28Aus dem Gesagten ergibt sich, daß das Bundesverfassungsgericht zwar gerichtsförmig und somit nach der grundsätzlichen Konzeption des GG rechtserkennend und nicht rechtsschöpferisch tätig wird. Aufgrund seiner Aufgabenfülle und der Anwendung von erst noch näher zu bestimmenden Verfassungssätzen ergeben sich jedoch Überschneidungen zwischen den Kompetenzbereichen der staatlichen Teilgewalten. Dies gilt in besonderem Maße für das Verhältnis zwis chen Gesetzgeber und BVerfG. Insgesamt agiert das BVerfG also in einem Spannungsfeld zwischen Recht und Politik.29
2. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsprinzipien
Die beschriebene Stellung des BVerfG ist im Lichte des GG nicht frei von problematischen Aspekten. Hier sollen die Stellung des BVerfG insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung, Art. 20 III GG, sowie dem Demokratieprinzip des GG, Art.20 I GG, untersucht werden.
2.1. Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip
Nach Art. 20 III GG wird die vom Volke ausgehende Staatsgewalt durch besondere Organe der Legislative, Exekutive und Judikative ausgeübt. Dadurch ist der Grundsatz der Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip im GG verankert.30
Dem Gewaltenteilungsgrundsatz liegt der Gedanke der Aufteilung der Staatsgewalt in getrennte Staatsfunktionen zugrunde. Dadurch soll durch wechselseitige Kontrolle ein System von „ Checks and Balances “ zwischen den Teilgewalten geschaffen werden.31 Dieses System der gegenseitigen Hemmung und Mäßigung der Teilgewalten soll dazu führen, daß staatliche Machtausübung begrenzt und somit berechenbar und kontrollierbar wird,32es soll aber auch die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Organe bestmöglich gewährleisten.33Trotz der Festlegung des Gewaltenteilungsgrundsatzes im GG sind die einzelnen Gewalten nicht chemisch rein voneinander getrennt. Bei dem Gewaltenteilungssystem des GG handelt es sich nicht um ein System der strikten Funktionentrennung.34
Es bestehen zahlreiche Überschneidungen organisatorischer, personeller und funktionaler Art zwischen den Teilgewalten; man spricht daher von einem System der Gewaltenverschränkung.35
So erlässt die Exekutive etwa Rechtsverordnungen, Art. 80 GG , und wird somit rechtssetzend tätig, die gesetzgebenden Körperschaften nehmen durch die Richterwahl Einfluß auf die Zusammensetzung des BVerfG als Teil der Judikative und so weiter.36
Interaktionen zwischen den Teilgewalten sind also nicht per se mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz des Grundgesetzes unvereinbar. Jedoch is t zu beachten, daß kein Organ Tätigkeiten ausüben darf, die dem Kernbereich eines anderen Organs zuzuordnen sind. Der jeweilige Kernbereich der Teilgewalten muß unangetastet bleiben.37
2.2. Demokratie als Verfassungsprinzip
Demokratie bedeutet grundlegend die Herrschaft des Volkes. Daher soll nach Art.20 II S.1 GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen.38Von bedeutendem Gewicht ist hierbei das Parlament, der Bundestag. In der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes ist der Bundestag alleiniges unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ des Staates. Daher dürfen wesentliche politische Entscheidungen auch nicht ohne Einbeziehung des Parlaments getroffen werden.39
2.3. Aufgaben und Befugnisse des BVerfG im Hinblick auf Gewaltenteilungsbzw. Demokratieprinzip des Grundgesetzes
2.3.1. Gerichtliche Normenkontrolle des BVerfG
Am Beispiel der gerichtlichen Normenkontrolle tritt der Einfluß der Rechtsprechung des BVerfG auf den politischen Prozeß deutlich hervor. Durch das Instrument der Normenkontrolle wird der im parlamentarischen Prozeß unterlegenen Seite die Möglichkeit eröffnet, einer politisch nicht durchsetzbaren Ansicht durch einen Gang vor das BVerfG doch noch zu einem Sieg zu verhelfen.40
Dies erscheint vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung zumindest problematisch. Die Möglichkeit der Nichtigerklärung ( sog. Kassation) von Gesetzen bedeutet ein massives Einwirken in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers: Die Geltung eines demokratisch beschlossenen Gesetzes steht somit letztlich unter dem Vorbehalt einer Bestätigung durch das BVerfG.41Die Möglichkeit ein Gesetz nichtig zu erklären bewirkt also in diesen Fällen ein Balanceverschiebung zwischen Gesetzgeber und BVerfG. Mit dieser Verschiebung zu Lasten des Parlaments gehen auch Bedenken hinsichtlich des demokratischen Wesens des Staates einher. Denn während das Parlament das einzige direkt vom Volk legitimierte Verfassungsorgan ist, werden die Richter des BVerfG weder direkt vom Volk gewählt, noch sind sie dem Volk unmittelbar Rechenschaft schuldig.42
Jedoch wäre es falsch, aus dem Grundsatz des Demokratieprinzips des GG einen umfassenden Vorrang der Entscheidungen der gesetzgebenden Körperschaften gegenüber den anderen Gewalten zu folgern.43
Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik sollte der Gesetzgeber nur frei sein, im Rahmen der Verfassung rechtsgestaltend tätig zu werden. Das BVerfG ist nach dem Willen des Verfassungsgebers daher in Angelegenheiten der Beurteilung der Verfassungsmäßig- oder widrigkeit von Gesetzen stärker als der Gesetzgeber.44
So mag die Möglichkeit der Gesetzeskassation zwar im Hinblick auf das Gebot der Gewaltenteilung bedenklich erscheinen. Sie entspricht aber der bewusst getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers.
Daß das Prinzip der Gewaltenteilung trotzdem hier nicht außer Acht geblieben ist, wird durch das Antragserfordernis unterstrichen: das BVerfG darf daher nicht etwa besonders reizvolle Themen an sich ziehen und somit aus eigenem Antrieb über deren Verfassungsmäßigkeit urteilen, sondern es kann nur auf und im Rahmen eines gestellten Antrages ein solches Verdikt treffen.45
2.3.2. Gefahr der Veränderung der Gewaltbalance durch die Offenheit des Normprogramms des GG
Wie bereits darzulegen war, kommt der Unbestimmtheit des Normprogramms des GG insoweit problematische Bedeutung zu, als dadurch in der verfassungsgerichtlichen Anwendung der Normen die Grenzen zwischen Rechtsanwendung und Rechtsgewinnung verwischt werden können.46
Wenn der Grundsatz der Gewaltenteilung nun fordert, daß kein Organ Tätigkeiten ausüben darf, die dem Kernbereich eines anderen Organs zuzuordnen sind, so fragt sich, wie die Aktionsbereiche des Parlaments und der Verfassungsgerichtsbarkeit dem Grundsatz der Gewaltenteilung entsprechend voneinander abzugrenzen sind.
Einerseits hat das BVerfG die Verfassungsvorschriften so zu konkretisieren, daß sie auf einen Einzelfall anwendbar sind. Andererseits hat eine an den Grundsätzen der Gewaltenteilung orientierte Verfassungsgerichtsbarkeit zu beachten, daß es in einem demokratischen Staat Sache des parlamentarischen Gesetzgebers ist, Bereiche auszugestalten, die in der Verfassung bewusst offengelassen wurden.47Andernfalls besteht die Gefahr einer - unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung unerträglichen - Stellung des BVerfG als Ersatzgesetzgeber.48
Die Beachtung des in der Verfassung geschaffenen und begrenzten Bereiches politischer Entscheidung durch das BVerfG erscheint umso gebotener, als die Entscheidungen des BVerfG letztverbindlich und somit einer übergeordneten Kontrolle durch andere Staatsorgane entzogen sind.49
3.Verfassungsgemäßes Agieren im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik?
3.1. Selbstbeschränkung des BVerfG ( Judicial Self-Restraint )
Aus diesem Umstand ergibt sich zunächst, daß die aus Gründen der Gewaltenteilung erforderliche Achtung vor dem Aktionsfeld des parlamentarischen Gesetzgebers nur Sache des BVerfG selbst sein kann.50Zu diesem Zweck haben sich in der Rechtsprechung des BVerfG bestimmte allgemeine Grundsätze herausgebildet, um der besonderen Kompetenz des Gesetzgebers Rechnung zu tragen.
3.1.1. Verfassungskonforme Auslegung
Zwar kann, wie bereits erwähnt, ein von den gesetzgebenden Körperschaften mehrheitlich beschlossenes Gesetz durch das BVerfG für nichtig erklärt werden. Bevor es zu einer solchen Nichtigerklärung kommt, prüft das Gericht zunächst, ob das Gesetz so zu interpretieren ist, daß es als noch verfassungskonform erachtet werden kann. Sollte dies der Fall sein, so ist diese Auslegung mit der Folge maßgeblich, daß das Gesetz nicht als verfassungswidrig verworfen werden kann. Dies gilt selbst dann, wenn das Gesetz nach einer anderen möglichen Auslegung als verfassungswidrig betrachtet werden müßte. Man spricht insoweit von verfassungskonformer Auslegung.51
3.1.2. Verweis auf gesetzgeberische Initiativen
Ferner hat das BVerfG im Bereich von offenkundig prinzipienhaften Verfassungsnormen auf eine eigenständige Konkretisierung verzichtet und auf den Vorrang gesetzgeberischer Initiativen verwiesen.52
Zur Verdeutlichung sei die Rechtsprechung des BVerfG zum Sozialstaatsprinzip ( Art. 20 I GG ) genannt. Beim Sozialstaatsprinzip handelt es sich um ein Verfassungsprinzip, das sich nur aus dem Adjektiv „sozial“ in Art. 20 I GG ergibt. Eine weitere Charakterisierung findet sich im GG hierzu nicht. Um das Aktionsfeld des parlamentarischen Gesetzgebers zu wahren, hat das BVerfG dem Gesetzgeber im Bereich sozialstaatlicher Aktivitäten einen besonders weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt.53
3.1.3. Zurückhaltung des BVerfG bei Prognose- oder Zweckmäßig- keitsentscheidungen
Darüberhinaus übt sich das BVerfG in Zurückhaltung, wenn Prognose- oder Zweckmäßigkeitsentscheidungen zur Beurteilung vorliegen.54Das Bundesverfassungsgericht hat danach nicht darüber zu befinden, ob ein dem Gesetzgeber eingeräumter Ermessensspielraum einen zweckmäßigen oder weisen Gebrauch gemacht hat.55Dies würde bedeuten, die sachlich-politischen Erwägungen des Gerichts an die Stelle der Erwägungen des Gesetzgebers zu setzen und somit die Kernkompetenz in Gesetzgebungsfragen in Frage zu stellen.
Sofern Wertungen und tatsächliche Beurteilungen des Gesetzgebers von Bedeutung sind, gilt etwas anderes nur, wenn die Einschätzungen des Gesetzgebers widerlegbar sind.56
3.2. Gegenläufige Tendenzen
Zwar tragen die dargestellten Grundsätze der richterlichen Selbstbeschränkung insbesondere dem Grundsatz der Gewaltenteilung in dem hier skizzierten Sinne Rechnung. Es häufen sich andererseits aber auch gegenläufige Tendenzen.
3.2.1. Umwechslung der Verfassung in , kleine Münze’
Durch die Rechtsprechung des BVerfG wurden zuweilen auch Detailfragen entschieden. Trotz der erwähnten Offenheit der Normen des GG hat das BVerfG etwa entschieden, daß den Ausschussvorsitzenden im Parlament nach dem GG keine höhere Entschädigung gewährt werden könne als anderen Abgeordneten.57In solchen Fällen ist es ebenso vertretbar, - wenn nicht unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung dringend geboten - zu dem Ergebnis zu kommen, daß die Verfassung zu diesem Punkt keine Aussage trifft.58Das BVerfG hat in solchen Fällen59der Versuchung nicht widerstehen können, die Verfassung in allzu „kleine Münze“60zu wechseln, indem sie zu Lasten des Parlaments Detailfragen unter Berufung auf die Verfassung entschieden hat.
3.2.2. Detaillierte Vorgaben für den Gesetzgeber
Zuweilen neigt das BVerfG in seinen Urteilen ferner dazu, dem Gesetzgeber detaillierte Vorgaben für gesetzgeberische Regelungen zu machen. Eine Auswahl an Entscheidungen muß hier unvollständig bleiben, um den Rahmen der Ausführungen nicht zu sprengen. Im Folgenden seien einige wenige Urteile zur Verdeutlichung der aufgezeigten Problematik beispielhaft angeführt.
So hat sich das BVerfG in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs dazu geäußert, welche vier Ausnahmen von der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs nach der Ansicht des Gerichts verfassungsgemäß seien,61und jüngst Details zur einer Schwangerenberatung vorgeschrieben.62
Gleiches gilt für die Entscheidung des BVerfG zur Vermögenssteuer, in der der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum empfindlich eingeschränkt wurde.63Aus jüngster Ze it ist insbesondere die Entscheidung des BVerfG zur Familienbesteuerung zu nennen.64Hier wurden dem Gesetzgeber so eindeutige Vorgaben hinsichtlich der Familienbesteuerung gemacht, daß der politische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in - unter Aspekten der Gewaltenteilung unerträglicher Weise beschnitten wurde.65
3.2.3. Obiter Dicta
Gleiches wie für die dargestellten detaillierten Vorgaben des BVerfG in Gesetzgebungsangelegenheiten gilt für so genannte obiter dicta des BVerfG.
Darunter sind Stellungnahmen des Gerichts hinsichtlich Fragen zu verstehen, die für die Entscheidung des konkret vorliegenden Falles nicht von Bedeutung sind. Wie erwähnt wurde, unterstreicht die Regelung, daß das BVerfG nur im Rahmen des gestellten Antrags über die ihm vorgele gten Fragen entscheiden kann, seine Zugehörigkeit zur Gerichtsbarkeit im Sinne des Art. 92 GG. Dadurch soll verhindert werden, daß das Gericht eigenmächtig zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Sachverhalten schreiten kann. Ein Auftrag zur schöpferischen Gestaltung des politischen Lebens steht dem BVerfG aus den erwähnten Gründen nicht zu; dies wird durch das Antragserfordernis unterstrichen. Trotzdem hat sich das BVerfG dazu hinreißen lassen, ohne dazu das konkrete Verfahren dazu veranlasst zu sein, zu weiter gehenden Fragen Stellung zu beziehen. So hat das BVerfG etwa ohne aus dem vorgelegten Fall selbst dazu veranlasst zu sein, im Ergebnis ein neues Parlamentsrecht für die Landtage und den Bundestag geschaffen.66
3.2.4. Ursachen
Fraglich bleibt indessen, worauf diese zum Teil ausufernde Rechtssprechung zurückzuführen ist.
Teilweise wird hierzu bemerkt, daß die Verfassungsrichter nicht die Macht an sich zögen, sondern sie aufgedrängt bekommen.67Das BVerfG ist dieser Ansicht zufolge zur Entscheidung politischer Fragen nicht zuletzt deshalb berufen, weil die politischen Kräfte brisante Konflikte an das BVerfG delegieren, weil sie in sich zu zerstritten oder zu zögerlich sind, sie eigenständig zu lösen.68Ein Beispiel bildet das bereits oben erwähnte Urteil des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch.69Im Parlament kam es seinerzeit zu keinem brauchbaren Entwurf, mit der Folge, daß das BVerfG eine detaillierte Regelung traf.70Als weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang sei das Verfahren zu den so genannten „out of area“ -Einsätzen der Bundeswehr genannt.71Daran zeigt sich einerseits, daß das BVerfG zwar nicht der Versuchung widerstanden hat, hier als Ersatzgesetzgeber aufzutreten. Andererseits kommt für stärkere Konturierung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik nach Maßgabe des Gewaltenteilungsgrundsatzes auch dem Parlament Verantwortung zu.72
4. Fazit
Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich, daß das BVerfG nach dem Grundgesetz als ein Teil der rechtsprechenden Gewalt konzipiert ist. Aufgrund der Aufgabenfülle und den Besonderheiten des vom BVerfG anzuwendenden Verfassungsrechts überschneidet sich das Aktionsfeld des BVerfG zwangsläufig mit den Aktionsfeldern anderer Teilgewalten, insbesondere mit dem der Legislative.
Dies erscheint besonders vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung problematisch, da daher die Gefahr besteht, daß ein Staatsorgan Aufgaben wahrnimmt, die ihm nach der Verfassung nicht zukommen. Die Rechtsprechung des BVerfG bietet vor diesem Hintergrund ein uneinheitliches Bild.
Zwar wurden einerseits vom BVerfG Verfahren herausgearbeitet, um der Gefahr einer Verschiebung der Gewaltenbalance zwischen den Teilgewalten vorzubeugen. Andererseits finden sich in der Rechtsprechung des BVerfG auch gegenläufige Tendenzen, die mit dem Gebot der Gewaltenteilung nicht in Einklang zu bringen sind.
Eine Alleinverantwortung des BVerfG für diese Tendenzen ist nach der hier vertretenen Ansicht jedoch abzulehnen. Auch wenn im Rahmen dieser Arbeit die Ursachen für diese Entwicklungen in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt werden konnten, bleibt jedoch festzustellen, daß die Politik zu einem nicht unerheblichen Teil zu dieser Entwicklung beiträgt.
[...]
1Vgl. dazu den vielzitierten Ausspruch : „ We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is.”, C.E. Hughes, zit. nach Reissenberger, Wer bewacht die Wächter ? Zur Diskussion um die Rolle des Bundesverfassungsgerichts , in : ApuZ B 15-16/97, S.27
2im Folgenden: BVerfG
3im Folgenden: GG
4Horst Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, 5. Auflage, München 1998 , S.17
5vgl zu den einzelnen Zuständigkeiten Art. 93 I GG
6Rupp-v.Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt. Wechselseitiges Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Parlament, AöR Bd. 102, S.2 f.
7Säcker, a.a.O., S.18
8Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 28. Auflage, München 1991, § 41 I 1.
9Rudzio,Das politische System der BRD, 5. Auflage, Opladen 2000, S. 329
10Maunz/Zippelius, § 35 III 1. , § 41, I 2
11Rupp-v.Brünneck, AöR 102, S. 3
12Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, in : JZ 1995, S.267
13Gegenwärtig sind etwa die Urteile des BVerfG zum Gewaltbegriff des § 240 Strafgesetzbuch ( Nötigung ) im Zusammenhang mit den umstrittenen Castor-Transporten in aller Munde ; vgl. BVerfGE 92 , S. 1 ff.
14vgl. hierzu Art.93 I Nr.1
15Rupp-v.Brünneck, a.a.O., S. 5 ff.
16auf Antrag der BReg, einer LReg oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages
17auf Antrag eines Gerichts
18Knies, Auf den Weg zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat ?“, in : Festschrift für Klaus Stern, München 1997, S. 1158
19Degenhart, Staatsrecht I , 15.Auflage, Heidelberg, 1999, Randnummer ( Rn. ) 493
20Säcker, a.a.O., S.32
21Scholz, Das Bundesverfassungsgericht : Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber ?, in: APuZ B 16/99, S. 4 ; Scholz/Mayer- Teschendorf , „Politisiertes“ Verfassungsrecht und „Depolitisierung“ durch Verfassungsrecht, in: DÖV 1998, S.10f.
22ebenda
23vgl. z.B. Art. 14 I : Eigentum und Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
24Rüpp-v.Brünneck , AöR 102, S. 3 ; Säcker, a.a.O., S. 32
25Scholz, in: Das Bundesverfassungsgericht : Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber ?, APuZ B 16/99, S. 5
26vgl. Rudzio, a.a.O. , S.336
27ebenda
28Säcker, a.a.O., S. 35
29Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung ? , in : NJW 1996, S. 1509 ; Limbach, www.fu-berlin.de/jura/netlaw/publikationen/beitraege/ws97-limbach.html , 29.3. 2000
30Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung ? , in : NJW 1996, S. 1506
31Degenhart, a.a.O. , Rn.218
32Vogel, a.a.O., S. 1505
33BVerfGE 95,1 ; Vogel, a.a.O., S. 1505
34Vogel, a.a.O., S. 1506
35Degenhart, a.a.O., S. 218
36Rüpp-v.Brünneck, a.a.O., S.4 ; weitere Beispiele bei Vogel, a.a.O., S. 1506
37BVerfGE 95,1
38Degenhart, a.a.O. , Rn. 6
39Degenhart, a.a.O. , Rn. 47
40Donald P. Kommers, The Federal Constitutional Court in the German Political System , in: Comparative Political Studies/January 1994, S. 470 f., hier: 474 , zit. nach Rudzio, a.a.O., S.337
41Knies, Auf den Weg zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat ?“, in : Festschrift für Klaus Stern, München 1997, S. 1159
42Limbach, a.a.O. S.3
43Säcker, a.a.O., S. 20
44Limbach, a.a.O., S. 3 ; Reissenberger, a.a.O., S. 13 ; Säcker, a.a.O. , S. 20, 35
45Säcker, a.a.O. , S. 20
46Limbach, a.a.O., S.4
47BVerfGE 33, S.125 (159) ; Säcker, a.a.O., S.35
48Christine Landfried, Rechtspolitik, in: Klaus v. Beyme/Manfred G. Schmidt ( Hg.), Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1990, S.76 f., hier S.88
49Großfeld : Götterdämmerung? Zur Stellung des BVerfG, in NJW 1995, S. 1719 ff.
50Limbach, a.a.O., S.4
51Degenhart, a.a.O., Rn.522
52Limbach, a.a.O., S.5
53BVerfGE 59, S. 231 ( 263 )
54Degenhart, a.a.O., Rn.523
55BVerfGE, 49, S. 89 ( 141 f. ) ; BVerfGE 77, S. 84,106 ff.
56BVerfGE 45, S. 187 ( 237 ff. )
57BVerfGE 40, 296 ( S. 318 ff. ); Vogel , Videant judices, in : DÖV 1978, S. 667
58Scholz, Karlsruhe im Zwielicht, in : Festschrift für Klaus Stern, München 1997, S.1208
59dazu Vogel, Videant judices, in : DÖV 1978, S. 667 f.
60Vogel, ebenda ; Scholz, Karlsruhe im Zwielicht, in: Festschrift für Klaus Stern, München 1997,S.1183 ff.
61BVerfGE 39, S. 1 ( 48 ff.)
62BVerfGE 88, S. 270ff. , S.281 ff.
63BVerfGE 93, 121 ff. ; 93, 165 ff.
64BVerfGE, in NJW 1999, S. 557 ff.
65Scholz ,Das Bundesverfassungsgericht : Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber ?, in: APuZ B 16/99, S. 7 f. ; vgl. BVerfGE, in NJW 1999, S. 561 ff. , 564 f. , S. 565 f.
66Vogel, Videant judices ! Zur aktuellen Kritik am BVerfG, in : DÖV 1978, S. 665 ( 668 ) unter Bezugnagnahme auf BVerfGE 40, S. 296
67vgl. Großfeld, a.a.O., S. 1721
68Limbach, a.a.O., S.2 ; Scholz, Das Bundesverfassungsgericht, : in: APuZ B 16/99, S.8
69BVerfGE 88, S. 203 ff.
70Scholz, a.a.O. , S. 8
71BVerfGE 90, 286 ff. ; Reissenberger, a.a.O., S.19
72Knies, Auf den Weg zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat ?“, in : Festschrift für Klaus Stern, München 1997, S. 1162 ; Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, in : JZ 1995, S.267
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- Mr. Irievibe (Autor:in), 2001, Das BVerfG im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102977