Ansätze einer reflektierten Koedukation


Hausarbeit, 1999

9 Seiten, Note: 3


Leseprobe


0 Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema

„Ansätze einer reflektierten Koedukation: Möglichkeiten der Umsetzung im Deutschunterricht der Sekundarstufe I“.

Zu Beginn sollen anhand eines kurzen Überblicks über die aktuelle Koedukationsdebatte die -vor allem für das weibliche Geschlecht - sich manifestierenden und teilweise bereits empirisch erforschten Problematiken koedukativer Unterrichtsformen dargelegt werden, welche eine Umgestaltung der Unterrichtswirklichkeit im Interesse beider Geschlechter wünschenswert und auch notwendig erscheinen lassen.

Im Folgenden werden mögliche Ansatzpunkte für unterrichtliche Maßnahmen im Sinne einer reflektierten Koedukation vorgestellt, wie sie in der Veröffentlichung Typisch Junge? Typisch M ä dchen? vom Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung in München dargestellt und zur Umsetzung im Schulunterricht der Sekundarstufe I empfohlen werden.

Im Hinblick auf die Verwirklichung dieser Vorschläge werden zwei unterschiedlich angelegte Projekte zur reflektierten Koedukation im Deutschunterricht untersucht und ausgewertet. Sie sollen einen Überblick über die aktuelle Situation im Deutschunterricht der Sek. I und dessen Verbesserungsmöglichkeiten im Sinne eines an den Interessen und Bedürfnissen von Mädchen und Jungen orientierten koedukativen Unterrichts geben.

Abschließend soll auf Möglichkeiten der Übertragung dieser Initiativen auf den alltäglichen Deutschunterricht eingegangen und die Perspektiven der reflektierten Koedukation beleuchtet werden.

I Reflektierte Koedukation

I.1 Überblick über die aktuelle Debatte

Das Prinzip der schulischen Koedukation wurde in den 70er und 80er Jahren in Deutschland mit dem Anspruch und der Zielsetzung eingeführt, „gleiche Bildung für beide Geschlechter“ (zitiert nach Nyssen, S. 13) zu ermöglichen und zu fördern.

Zahlreiche seitdem durchgeführte Erhebungen und Einzelfallstudien (vgl. Nyssen, Enders-Dragässer, Fuchs, Gorgulla) zeichnen jedoch ein anderes Bild von den Effekten der Koedukation für die Ausbildung und Sozialisation von Mädchen und Jungen im Schulalltag. So wird in „Unterrichtsanalysen“ (Oomen-Welke, 1995, S. 19) deutlich, „daß durchschnittlich 38% der (interaktiv genützten) Unterrichtszeit für Mädchen und nie weniger als 58% der Zeit für die Jungen zur Verfügung“ (ebd.) stehen, während sowohl die Mädchen und Jungen (vgl. Nyssen, S. 226f) als auch die Lehrkräfte die Ansicht vertreten, es gäbe eine formale Gleichbehandlung der Geschlechter.

Dieser den realen Verhältnissen widersprechende Eindruck ist nach Oomen-Welke „zu erklären als Produkt aus Verhalten und (unbewußter) Norm [...] Jungen haben mehr Anspruch auf Redezeit, Mädchen weniger“ (Oomen-Welke, 1995, S. 19f).

Diese Art von Umgang mit Koedukation bezeichnet Faulstich-Wieland als „starres Prinzip“ (Faulstich-Wieland, S. 163), bei der die „Vormachtstellung der Männer“ (ebd., S. 9), wie sie sich in der Gesellschaft zeigt, durch die Institution Schule unreflektiert an Heranwachsende weitergegeben und so mitgetragen wird.

Den SchülerInnen wird auf diese Weise nicht aufgezeigt, dass sie sich in Bezug auf Geschlechterrollenzuschreibungen in Schule und Gesellschaft „innerhalb eines Normengebäudes bewegen, das durchaus hinterfragbar wäre“ (Oomen-Welke, 1995, S. 320f).

Oomen-Welke illustriert dieses typische LehrerInnenverhalten am Beispiel des Meldens und Aufrufens in der Klasse (vgl. Oomen-Welke, 1994, S. 244): So sind Lehrpersonen besonders in der Sekundarstufe geradezu darauf trainiert, spontane Beiträge der Jungen in das Unterrichtsgeschehen zu integrieren, während Meldungen der Mädchen ebenso unbeachtet bleiben wie (verbal-)aggressive Verhaltensweisen der Jungen den Mädchen gegenüber.

Im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten, als welches auch das Hineinrufen in die Klasse durchaus gewertet werden kann, weisen Petermann und Petermann darauf hin, dass ein Erkennen der Situation von Seiten der Lehrperson ohne darauf folgende Konsequenzen die Auftretenswahrscheinlichkeit für das jeweilige Verhalten verstärkt (vgl. Petermann/Petermann, S. 14f). Neben der Aufmerksamkeit wird den Mädchen von vielen LehrerInnen demnach auch jegliche Hilfe gegen aggressives Verhalten der Jungen verwehrt.

Kreienbaum/Metz-Göckel bemerken betreffend dieser Art der Umsetzung von Koedukation zusammenfassend:

Offensichtlich ist das [...] Bildungssystem der Bundesrepublik selbst bei fortschrittlicher Pädagogik nicht in der Lage gewesen, eine schiefe [...] Entwicklung zwischen den Geschlechtern gegen das soziale und kulturelle Umfeld auszugleichen oder zu neutralisieren. Das könnte unerheblich sein, wäre es nicht eine latente Provokation für eine Vorstellung [...] einer Pädagogik des „sozialen Ausgleichs“, in der durch das soziale Umfeld entstandene „Defizite“ nicht verstärkt, sondern verringert werden sollen (Kreienbaum/Metz-Göckel, S. 76)

Die innerhalb der Koedukationsdebatte geäußerte Kritik zielt nicht darauf ab, der Wiedereinführung der Monoedukation den Weg zu bereiten. Sie stellt lediglich die „Art und Weise, in der Koedukation realisiert wurde“ (Faulstich-Wieland, S. 1) in Frage, da sie sich gegen eine Institution Schule verwahrt, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert, anstatt sie zu reflektieren. Sünger verweist in diesem Zusammenhang deutlich auf die Notwendigkeit eines reflektierten schulischen Umgangs mit geschlechtsorientierten Problemen:

Ausgangspunkt für Unterricht ist zwar die Situation [...]im Hier und Jetzt, doch sollen grundsätzlich Qualifikationen [...] erworben werden für spätere Lebenssituationen. Dies bedin gt einen gedanklichen Vorgriff auf die Welt von Morgen und Übermorgen (Sünger, S. 21).

I.2 Unterrichtliche Maßnahmen

I.2.1 Grundsätze

Um Mädchen und Jungen gleichermaßen für den Unterricht zu motivieren sollten bei der Themenauswahl die Vorlieben und Interessen beider Gruppen wahrgenommen und eingebracht werden. Themen- und Verhaltenszuordnungen von Seiten der Lehrperson wirken dabei kontraproduktiv und sollten vermieden werden. Wichtig ist, die SchülerInnen zu kooperativem Verhalten anzuregen, dabei allerdings die oft sehr unterschiedlichen Vorerfahrungen auf spezifischen Gebieten zu bedenken. Sollten diese als trennendes Kriterium eingeschätzt werden, kann eine zeitweise reflektierte Trennung eventuell fördernder sein. Unersetzbar ist hier in jedem Falle gezielte Rückmeldung der Lehrperson, da sie hilft, hierarchische Arbeitsteilung zu verhindern und das Selbstwertgefühl der bzw. des Einzelnen zu verstärken. Geschlechterbeziehungen im Unterricht zu thematisieren ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg der systematischen Sensibilisierung der Schüler für diese Problematik. Inwieweit diese Thematisierung auf die Situation der Klasse bzw. der einzelnen Schüler verweisen soll und darf, muß die Lehrperson im konkreten Fall entscheiden (vgl. Staatsinstitut, S. 100f).

I.2.2 Tätigkeiten

Unterrichtsinhalte sollen ganzheitlich und personenbezogen vermittelt werden. Von besonderer Bedeutung für das Engagement von Jungen und Mädchen sind das Thematisieren von männlichen und weiblichen Lebenssituationen sowie das Anknüpfen an die Lebenswirklichkeit von Jungen und Mädchen. Geschlechtstypische Rollenverständnisse sollten ebenso in den Unterricht einfließen wie geschlechtsdifferente Sichtweisen bestimmter Dinge. Unterrichtsinhalte sollten historisch eingeordnet werden, um die Konventionalität der geltenden Rollenbilder in den Vordergrund zu stellen, welche durch keinerlei biologische Faktoren gerechtfertigt werden. In diesem Zusammenhang sollte darauf geachtet werden, wann immer es möglich ist, auf die Leistungen bedeutender Frauen hinzuweisen, um die allen Rollenstereotypen widersprechende faktische Gleichheit der Geschlechter zu untermauern. Darüber hinaus sollte geschlechtsdifferente Interaktion in den Unterricht eingebracht werden, um in diesem Kontext gemeinsam mit den SchülerInnen Interaktionsformen zu finden, die beiden Geschlechtern gerecht werden und vor allem zunächst die Zurückhaltung der Mädchen überwinden helfen. Besonders werden dabei sozial-kommunikative Formen vorgeschlagen, wie Partner- und Gruppenarbeit, Projektunterricht, Plan- und Rollenspiele und das Lernen mit allen Sinnen.

Gehen diese Aktivitäten mit einem reflektierten allgemeinen Unterrichtstil und einer auf Demokratie bedachten Gesprächsführung der Lehrperson einher, kann ein tatsächlich an den Interessen von Jungen und Mädchen orientierter Unterricht stattfinden (vgl. Staatsinstitut, S. 90f).

II Projekte

II.1 Eine Reise zu sich selbst - Reinhold Zieglers „Es gibt hier nur zwei Richtungen, Mister“

II.1.1 Text und Bezug der Gruppe

Das Unterrichtsprojekt von Eichner/Kraft stützt sich auf den Roman „Es gibt hier nur zwei Richtungen, Mister“ von Reinhold Ziegler, der von den SchülerInnen weitgehend eigenständig erarbeitet werden soll.

Der Roman schildert die Reise des 30jährigen Ich-Erzählers Achim einerseits durch die U.S.A., andererseits zu sich selbst und einer eigenverantwortlichen Entscheidung für ein Leben mit seiner Freundin und ihrem noch ungeborenen Kind. Auf diesem Weg begleitet ihn Sparky, den Achim auf der Reise kennenlernt. Im Gegensatz zu Achim entspricht Sparky nicht dem männlichen Rollenklischee. Er lehrt Achim „Positionen aufzugeben und ihm unverständliche Gefühle und Schwächen zu akzeptieren, um Vertrauen und Geborgenheit nicht auf´s Spiel zu setzen“ (Eichner/Kraft, S. 38).

Die Autorinnen haben mit diesem Roman in zwei siebten und einer neunten Klasse Erfahrungen gesammelt. Sie stellten während der Bearbeitung fest, dass sowohl Jungen als auch Mädchen sich mit den männlichen Protagonisten identifizieren konnten, da die dargebotenen „traditionellen Männerbilder [...] durch Rollenangebote erweitert [werden], die menschlicher sind und deshalb beiden Geschlechtern das Zusammenleben erleichtern“(ebd.). Dagegen verharren „die [...] weiblichen Romangestalten [...] in den traditionellen Mustern“ (ebd., S. 39).

Die Autorinnen weisen ausdrücklich auf die Notwendigkeit hin, Schülerinnen und Schüler anhand der Nachfragetechnik „für geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen, die durch gesellschaftliche Zuordnung geschaffen werden, ohne durch das biologische Geschlecht hinreichend begründet zu sein“ (ebd.) zu sensibilisieren. Fragen wie „Was ist an das biologische Geschlecht gebunden? Was könnte genauso gut anders sein?“ können den SchülerInnen möglicherweise auch einen Schlüssel bieten, um „ihre unmittelbare Lebenswirklichkeit [...] oder die Modelle, die ihnen in den Medien geliefert werden, anders wahrzunehmen und zu beurteilen“(ebd.).

Hier wird entsprechend der in Punkt I.2 vorgeschlagenen Unterrichtsmaßnahmen verfahren, indem durch Medienthematisierung ein Rückbezug zur konkreten Lebenswirklichkeit der SchülerInnen gebildet wird. Diese Lernphase ist für eine Orientierung der SchülerInnen in dem für sie mit großer „Verunsicherung“ (Oomen-Welke, 1995, S. 229) verbundenen Themenfeld `Geschlechtsstereotypen´ insofern unerlässlich, „als gerade die neuen Medien, Privatfernsehen und Computerspiele zu einer Revitalisierung überkommener Geschlechtsstereotypen beitragen“ (Barth, S. 18).

Im Zuge der inhaltlichen Bearbeitung des Romans sind laut Eichner/Kraft SchülerInnen ab 14 Jahren in der Lage, die dort zu findenden „Geschlechterattributierungen aufzudecken und die Bedeutung der Individualität gegenüber gesellschaftlichen Zuschreibungen zu erkennen“(Eichner/Kraft, S. 39). Auf der inhaltlichen Ebene soll es also gelingen, anhand der Thematisierung geschlechtstypischen Rollenverständnisses (vgl. I.2) im Rahmen einer reflektierten Koedukation „die strikten Opposition `männlich´ - `weiblich´ als soziokulturelles Konstrukt [zu] entlarven und damit zur Disposition [zu] stellen“ (Barth, S. 18).

II.1.2 Bearbeitung

Die Realisierung dieses Unterrichtsprojektes erfolgt in zehn Unterrichtsstunden, wobei die Textlektüre von gemeinsamer Erarbeitung in der Gruppe begleitet wird (vgl. Eichner/Kraft, S. 39).

Der in I.2 aufgezeigten Forderung nach vermehrtem Einsatz sozial-kommunikativer Interaktionsformen wird hier durch die Anwendung von Gruppenarbeit entsprochen, wobei die Schüler sich den Gruppen gemäß ihrer speziellen Interessengebiete zuordnen können. Dadurch wird auch eine Kooperation zwischen den Geschlechtern (vgl. I.2) angeregt, da hier eine „Geschichte [...] vom Erwachsenwerden“ (Barth, S. 21) angeboten wird, die Mädchen und Jungen in gleichem Maße anspricht (vgl. Eichner/Kraft, S. 37ff).

Die Themen der Gruppen gliedern sich auf in

A) die Erstellung und Ausgestaltung einer Karte des Reiseweges
B) die Charakterisierung jeweils einer Person
C) die Schilderung der Beziehungen zwischen jeweils zwei Personen (vgl. Eichner/Kraft, S. 39f).

Zwar werden grobe Bearbeitungsstrategien vorgegeben, wie beispielsweise der Umriss einer Person auf Packpapier, Sprechblasen oder der Vorschlag der Nutzung von Standbildern oder Texttheatern (ebd.), dennoch können die Schülerinnen und Schüler „eigene Interessen, Wege und Haltungen“, wie sie Oomen-Welke in ihrer Ausarbeitung zur reflektierten Koedukation fordert (Oomen-Welke, 1995, S. 230) in die Ausgestaltung ihres Themas einbringen. Hiermit wird eine ganzheitliche und konkret personenbezogene Vermittlung angestrebt, wozu Oomen-Welke bemerkt:

Lernen funktioniert besser, wenn der Zugang der Lernenden respektiert und unterstützt wird (ebd.).

Die vorgestellten Ergebnisse der einzelnen Gruppen werden jeweils als Einstieg in die nähere Erörterung eines spezifischen Romanmotivs bzw. -themas genutzt. So wird z.B. das Thema „Freundschaft“ anhand der an getrennten Tafelhälften notierten „Vorstellungen und Urteile“ (Eichner/Kraft, S. 40) der Jungen bzw. der Mädchen aufgearbeitet. Hierbei stellen die Autorinnen „aufschlußreiche geschlechtsspezifische Unterschiede“ (ebd.) fest, welche eine intensive Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen im allgemeinen und mit geschlechtsdifferenzierten Sichtweisen (vgl. I.2) auf den Themenkomplex Freundschaft im speziellen begünstigen.

II.1.3 Bewertung

Mit Hilfe eines solchen Unterrichtsprojektes ist die Lehrerin/ der Lehrer in der Lage, den SchülerInnen einige wichtige Komponenten reflektierter Koedukation nahezubringen und sie mit der Erfahrung zu konfrontieren, „dass Trennlinien nicht allein längs des Geschlechts verlaufen, sondern dass `Differenzen´ schlechthin den Menschen als Individuum auszeichnen“ (Barth, S. 23).

II.2 „Also ich kannte mal ´ne Familie - Ein literarisches Gespräch mit Mädchen

II.2.1 Lerngruppe

Die Lerngruppe, mit der die Autorin das literarische Gespräch führt, besteht aus sechs Mädchen einer siebten Hauptschulklasse. In der Klasse befinden sich elf Jungen und sieben Mädchen. Der Anteil ausländischer Jugendlicher beträgt 60%. Die SchülerInnen „kommen vorwiegend aus milieugeschädigten Elternhäusern“ (Reinbacher-Kaulen, S. 98). „Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bestimmen das Schülerbild“ (ebd.).

Der Unterrichtsablauf wird „von den lautstarken und undisziplinierten Beiträgen der Jungen beherrscht“ (ebd.), denen sich die Mädchen aus einem Gefühl der „Ohnmacht und Angst vor Demütigung“ (Reinbacher-Kaulen, S.99) von Beginn an unterworfen haben.

In dieser Klasse findet sich also in sehr extremer Form (vgl. ebd.) genau jenes intergeschlechtliche Kommunikations- und Interaktionsschema, wie es zahlreiche ForscherInnen auch für andere Klassen bestätigt haben (vgl. Nyssen, Gorgulla, Fuchs, Enders-Dragässer). So stellt Oomen-Welke im Zusammenhang mit der Unterrepräsentation von Mädchen im Unterrichtsgespräch fest: „Verschiedene ihrer pos itiv bewerteten Eigenschaften bewirken in der Unterrichtsinteraktion eher Nachteile“ (Oomen-Welke, 1994, S. 245).

Insofern kann der von Reinbacher-Kaulen getätigte Versuch als modellhaft für das Vorgehen im Sinne einer reflektierten Koedukation angesehen werden:

Sie beginnt ihre Arbeit mit der systematischen Aufarbeitung des extremen Mangels „an demokratischen Gesprächsformen“ (Reinbach-Kaulen, S. 98). Es werden Gesprächsregeln aufgestellt, schriftlich fixiert und in geschlechtergetrennten Kleingruppen eingeübt. In darauf folgenden Großgruppengesprächen zeigt sich jedoch erneut die „Dominanz der Jungen“ (ebd.), während die Mädchen wieder in ihre Rolle der „stummen Zuhörerin“ (ebd.) zurückfallen bzw. gedrängt werden. So wird für die Autorin die Notwendigkeit erkennbar, „Sprechanlässe nur für Mädchen zu schaffen und ihr geschwächtes Selbstbewußtsein zu stärken“ (Reinbacher-Kaulen, S. 99), indem sie in der Mädchengruppe ein literarisches Gespräch initiiert.

Die hier geschilderte Vorgehensweise weist mehrere Grundsätze reflektierter Koedukation auf. So macht sie im Zusammenhang mit den Gesprächsregeln, die zu einer demokratischeren Kommunikation zwischen Mädchen und Jungen führen sollen, Geschlechterbeziehungen allgemein zum Thema (vgl. I.2). Auch geschlechtstypisches Rollenverständnis und differente Sichtweisen werden in diesem Kontext aufgegriffen. Die Arbeitsform der geschlechtergetrennten Kleingruppen wird von der Autorin bewußt gewählt, um hierarchische Arbeitsteilung und Unterdrückung der Mädchen zu vermeiden (vgl. I.2) (vgl. Reinbacher-Kaulen, S. 99).

Sie setzt im Verlauf der Kleingruppenarbeit die Rückmeldung von Seiten der Schüler ein, um sich ein Bild von den Interaktionsschemata beider Gruppen und deren Veränderung zu machen. Besonderer Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der reflektierten Erprobung der Geschlechtertrennung (vgl. I.2) zu, die auch Barth als Möglichkeit positiver Einflußnahme auf die Interaktion zwischen Mädchen und Jungen bewertet:

Gleichwohl können in den koedukativen Unterricht seedukative Phasen eingeschaltet werden, wodurch sich die Chance bietet, auf Lehrer(innen)- wie auf Schüler(innen)seite für geschlechtsspezifische Einstellungs- und Verhaltensweisen zu sensibilisieren, diese zu überdenken und ihnen - zum Vorteil beider Geschlechter - entgegenzuwirken (Barth, S. 22).

II.2.2 Text und Textbezug der Gruppe

Der von der Gruppe zu bearbeitende Text ist „Das Miststück“ von Ursula Wölfel. Der Text schildert die Geschichte eines kleinen Jungen, dessen Vater die Familie verlassen und erneut geheiratet hat. Die Mutter wird mit der alleinigen Belastung nicht fertig und flüchtet sich in die Alkoholsucht. Im Verlauf der Geschichte werden die fatalen Auswirkungen dieser Situation für den Jungen und seine ganze Familie deutlich.

Die Mädchen, die diesen Text als Anregung zu einem literarischen Gespräch vorgelegt bekommen, sind mit der Problematik einer zerrissenen Familie und des Alkoholmissbrauchs vertraut. Sie leben alle, wie die Autorin weiß, „in äußerst schwierigen Familiensit uationen. Alkoholprobleme, alleinerziehende und überforderte Mütter, problematische Geschwisterkonstellationen, schlechte Wohnverhältnisse und finanzielle Sorgen prägen den Alltag und das Leben dieser Mädchen“ (Reinbacher-Kaulen, S. 99).

Sie können sich in die Situation des Jungen also gut hineinversetzen.

Insofern entspricht die von der Autorin getätigte Textauswahl einem wichtigen Kriterium reflektierter Koedukation, dem Anknüpfen an die Lebenswirklichkeit (vgl. I.2) sowie einer Forderung Oomen- Welkes, „sooft wir möglich Wissen der Kinder, das nicht in der Schultradition steht, in den Deutschunterricht einzubeziehen“ (Oomen-Welke, 1995, S. 331). Auch wenn es sich in diesem Falle um traurige Erfahrungswerte der Mädchen handelt, so macht es sie doch in die sem thematischen Zusammenhang in gewisser Weise zu Experten, die ihre Interpretation des Textes mit eigenen Erlebnissen begründen können. Hier werden Vorerfahrungen der Mädchen beachtet und gestützt. Darüber hinaus kann die stark personenbezogene Vermittlung eine zusätzliche Motivation bieten (vgl. I.2).

II.2.3 Bearbeitung

Sofort nach dem Lesevortrag der Lehrerin steigen die Schülerinnen engagiert in das Gespräch ein. Sie bewerten das Geschehen, fühlen sich erwartungsgemäß sehr stark in die Situation des Jungen ein und gelangen so relativ schnell auf die von der Lehrerin angestrebte zweite Ebene, in der sie persönliche Lebenserfahrungen schildern, die sie mit dieser Geschichte verbinden. Zunächst geschieht dies mittels Transformation eigener Erlebnisse auf andere Lebensumstände und mittels Anonymisierung der eigenen Familie, um einen gewissen Selbstschutz aufrecht zu erhalten. Im Verlaufe des Gesprächs wächst jedoch das Vertrauen der Mädchen, da jede sich persönlich einbringt und den anderen Einblick in ihre durchaus nicht positive private Lebenswelt gewährt.

Die Autorin betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit eines Rückbezugs dieser persönlichen Erfahrungsberichte auf den Text, was in diesem Fall zu für Hauptschulverhältnisse unglaublichen Ergebnissen führt: „Die Textbilder können mit der Lebenserfahrung ausgemalt und fortgesetzt werden. Selten gelingt dies im Schulalltag“ (Reinbacher-Kaulen, S. 104).

Der Gewinn, den die Schülerinnen aus einem solchen intensiven Gespräch ziehen können, ist neben einer psychischen Entlastung durch das Teilen ihrer Lebens- bzw. Leidensgeschichte die Erkenntnis, dass sie aus ihrer Erfahrung „Kompetenz“ (ebd.) für die Bearbeitung neuer, in diesem Fall literarischer Inhalte besitzen, die sie zur Lösung auch schwieriger Zusammenhänge befähigt. Sie können hieraus das nötige Selbstbewusstsein erhalten, um sich in Zukunft auch gegen jene - zumeist männlichen - Mitmenschen behaupten zu können, die ihnen aufgrund ihres Geschlechts von vornherein jegliche Kompetenz absprechen wollen. Insofern ist mit diesem Gespräch ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zur Öffnung gegenüber „sonst tabuisierten Themen“ (Reinbacher-Kaulen, S. 105) getan. Abschließend verweist die Autorin selbst auf den wichtigen Faktor der Lebensnähe im koedukativen Unterricht: „Wenn literarische Texte für HauptschülerInnen überhaupt intensive Gesprächsanlässe bieten, dann sind es wohl eher solche Texte, die direkt Themen des Lebensalltags dieser Gruppe ansprechen“ (ebd.).

II.2.4 Bewertung

Mit einem Unterrichtsprojekt wie diesem können unter Einsatz zahlreicher Ideen einer reflektierten Koedukation sicherlich Verbesserungen im Bereich der Kommunikations- und Interaktionsstruktur zwischen Mädchen und Jungen erreicht werden, wenn man den hier aufgezeigten Ansatz konsequent verfolgt. Von besonderer Bedeutung in einem schulischen Kontext wie diesem scheint mir die zeitweise Trennung der Geschlechtergruppen zu sein. Frille formuliert die Vorteile dieser Trennung so:

Die mit Geschlechterrollen verbundenen Zwänge kommen in getrennten Gruppen weniger zum Tragen, sodaß sie thematisiert und bearbeitet werden können. Vor allem Mädchen können so ein größeres Selbstbewußtsein entwickeln. Sie lernen dabei Ihre Stärken wie Fürsorglichkeit, Sensibilität Emotionalität für sich selber einzusetzen und zu entwickeln, statt sie ausschließlich für andere funktionalisieren zu lassen (Frille, zitiert nach Faulstich-Wieland, S. 164).

III Perspektiven

„Modellversuche und Projekte zur Mädchenförderung können [...] dahingehend interpretiert werden, daß sie den Widerspruch zwischen Hierarchie und Gleichheit der Geschlechter im Verhältnis der Geschlechter in der Schule zugunsten der Gleichheit auflösen wollen“ (Nyssen, S. 231).

Was in den geschilderten und zahlreichen anderen Versuchen bereits zu Erfolgen geführt hat, ist bisher in einem keinesfalls befriedigenden Maße in die Schulwirklichkeit eingedrungen, wo auch heute noch oftmals ein „blindes Interagieren“ (Fuchs, S. 91) stattfindet, „das undurchschaut allen beteiligten Personen geschlechtsstereotype und sexistische Verhaltensweisen als `natürlich´, wesens- und altersgemäß erscheinen läßt“ (ebd.).

Hier sind die Lehrkräfte gefordert, sich über den `heimlichen Lehrplan´, den sie selbst vertreten, klarzuwerden. Sie müssen sich bewusst sein, dass sie für die Schüler „sowohl Vorbilder wie Transporteure der kulturellen Bedeutung von Weiblichkeit und Männlichkeit“ (Faulstich-Wieland, S. 166) sind.

Wichtig ist, mit der Förderung am Bewußtsein der Mädchen und Jungen anzusetzen, um sie für bereits internalisierte Stereotype und Vorurteile zu sensibilisieren. Die oben diskutierten Grundsätze einer reflektierten Koedukation können hier eine wertvolle Orientierungshilfe sein.

Es muss in diesem Zusammenhang , so betont Faulstich-Wieland

Darum gehen, Phantasie zu entwickeln und Initiative zu entfalten, Schule so lebendig zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer in ihr eine breite Palette an Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen entfalten können. [...] Reflektierte Koedukation versucht, in verschiedenen Ansätzen positive Strategien zur Änderung der Geschlechterverhältnisses in der Schule zu entwickeln (Faulstich-Wieland, S. 168).

Wenn es gelingt, diese Initiativen und Strategien in den Schulalltag zu integrieren, ist tatsächlich ein bedeutender Schritt in Richtung auf „die Welt von Morgen und Übermorgen“ (Sünger, S. 21) getan.

Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Ansätze einer reflektierten Koedukation
Hochschule
Universität zu Köln
Note
3
Autor
Jahr
1999
Seiten
9
Katalognummer
V103000
ISBN (eBook)
9783640013807
Dateigröße
348 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ansätze, Koedukation
Arbeit zitieren
Sylvia Preis (Autor:in), 1999, Ansätze einer reflektierten Koedukation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103000

Kommentare

  • Gast am 3.4.2008

    Literaturverzeichnis.

    Leider ist es inzwischen eine Unsitte geworden, das Literaturverzeichnis einfach wegzurationalisieren. Wie soll Wissenschaft funktionieren, wenn die meiste Zeit dann mit der Suche nach den jeweiligen Quellen verplempert wird? Dann könnte man das Fahrrad gleich nochmal erfinden....

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Titel: Ansätze einer reflektierten Koedukation



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