Märchen in der Therapie - Wege aus Angst und Symbiose


Hausarbeit, 1999

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


0 Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Einsatz von Märchen innerhalb einer Psychotherapie, exemplarisch dargestellt anhand zweier Beispiele aus dem Themenbereich „Angst und Symbiose“ und deren Bewältigung. An diesen sollen Voraussetzungen, Verwirklichung sowie Ergebnisse der Einbindung von Märchen in den therapeutischen Prozess aufgezeigt und diskutiert werden. Zu Beginn sollen unter Punkt I zunächst die besonderen Merkmale der Textart „Märchen“ herausgearbeitet werden, welche diese Art von Geschichten von anderen in der Literatur so deutlich abhebt. Hierbei sind auch die spezifischen Ursachen dieser Differenzen von Bedeutung, die aus diesem Grunde kurz umrissen werden sollen.

In Punkt II werden diese Merkmale, die allen Märchen gemeinsam sind, in Beziehung zur Lehre C.G Jungs gesetzt, woran deutlich wird, inwiefern eine Psychotherapie im Sinne Jungs vom Einsatz eines auf die Probleme und Konflikte des jeweiligen Klienten zugeschnittenen Märchens profitieren könnte.

Punkt III umfasst die exempla rische Analyse und Interpretation zweier Märchen aus dem Bereich Angst- und Symbiosebewältigung, welche besonders im Hinblick auf Handlungssukzession und Symbolgehalt untersucht werden.

Im Anschluss wird aufgezeigt, wie die zuvor erarbeiteten Interpretationen innerhalb einer Therapie einsetzbar wären und inwiefern sie zu einer Verbesserung der Situation des Klienten beitragen könnten.

Unter Punkt IV sollen schließlich die Märchen sowie die damit in Beziehung stehenden Therapieansätze verglichen werden, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Angst- und Symbiosetendenzen aufzuzeigen und Erfahrungen von Therapeuten mit den entsprechenden Märchenarten innerhalb einer Therapie zu schildern.

Die Interpretation und Auswertung der Märchen stützt sich vor allem auf das Werk „Wege aus Angst und Symbiose“ von V. Kast (im Folgenden als Kast, WAS gekennzeichnet), welches interessante und fundierte Interpretationsansätze enthält und einen guten Ausgangspunkt für eine weitergehende Analyse bieten kann. Auch andere Werke von V. Kast waren für die Erarbeitung dieses Themas sehr hilfreich, da an diesen die Vorgehensweise von Frau Kast innerhalb ihrer Therapien anschaulich dargestellt wird.

I Besonderheiten der Textsorte Märchen

I.1 Darstellungsformen

Die Darstellung Verena Kasts „In der Jungschen Schule betrachten wir Märchen als symbolische Darstellungen von allgemeinmenschlichen Problemen und von möglichen Lösungen dieser Probleme“ (Kast, Wege aus..., S. 7) zeigt bereits einige bedeutende Merkmale von Märchen auf. Sie beschreiben nicht, wie die Sage, Begebenheiten, die als „völlig einmalig“ (Bettelheim, S. 46) dargestellt werden, die also „keinem anderen Menschen ...und in keinem anderen Rahmen“ (ebd.) hätten passieren können, sondern behandeln implizit Konfliktsituationen, wie sie im Leben jedes Menschen vorkommen. Es kann sich also jedermann davon angesprochen fühlen und dem Märchen einen Sinn abgewinnen.

Dies wird innerhalb der Märchen so leicht möglich, da die auftretenden Charaktere, selbst die Haupthandlungsfiguren, „obwohl sie menschliche Charakteristika aufweisen, ...nicht ganz menschlich“ (v. Franz, S. 12) sind, denn Einzelheiten über sie „werden nur erzählt, wenn sie sehr wichtig sind. Die Charaktere sind nicht einmalig sondern typisch“ (Bettelheim, S. 15). Darüber hinaus sind die auftretenden Märchengestalten „nicht ambivalent, also nicht gut und böse zugleich“ (ebd.). Protagonist und Antagonist sind leicht zu bestimmen und von Beginn an in ihrem Handeln auf diese Positionen festgelegt.

Ein weiteres bedeutsames Merkmal von Märchen ist ihre Bild- und Symbolhaftigkeit. Diese verleiht dem Märchen „diesen besonderen Zauber ...des Nichtwissens“ (Poser, S. 21) , indem es eine vielschichtige Deutung ermöglicht, denn „Bilder sind nie eindeutig“ (Kast, WAS, S. 9). Jeder Leser kann also das Märchen in Bezug auf seine konkrete Lebenssituation auffassen und deuten. Dies macht einen besonderen Reiz der Märchen aus, denn im Gegensatz zu vielen Gelegenheiten im Leben kann man ein Märchen „immer auch anders interpretieren eine `richtige´ Interpretation gibt es nicht“ (ebd.), so dass hier keine Experten- oder Kontrollinstanz eine einheitliche Deutung vorschreiben kann.

Ein anderes allen Märchen gemeinsames konstituierendes Element ist der finale Sieg des Guten und die Bestrafung des Bösen. Der allgemeinmenschliche Wunsch nach Gerechtigkeit ist hier angesprochen: Wer sich den gesellschaftlichen Regeln gemäß verhält, wird anerkannt und erhält am Ende die ihm zustehende Belohnung, wer aber gegen die Regeln des Miteinanderlebens verstößt, wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Diese Entwicklung ist typisch und findet sich beispielsweise in „Frau Holle“, darüber hinaus auch in zahlreichen anderen Märchen.

Dem Wunsch nach einer höheren Gerechtigkeit und anderen ordnenden Instanzen liegen die tiefen existentiellen Bedürfnisse und Ängste des Menschen zugrunde (vgl. Bettelheim, S. 17f), wie „das Bedürfnis, geliebt zu werden, und die Furcht, als nutzlos zu gelten; die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Tode“ (ebd.).

Das Märchen offenbart ein solches „existentielles Dilemma kurz und pointiert“ (Bettelheim, S. 15). Zumeist setzt die Erzählung zu dem Zeitpunkt ein, in dem für die Hauptfigur eine Situation entsteht, mit der sie nicht weiterleben kann, der „Fortgang des Lebens wird bedroht“ (Kast, Wege aus..., S. 7), so dass ein Ausweg gefunden werden muss, um das weitere Existieren zu sichern. Der Märchenheld muss also eine Entwicklung durchmachen, die ihn zu neuen Erkenntnissen führt. Dies ist zumeist mit dem Zurücklegen einer langen Reise oder Wanderung verbunden, auf der dem Helden Figuren begegnen, die ihn auf seinem Lebensweg weiterbringen, sei es durch einen weisen Rat oder durch einen Angriff, dessen der Held sich erwehren muss, um weiterzukommen. „Prüfung und Bewährung, Befreiung und Erlösung gehören ebenso zum immer wiederkehrenden Themenkatalog des Märchens wie die Spannung zwischen Schein und Sein“ (Poser, S. 21). Am Ende seiner Reise hat der die Erfahrungen gemacht, die für seine adäquate Entwicklung nötig waren und kann in der so entstandenen Situation bestehen und sein Leben fortsetzen. Das Märchen bietet also eine Orientierungshilfe für den Leser insofern, als es „zeigt, welcher Entwicklungsweg aus [einem] .. Problem heraus- und in eine neue Lebenssituation hine inführt“ (Kast, Wege aus..., S. 8).

Betz bezeichnet Märchen zusammenfassend als „eine Sammlung poetisch gestalteter Menschheitserfahrungen..., die immer noch zu faszinieren vermag, weil dort allen Menschen gemeinsame Erfahrungen mittels Bild und Symbol zum Ausdruck gebracht werden“ (Betz, S. 10). Letztendlich liegt die Faszination, die Märchen auf die Menschen ausüben, auch in den vielfältigen Möglichkeiten begründet, die sie dem Leser bieten. Neben den bereits genannten offenen Interpretationsmöglichkeiten kann man auch den persönlichen Stellenwert, den man ihnen in seinem Leben einräumt, frei wählen. Möchte man sich mit ihrer inneren Bedeutung nicht näher befassen, können sie ebenso zur reinen Unterhaltung dienen.

„Das Märchen gibt Anregung dazu, wie psychische Prozesse weitergeführt werden könnten, ohne direkt zu fordern, daß diese Anregungen auch verwirklicht werden müssen Es ermöglicht Selbsterkenntnis und gibt Anregung zur Veränderung einer Lebenssituation“ (Kast, Märchen als Therapie, S. 103)

Im Gegensatz zu anderen Arten von Geschichten, die beispielsweise belehren oder moralisieren wollen, wie Fabeln oder Mythen, überlässt „uns ...das Märchen...alle Entscheidungen, auch die Entscheidung, ob wir überhaupt einen Schluß daraus ziehen wollen“ (Bettelheim, S. 53).

I.2 Entstehung

Viele der besonderen Merkmale von Märchen liegen in ihrer Entstehung und Tradierung begrünet. So wird der typische, vollkommen antiindividuelle Charakter der Figuren von Literaturforschern mit der Art ihrer Verbreitung erklärt. Die meisten Märchen wurden lange Zeit nur mündlich weitergegeben, wobei jeder Erzähler die jeweilige Geschichte ein wenig veränderte, indem er ihm unwichtig erscheinende Details wegließ und im Gegenzug eventuell neue, spannendere oder zur jeweiligen Gelegenheit passende, interessante Elemente hinzudichtete (vgl. Bettelheim, S. 34). Durch diese ständigen willkürlichen Veränderungsprozesse blieben letztendlich nur die zentralen Elemente der jeweiligen Geschichte und ihrer Charaktere erhalten. „Alles, was individuell oder lokal war, ist hier zu einem großen Ausmaß herausgewaschen, da es nicht von allgemeinem Interesse ist“ (v. Franz, S. 15). Aufgrund dieser Prozesse nahmen die Märchen „allmählich einen offenen und einen versteckten Sinn an“ (Bettelheim, S. 11):

Zum einen den der Unterhaltung und Erheiterung, als Erzählung für Kinder, die Phantasie und bildhaftes Denken fördert, zum anderen den, eine Reflexion über „die inneren Probleme des Menschen...und über die richtige Lösung für seine Schwierigkeiten in jeder Gesellschaft“ (ebd.) zu ermöglichen.

Die starke Bild- und Symbolhaftigkeit der Märchen führt Maier auf die unserer heutigen eher rationalistisch orientierten Ausdrucksweise diametral gegenübergesetzten Art der Erzählung zurück, die in früheren, also im Fall der Grimmschen Märchen vorromantischen Zeiten üblich war. Er bezeichnet Märchen als „Dokumente einer Bewußtseinsphase, in der die Menschen noch keine Not damit hatten, ihr Bildpotential ins Tagesbewußtsein zu heben, in der ihnen noch selbstverständlich war, sich in Bildern auszusagen und zu verständigen“ (Maier, S. 9f).

Die besondere Bedeutung der Märcheninhalte für die Menschen aller Zeiten wird an ihrer jahrhundertlangen mündlichen Tradierung und der letztendlichen schriftlichen Aufzeichnung durch Sagen- und Märchenforscher wie beispielsweise Jakob und Wilhelm Grimm deutlich: „Die Menschen wollten die Weisheit vergangener Zeiten sich selbst ins Gedächtnis rufen und künftigen Generationen weitergeben“ (Bettelheim, S. 34).

II Märchen in der Therapie

Im Verlaufe einer Psychotherapie muss es dem Therapeuten immer wieder gelingen, Sprechanlässe für den Patienten zu schaffen, da eine gelungene Kommunikation und Interaktion zwischen beiden Parteien die beste Voraussetzung für einen Therapie erfolg darstellen.

Für den Patienten ist es wichtig, seine Lebenssituation sowie die bestehenden Konfliktmomente zu verbalisieren, um sie mit dem Therapeuten gemeinsam bearbeiten und letztendlich durch gelenkte Reflexion zu einer situationsadäquaten Denkens- und Handlungsweise gelangen zu können. Hier kann der Einsatz von Märchen wertvolle Dienste leisten, da die Besonderheiten dieser Geschichten spezifischen Ängsten von Therapiepatienten entgegenwirken und zu einer Verbesserung ihrer Lebenseinstellung beitragen können.

„In der Identifikation mit einem Märchenhelden oder einer Märchenheldin kann man den Mut finden, sich mit einer eigenen Problematik auseinanderzusetzen“ (Kast, Märchen als Therapie, S. 185). So kann der Patient über einen Märchenhelden, welc her vor derselben Problematik steht wie er, Aussagen treffen, Vermutungen über die Ursprünge seines Handelns anstellen oder Lösungsvorschläge unterbreiten, die seiner eigenen Person nicht zugestehen würde oder die für ihn selbst emotional noch zu bedrohlic h erscheinen. „Die Arbeit mit dem Märchen - und das tut Arbeit mit dem Märchen eigentlich immer - bewirkt .., daß er sich mit seinem Problem auseinandersetzen [kann].., daß er sich aber gleichzeitig auch so weit von ihm distanzieren [kann]..., daß es ihn nicht lähmt“ (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 237).

Auf diese Weise ist es ihm möglich, sich der eigenen Problematik Schritt für Schritt und stets nur soweit zu nähern, wie es für seine Psyche tragbar ist.

In diesem Zusammenhang sind die im Märchen so vielfach anzutreffenden Bilder und Symbole von besonderer Bedeutung, denn „im Kontakt mit den Bildern des Märchens wird etwas Tragendes erlebt, die persönliche Geschichte, das persönliche Leiden werden in einem größeren Zusammenhang gesehen, werden gespiegelt in einer Erfahrung, die Menschen schon immer machen mußten“ (Kast, Märchen als Therapie, S. 206).

Die Märchenbilder sprechen darüber hinaus Aspekte des Unbewussten an, die, aller geistigen Kontrolle des Menschen entzogen, trotzdem dessen Erleben und Handeln beeinflussen und ebenfalls Veränderungsprozesse durchmachen müssen, soll die Therapie letztendlich erfolgreich sein. Insofern ist es wichtig, dass der Therapeut zum richtigen Zeitpunkt (vgl. Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 231) ein entsprechendes Märchen einsetzt, um das Unbewusste zu erreichen und eventuelle Fehlhaltungen oder -einstellungen zum Leben, die sich aufgrund früherer Erfahrungen dort festgesetzt haben können, zu korrigieren. Denn „gerade die Belebung der Urbilder [hat] eine Auswirkung ...auf die seelischen Grundkräfte Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren Durch die Bilder werden alle diese Fähigkeiten auf einmal angesprochen. Es ist einer Wurzel vergleichbar, die noch alles zusammenfaßt, was sich dann nach obenhin entfaltet“ (Betz, S. 11).

Ein Versuch der tiefgreifenden Bewusstseins- und Wahrnehmungsveränderung eines Patienten, der innerhalb einer Therapie stets angestrebt werden muss, soll sie eine tatsächliche Verbesserung der Lebensqualität des Patienten bewirken, muss also an diesem Punkt ansetzen. „Dabei ist gerade die bildhafte und aktualitätsfremde Darstellung des Märchens ein Hilfsangebot besonders wertvoller Art, weil sie Wege offen läßt für das Finden von eigenen und der individuellen Situation angepaßten Lösungsmöglichkeiten“ (Maier, S. 5).

Auf dem Weg zu einer auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnittenen Lösung ist eine zeitweilige Identifikation mit dem Märchenhelden von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Diese Identifikation mit dem „Helden..., der durch sein Verhalten eine Problemsituation aushält und den Weg beschreitet, der nötig ist, um das Problem zu lösen“ (Kast, WAS, S. 8) hilft dem Patienten einerseits, indem sie seinem Gefühl der Isolation entgegenwirkt, andererseits, indem sie durch die Geschichte und den erfolgreichen Kampf des Helden gegen die widrigen Umstände, die ihn bedrohen, dem Patienten Hoffnung gibt. „Das Märchen hat zudem den Vorteil, daß in ihm aufgezeigt wird, in welcher Haltung eine entsprechende Problematik ... angegangen werden kann (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 231), ohne ein solches Handeln aufzudrängen.

Der letzte und entscheidende Aspekt der Märchenanalyse und -bearbeitung innerhalb einer Therapie liegt in der Selbstreflexion des Analysanden. Hat er anhand der Märchensymbole, Identifikation mit dem Helden und Bearbeitung der Handlung seine eigene Problematik erkannt und gelernt zu akzeptieren, kann er im letzten Schritt über das Märchen zur Reflexion über sich selbst und seine konkrete Lebenssituation gelangen. Diese für den Analysanden zumeist äußerst befriedigende Erfahrung (vgl. Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 236ff) durch die Arbeit am Märchen wird von Bettelheim sehr treffend beschrieben:

„Für die, welche sich in das vertiefen, was das Märchen uns mitzuteilen hat, wird es zu einem tiefen, ruhigen See, in dem sich zunächst nur unser eigenes Bild spiegelt. Aber dann entdecken wir hinter diesem äußeren Bild die inneren Verwirrungen unserer Seele - ihre Tiefe und Möglichkeiten, unseren Frieden mit uns selbst und der Welt zu machen, was der Lohn unserer Mühe ist“ (Bettelheim, S. 364).

III Analyse und Interpretation

III.1 Voraussetzungen

Für die Märchenanalyse und -interpretation kann man auf zweierlei bewährte Deutungsweisen zurückgreifen. Die dem Helden begegnenden Personen oder Tiere können subjektstufig oder objektstufig gedeutet werden. „Subjektstufige Deutungsform meint: Jede Figur, die auftritt, kann auch als Persönlichkeitszug des Träumers, hier im Märchen als Persönlichkeitszug der Heldenfigur, aufgefaßt werden“ (Kast, Wege aus Angst und Symbiose, S. 8). Eine objektstufige Deutung fasst die auftretenden Figuren als Verkörperung der Menschen aus der näheren Umgebung der Hauptfigur auf, die in seinem Leben und für seine Entwicklung herausragende Rollen spielten oder noch spielen.

Für die Interpretation eines Märchens sind vor allem die „Entwicklungsverläufe, die Wege, die zurückgelegt werden ..., die Situationen, in denen der Held sich aufhält oder aufgehalten wird“ (ebd.) sowie die auftretenden „Symbole“ (ebd.) von Bedeutung.

Das Wort „Symbol“ bedeutet „Sinnbild; Zeichen“ (Drosdowski, S. 730) und entstammt dem griechischen „symbállein“, das „zusammenwerfen, zusammenfügen“ (ebd.) bedeutet. Dieser etymologische Ursprung ist hier bedeutsam, da aus den Symbolen des Märchens gerade seine tiefere Ausdeutbarkeit und Wirkung resultiert. Das Symbol wird insofern als „ein sichtbares Zeichen einer ...unsichtbaren ideellen Wirklichkeit“ (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 19) interpretiert. Erst die geistige Zusammenfügung des Symbolwortes mit den eigenen, aus dem Unbewussten geschöpften Konnotationen erschließt dem Analysanden die Möglichkeit zur Erkenntnis seiner eigenen komplexen Emotions- und Verhaltensmuster.

„Im Symbol verdichten sich Erfahrungen, psychische Inhalte, vor alle m auch Emotionen, die anders nicht darzustellen sind“ (Kast, Märchen als Therapie, S. 10).

Aus diesem Grunde ist eine adäquate Ausdeutung des symbolischen Märchengehalts besonders wichtig. Kast erklärt diesen Vorgang folgendermaßen: „Wenn wir deuten, suchen wir jeweils die unsichtbare Wirklichkeit hinter [dem] ...Sichtbaren und ihrer Verknüpfung“ (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 20).

Zur Erhellung der Bedeutung von Symbolen kann man die Methode der „Amplifikation“ (ebd.) anwenden, d.h. man versucht, zu einem Motiv Parallelen zu finden, also intra- und intertextuelle Verweise auszumachen, die ein solches Symbol tätigt (vgl. Kast, Wege aus Angst und Symbiose, S. 8f).

Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Symbolausdeutungen, wie sie im Rahmen der Jungschen Schule zur Traumdeutung gemacht wurden. Zwar müssen zwischen dem Geschehen im Traum und im Märchen, was die Handlungsabläufe und deren Bedeutung für den Märchenhelden bzw. den Träumer betrifft, Unterscheidungen gemacht werden, dennoch lässt sich feststellen, dass „die Ähnlichkeit von Traum- und Märchenmotiven ...evident“ (Kast, Märchen als Therapie, S. 130) ist.

„Die tiefenpsychologischen Märchenforscher ...sehen im Märchen ähnlich wie im Traum...Ausdrucksformen des Unbewußten“ (Poser, S. 57). Aus diesem Grunde sollen die folgenden Märcheninterpretationen neben den rein auf Märchen bezogenen Deutungen an geeigneter Stelle auch Deutungen von Traumsymbolen einbeziehen, um hintergründige Vorgänge im Märchen zu erhellen, wo zu Märchensymbolen keine explizite Interpretation gefunden werden konnte.

Als Beispiele für die Analyse- und Interpretationsverfahren, wie sie auch innerhalb einer Therapie verwendet werden, sollen hier zwei Märchen aufgeführt werden, die mit ca. 150 anderen Märchen zwischen 1812 und 1815 von Jakob und Wilhelm Grimm aufgezeichnet und unter dem Titel „Kinder- und Hausmärchen“ zusammengefasst und veröffentlicht wurden.

Der Band wird heute als „maßgebende Sammlung von deutschen Volksmärchen“ (Frenzel, S. 328) bezeichnet. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang einige Hinweise zur Bearbeitung der Märchen durch die Gebrüder Grimm.

So bemühten sie sich vor allem um die „Wiedergabe des kunstlosen Tons der volkstümlichen Märchenerzähler“ (ebd.) sowie eine „psychologische Vertiefung“ (ebd.).

III.2 Angstmärchen : „Die Nixe im Teich“

Angst in ihren verschiedenen Ausprägungen wird im Rahmen eines Märchens nur sehr selten thematisiert. Wendet man sich jedoch den Symbolen und Hergängen innerhalb der Handlung zu, entdeckt man schnell, dass in den meisten Märchen diese Angst zumindest latent vorhanden ist (vgl. Kast, WAS, S. 13).

Dieses im Märchen thematisierte Problem ist auch in der heutigen Gesellschaft weit verbreitet (vgl. Täeni, S. 8ff). Insofern können zahlreiche Märchen in entsprechenden Therapien zum Einsatz kommen, da sich jedes von ihnen vornehmlich mit einem speziellen Aspekt von Angst befasst. Exemplarisch für ein solches innertherapeutisches Vorgehen soll hier das Märchen „Die Nixe im Teich“ analysiert werden, welches von der Angst vor einem übermächtigen, den Menschen verschlingenden Gefühl handelt.

III.2.1 Handlung und Symbole

Zu Beginn des Märchens wird die Situation eines Müllers geschildert, der früher im Wohlstand lebte, jedoch von Jahr zu Jahr mehr von seinem Reichtum verlor und nun verzweifelt und in Armut lebt.

Der Müller ernährt sich und seine Familie durch das Arbeiten der Mühle, deren Mühlrad vom fließenden Wasser angetrieben wird. Das Hauptmotiv des Märchens, das Wasser, findet also gleich zu Beginn Erwähnung. Wasser wird in der Traumdeutung als „das Symbol des Unbewußten“ betrachtet, das „Lebensspender und Lebenserhalter“ (Fink, S. 370) für den Menschen ist. Es wird auch darauf hingewiesen, dass strömendes Wasser stets eine positive Bedeutung hat. Dies gilt hier auch für den Müller: Solange der Fluss strömt, kann er sich und seine Frau ernähren, sie besitzen „Geld und Gut“ (WAS, S. 81) und ihr Wohlstand wächst. Die Einträglichkeit der Mühle steht hier für das emotionale Verhältnis des Müllers zu seiner Frau. Zunächst ist der Strom des Unbewussten von ihm zu ihr noch intakt, das Verhältnis ist in Ordnung und für beide ertragreich, sie führen „ein vergnügtes Leben“ (ebd.). Jedoch verändert sich dieser Zustand, „Jahr für Jahr“ (ebd.) schwinden die Kräfte des Beziehungsflusses. Kast verweist an dieser Stelle auf die Kinderlosigkeit des Paares, die mit dem „ausgetrockneten Bewußtseinsleben“ (Kast, WAS, S. 86) des Müllers einhergeht. Dieser hat den Bezug zu seiner Frau verloren, was sich bereits darin äußert, dass ihm ihre Schwangerschaft nicht bewusst ist (vgl. WAS, S. 81), als er der Nixe, in deren Bann er gerät, das als Belohnung für ihre Hilfe verspricht, „was eben in [seinem] ... Haus jung geworden ist“ (WAS, S. 81).

Zwischen dem Müller uns seiner Frau scheint „die Beziehung zu den Emotionen, zum Eros abhanden gekommen“ (Kast, WAS, S. 86) zu sein, was der Nixe die Möglichkeit gibt, ihn in ihren Bann zu ziehen. Denn Nixen verkörpern, was ihm in seinem Leben derzeit fehlt, sie gelten „als ausgesprochen leidenschaftlich und bringen es immer fertig, daß ein Mann seinen Kopf verliert, daß er ganz seinen Leidenschaften, Emotionen, Phantasien hingegeben ist“ (Kast, WAS, S. 87). Insofern bringt die Nixe dem Müller eine Erfahrung wieder nah, die er vergessen zu haben schien, eine Erfahrung, die ihn wieder „reicher“ (WAS, S. 81) werden lässt. Doch wird an ihrer Forderung bereits deutlich, dass mit der Wunscherfüllung das dem Müller innewohnende Problem nicht etwa gelöst, sondern lediglich auf seinen Sohn verlagert worden ist. Nun steht der Sohn unter dem ständigen Einfluss der Nixe, denn er wurde ihr ja vom Vater versprochen (ebd.). So muss letztendlich der Sohn das Problem lösen, das „seine Eltern nicht gelöst haben, er wird, im Zusammenhang mit der Liebe, von wilden Emotionen erfaßt werden, die ihn weit wegtragen von allem Menschlichen“ (Kast, WAS, S. 89f).

Um ihn vor diesem „Überwältigtwerden vom Unbewußten“ (WAS, S. 87), welches das insWasser-gezogen-werden ja bedeuten würde, zu bewahren, wendet der Müller zahlreiche Gegenmaßnahmen an.

Um seine Angst zu beschwichtigen, teilt er sie mit allen Verwandten und Bekannten, die zur Geburt des Sohnes erscheinen. Diese wissen ihm jedoch auch keinen Rat zu geben (vgl. WAS, S. 82).

Der Knabe selbst wird stets gewarnt, sich von dem gefährlichen Teich fernzuhalten. Man versucht also, ihn der Gefahr durch die Nixe gar nicht erst auszusetzen. Der Müller weiß genau um die Art der Bedrohung und um die Aussichtslosigkeit des Widerstandes (ebd.).

Um den Sohn vor diesem gefährlichen Bereich seines eigenen Unbewussten zu schützen, wird eine „Schulung der anderen Bereiche des Unbewußten“ (Kast, WAS, S. 90) angestrebt, damit er sich der zu erwartenden Probleme im Umgang damit leichter stellen kann und vorbereitet ist.

Dieser Plan scheint zunächst erfolgreich zu sein: Der Knabe wächst auf, ohne je von der Nixe zu sehen oder hören. Er wird ein erfolgreicher Jäger und kann sogar in bescheidenem Maße eine Beziehung zum Weiblichen aufnehmen, was an dem kleinen gemeinsamen Haus mit seiner Frau deutlich wird.

Dennoch beginnt sich gerade an diesem Punkt die Bedrohung durch die Nixe zu manifestieren. Darauf weist zunächst die Tatsache hin, dass er nun beginnt, eine emotionale Beziehung zum Weiblichen zu entwickeln, was Voraussetzung für die von der Nixe vertretene Problematik ist (vgl. Kast, WAS, S. 91). Darüber hinaus wird dies am Symbol der „Jagd“ nach dem Reh deutlich: „man glaubt zu jagen und wird selbst gejagt“ (Fink, S. 176).

Während der Jäger dem Reh folgt, begibt er sich ahnungslos in den Machtbereich der Nixe. Eine solche Entwicklung ist märchentypisch, locken doch „Hirsche und Rehe in den Märchen die Helden immer in eine jenseitige Sphäre“, wo sich „Wandlung“ (Kast, WAS, S. 91) abspielt. So führt ihn hier das Bedürfnis, seine blutigen Hände zu waschen, an den Teich der Nixe. Das Symbol der „Hände“ wird oft als männlich-weibliche Beziehung interpretiert (vgl. Fink, S. 247), während „Blut“ für „blutvolle Leidenschaft“ (Fink, S. 199) steht. Man kann also vermuten, dass die Sehnsucht nach der le idenschaftlichen Verbindung zwischen Mann und Frau den Jäger in die Arme der Nixe treibt, weil diese in der Beziehung zu seiner Frau in gewissem Maße entbehren muss. Hier wird wieder die Paarproblematik seiner Eltern deutlich, mit der er sich nun als Schuldner (vgl. WAS, S. 81) auseinander zu setzen hat.

Der Teich ist hier zu verstehen als „Sinnbild der noch-nicht-geformten, gestaltsuchenden Kräfte“ (Betz, S. 37), welche sich in der Nixe offenbaren.

Wie von seinem Vater prophezeit, gerät der Sohn sofort in die Fänge der Nixe, welche ihn unter Wasser, in eine „Regression ins Unbewußte“ (Kast, WAS, S. 88) zieht.

Er ist damit für seine Frau, die am Abend sein Ausbleiben sogleich richtig interpretiert und an den Teich eilt, zunächst „verloren“ (Kast, WAS, S. 92), da er selbst nicht in der Lage ist , sich aus seiner „Nixenfaszination“ (Kast, WAS, S. 100) zu lösen.

Nachdem die Frau versucht hat, durch Einkreisen des Problems (vgl. Kast, WAS, S. 93) zu einer Lösung zu gelangen, schläft sie schließlich ein. Im Traum wird ihr die Lösung ihres Problems aufgezeigt: Sie muss den Berg hinaufsteigen zu der alten weisen Frau, um von ihr einen Rat zu erhalten.

In der sofortigen Umsetzung, während der die Jägerfrau alles so vorfindet, wie im Traum vorhergesehen, wird deutlich, dass im Märchen zwischen Traum und Wachleben keine Unterscheidung gemacht wird (ebd.). Träume im Märchen gehören beinahe ausnahmslos zur Kategorie der „Wahrträume“ (Kurth, S. 25), in denen die „träumende Person ... von Dingen oder Zuständen [erfährt], die ... später Wirklichkeit werden“ (ebd.).

Die Frau muss den bereits im Traum gesehenen Berg hinaufklettern, um zu der weisen Alten zu gelangen. Das Symbol des Berges „deutet auf Probleme hin, die vor uns aufragen“ (Fink, S. 195), im Falle der Frau also der verlorene emotionale Kontakt zu ihrem Mann. Es wird in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass ein erfolgreich erklommener Berg auf einen Erfolg im Leben hindeutet, der spätere Abstieg auf das Ende eines Lebensabschnittes, hier kann er demzufolge als eine Vorausdeutung auf den Erfolg der Frau in der Zurückgewinnung ihres Mannes gesehen werden.

Die weise Frau auf dem Berg bietet der Jägerfrau „ein Gefühl von Hilfe“ (Kast, WAS, S. 93), indem sie ihr den goldenen Kamm zur Bekämpfung des Nixeneinflusses auf den Mann reicht und erklärt, wie sie vorgehen muss. Die Alte kann als „gütiger Mutteraspekt“ (ebd.) interpretiert werden, der zum verderblichen Einfluss der negativ-weiblichen Nixe diametral gegenübergesetzt ist und dessen Erscheinen hier bereits andeutet, „daß nach einer Phase der Behinderungen ... ein befreites Lebensgefühl sich einstellen wird“ (ebd.).

Nach dieser Begegnung macht sich die Jägerfrau dann auch getröstet (WAS, S. 83) auf den Weg zurück.

Um ihr Vorhaben realisieren zu können, muss sie allerdings auf das Erscheinen des Vollmondes warten. Der „Mond“ (Kurth, S. 217) ist immer „Anzeichen für einen Wechsel oder eine Veränderung“ (ebd.), in diesem Falle für das sich langsam wandelnde Verhältnis zwischen Frau und Mann, welches beginnt, ihn der Herrschaft der Nixe zu entreißen.

Sie muss aber warten, bis der Mond als volle „Scheibe am Himmel“ (WAS, S. 83) erscheint, denn dann hat das „ursprünglich Weibliche, ... das Kraft verspricht“ (Fink, S. 291) die meiste Macht, um sich der Nixe entgegenzusetzen.

Die Frau setzt sich dann ans Ufer des Teiches und kämmt „ihre langen schwarzen Haare mit dem goldenen Kamm“ (WAS, S. 83). Sie verwendet damit ein typisches Mittel, mit dem die Nixen ihre Opfer anlocken (vgl. Kast, WAS, S. 97). In der Traumdeutung hat das „Kämmen“ (Fink, S. 261)

die Bedeutung, das Haar in Ordnung zu bringen, also „übertragen: Man schafft Ordnung in seinem Triebleben und gewinnt dadurch das Herz des Partners“ (ebd.).

Die Frau soll hier die ihr selbst innewohnenden nixenhaften Züge kultivieren, um ihren Mann der Nixenfaszination zu entziehen (vgl. Kast, WAS, S. 100).

Dass die Frau hier mit einer Verhaltens- und Einstellungsänderung auf das Gefühlsleben ihres Mannes und auf ihr Paarverhältnis einwirken kann, erklärt sich, „wenn wir das Märchen als Problem und Problemlösung eines Paares auffassen, bei der beide den gleichen Grundkonflikt haben, hier den Grundkonflikt dieses Bedrohtseins durch die Nixe“ (Kast, WAS, S. 94).

In diesem Falle kann derjenige eine Gegenentwicklung einleiten, der von dieser Bedrohung weniger stark beeinflusst wird und somit den Partner zu einer Entwicklung in die richtige Richtung anleiten.

Dies geschieht auch hier: Der Kopf des Mannes taucht aus dem Wasser auf (WAS, S. 83), er beginnt sich also aus der Welt des Unbewussten wieder herauszuentwickeln, zu einer bewussten Wahrnehmung des Problems hin, welche eine Lösung bereits impliziert.

Jedoch wird sein Kopf sogleich von einer Welle wieder in den See gezogen. Noch kann er also die Nixenfaszination nicht ablegen. Die Frau muss erneut aktiv werden und sich noch einmal die Hilfe der weisen Alten, der „archetypischen Mutter“ (Kast, WAS, S. 95) holen.

Diese reicht ihr eine goldene Flöte, mit der sie, abermals bei Vollmond, am Ufer des Sees spielen soll. Auch die Flöte gilt als Verführungsattribut der Nixen (ebd.). Die Frau muss also dieser neuentdeckte Seite explizit Ausdruck verleihen, um das Verhältnis zu ihrem Mann zu reaktivieren. Dieses Mal erscheint der Mann bis zur Hüfte, streckt sogar die Arme nach seiner Frau aus, kann sie jedoch nicht erreichen und muss erneut im See versinken (vgl. WAS, S. 84).

Die Macht der Nixe über den Mann wird zwar zusehends schwächer, ist aber noch immer wirksam, so dass er sich ihrer noch nicht entziehen kann.

Die Frau muss ein drittes Mal die Hilfe der Alten in Anspruch nehmen, um ihren Mann endgültig dem Unbewussten zu entreißen. Sie kehrt mit einem goldenen Spinnrad ans Ufer des Teiches zurück. Dort setzt sie sich nieder und spinnt, „bis der Flachs zu Ende und die Spule ganz mit dem Faden angefüllt“ (WAS, S. 84) ist. „Spinnen“ kann in diesem Zusammenhang in zweierlei Bedeutungen betrachtet werden. So steht es einerseits für den Vorgang des Ordnens chaotischer Verhältnisse (vgl. Kast, WAS, S. 97), wie sie die emotionale Situation zwischen dem Ehepaar wohl darstellen, andererseits kann es auch als Reflexion über die Paarbeziehung gesehen werden, in deren Verlauf eine positive Projektion auf den Mann stattfindet. Beide Erklärungen scheinen plausibel und können als abschließenden Grund für das darauffolgende Erscheinen des Mannes an der Wasseroberfläche gesehen werden. Er springt daraufhin an Land und flieht gemeinsam mit seiner Frau vor der Bedrohung durch den immer noch vorhandenen Einfluss der Nixe.

In diesem Stadium der Beziehung ist für das Paar die Gefahr, in eine wiederum verfehlte Form von Beziehung zu verfallen, besonders groß:

„Mit entsetzlichem Brausen“ (WAS, S. 84) und „reißender Gewalt“ (ebd.) überflutet der Teich das Landstück, auf dem die Eheleute soeben fliehen wollen.

Die „Überschwemmung“ (Kurth, S. 294) weist darauf hin, dass „gewisse Triebe ... maßlos und unter Umständen gefährlich“ (ebd.) werden, und deutet hier, im Zusammenhang mit der Verwandlung der Eheleute in einen Frosch und eine Kröte, auf die nunmehr „rein sexuelle Begegnung“ (Kast, WAS, S. 98) zwischen ihnen, in der alles geistige verlorengegangen ist und „Individualität ... überhaupt keine Rolle mehr“ (ebd.) spielt.

Jedoch wird mit dem Symbol von Frosch und Kröte das positive Ende bereits angekündigt, denn beide sind „Tiere des Übergangs“ (ebd.) und somit „Symbol für Wandlung“ (ebd.).

Zunächst jedoch nehmen beide wieder menschliche Gestalt an, haben sich jedoch aus den Augen verloren. Dies deutet einen besonderen Grad der Entfremdung innerhalb der Paarbezie hung an, die entstanden ist, „dadurch, daß sie sich nur als Gattungswesen...liebten und die Sehnsucht nach dem Menschlichen und auch nach dem geistigen Aspekt der Liebe unbeantwortet blieb“ (ebd.). Aus dieser Problematik resultiert die Notwendigkeit der individuellen und getrennten Entwicklung beider Partner, beide müssen für sich „Trauer und Sehnsucht ertragen“ (ebd.) und während des Schafhütens nunmehr den Emotionsbereich kultivieren, „der der Nixenwelt polar gegenübergesetzt..“ (ebd.) ist: „Die Sehnsucht in der Stille, die Bezogenheit auf sich selbst, die Besinnung“ (ebd.). Nur so können sie wieder zu einer tragenden Paarbeziehung gelangen. Die Wiederentdeckung dieser Beziehung wird durch die Bezeichnung der Jahreszeit bereits angedeutet. Im Frühling entsteht Neues (vgl. Kast, WAS, S. 99) und so begegnen sich Mann und Frau mit ihren Schafherden und ziehen gemeinsam weiter, ohne einander zu erkennen. Erst bei Vollmond, als sich der positiv-weibliche Komplex erneut in seiner vollen Macht konstelliert, wird es dem Mann möglich, seine Gefühle zu offenbaren. Das Flötenspiel weckt bei beiden die Erinnerung an den Partner und die frühere Beziehung. Nun erkennen sie einander wieder und können eine neue, „ganzheitliche“ (ebd.) Art von Beziehung beginnen. Durch die Kultivierung ihrer eigenen „Nixenseiten“ (Kast, WAS, S. 100) kann die Frau ihren Mann letztendlich der „Nixenfaszination“ (ebd.) entreißen und mit ihm zu einer ganzheitlichen Beziehung von neuer Qualität gelangen.

III.2.2 Einsatz in der Therapie

Die Interpretation eines Märchens innerhalb einer Therapie befasst sich insbesondere mit „intrapersonalen Problemen, Schwierigkeiten und Fehlhaltungen des Individuums“ (Maier, S. 4).

Im Falle des Märchens „Die Nixe im Teich“ könnte eine konkrete Therapiesituation so aussehen, dass der Mann sich im bewussten Leben vor nixenhaften Frauen fürchtet und aus diesem Grunde eine Lebensgefährtin gewählt hat, die keine nixenhaften Züge zu haben scheint. Sieht der Mann jedoch eine Nixe im Traum, fühlt er sich von dieser angezogen und ist im Anschluss einige Tage „für seine Freundin nicht mehr ansprechbar“ (Kast, WAS, S. 93). Er ist wie der Jäger im Märchen der realen Welt entzogen und befindet sich im Reich der Nixe (vgl. WAS, S. 82). In dem von Frau Kast geschilderten Praxisfall wird diese Parallele besonders an der Gewohnheit des jungen Mannes deutlich, in diesen Phasen seine „Phantasien in seiner mit grünen Vorhängen verdunkelten Wohnung“ (WAS, S. 93) auszuleben.

Seine Freundin steht diesen Entwicklungen stets hilf- und machtlos gegenüber und letztendlich leiden beide unter diesen zwischenzeitlichen Trennungsphasen (vgl. Kast, WAS, S. 92f).

Das Märchen erteilt in diesem Fall den Rat, dass die Frau ihre eigenen nixenhaften Züge, die ihr innewohnen, kultivieren und ihn so der übermäßigen Nixenfaszination entreißen soll.

Der Jägerfrau kommt im Märchen ein Traum zu Hilfe. Es wird also angedeutet, dass das eigene Unterbewusste der Frau ihr den Weg weisen kann und wird, wenn sie es zulässt.

Um eine gesunde und reife Beziehung erreichen zu können, müssen beide Aspekte, das Triebhafte wie das Geistige, berücksichtigt werden.

Diese Notwendigkeit, aber auch Hoffnung auf Änderung werden im Märchen in Gestalt der hilfreichen alten Frau deutlich gemacht. Sie steht für das geistig-weib liche und zeigt somit auf, „wenn sich ein Aspekt eines archetypischen Geschehens... gewirkt hat und diese Wirkung emotional aufgenommen worden ist, wie sich der posititve Aspekt desselben Archetyps ...konstelliert und angibt, wie man aus der Situation sich herausentwickeln kann“ (WAS, S. 95): Die Frau kann so den Mann aus seiner Verzauberung befreien.

Es wird jedoch sogleich darauf verwiesen, dass in diesem Fall nicht einer der Partner für den anderen eine Veränderung erreichen oder ihm eine Entwicklung abnehmen kann (vgl. Kast, WAS, S. 100), sondern dass sich vielmehr „beide auch unabhängig voneinander ...entwickeln müssen“ (ebd.). Dies geschieht im Märchen symbolisch durch das Schafhüten, also die Konzentration und Besinnung auf sich selbst.

So finden sie letztendlich wieder zusammen und über einen emotionellen Austausch gelingt es ihnen, im anderen wieder das Individuum zu erkennen, das verschiedene Seiten hat und als solches wahrgenommen und behandelt werden will.

Für die Therapie kann das Märchen also Wegweiser und Hoffnungsträger sein, indem es die Mangelsituation und einen Weg hinaus darstellt. „Zwischen dem Mangel des Anfangs und der Glückserfüllung am Schluß liegt der Konflikt oder eine Reihe von Konflikten, die der Held lösen muß“ (Poser, S. 20). Die Märchenhelden dienen in diesem Fall „als Symbol für eine menschliche Haltung, die in dieser Situation angemessen wäre“ (Kast, Märchen als Therapie, S. 9).

Das Märchen zeigt in seiner bildhaften Sprache die Chancen, aber auch die Gefahren auf, die auf dem Entwicklungsweg zur reifen Paarbeziehung beide Partner erwarten, es stellt „offen und verschlüsselt den erfolgreichen Kampf gegen Widrigkeit und Not, gegen Bedrohung und Angst“ (Maier, S. 6) dar. Aufgrund dieses Erfolges und des glücklichen Endes für den Märchenhelden wird dem in der Therapie befindlichen Paar das Ziel seiner psychischen Beziehungsarbeit aufgezeigt; es wird aber auch ausdrücklich darauf verwiesen, dass dieses Ziel nur erreicht werden kann, „wenn die beiden bereit sind, miteinander einen Entwicklungsweg zu beschreiten“ (Kast, Mann und Frau im Märchen, S. 121).

III.3 Symbiosemärchen

„Unter Symbiose verstehe ich das Verschmelzen eines Menschen mit einem andern Menschen, einer Gruppe, einem Land usw.“ (Kast, WAS, S. 103).

Der Begriff Symbiose entstammt ursprünglich der Biologie und umschreibt eine funktionale Beziehung zwischen zwei Organismen, die beiden Nutzen bringt.

Strebt innerhalb einer Paarbeziehung ein Mensch nach Symbiose, so verbirgt sich dahinter eine Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit. Je mehr er mit seinem „Wirt“ verschmelzen kann, desto weniger muss er eigenverantwortliche Entscheidungen treffen und sich selbst dem Leben stellen, weil dies der andere, „starke“ Partner für ihn übernimmt.

Der „Wirt“ wird seinerseits durch die Untergebenheit und Bewunderung des symbiotisch Gebundenen in starkem Maße aufgewertet, so dass diese Art der Beziehung beiden zunächst von Vorteil erscheint.

Jedoch birgt eine solche Beziehung, „die den Namen `Beziehung´ nicht verdient, denn zu einer Beziehung gehören zwei sich von einander unterscheidende Menschen“ (ebd.), für beide Partner Probleme, die sich allerdings erst nach einiger Zeit eröffnen.

So wird der „Wirt“ unweigerlich eines Tages der Unterwürfigkeit des Gebundenen überdrüssig werden und versuchen, sich von diesem zu distanzieren, da er erkennt, dass diese Art der Bindung für beide zu eng wird und der Partner Gefahr läuft, sich völlig von ihm abhängig zu machen. Auf der Basis einer Abhängigkeit kann jedoch keine reife, tragfähige Bezie hung aufgebaut werden. Es muss notwendigerweise eine Trennung erfolgen, um die individuelle Distanz zwischen den Partnern wieder herzustellen.

In gewöhnlichen Paarbeziehungen findet ein Wechsel von symbiotischen und trennenden Phasen statt, sodass beide Partner ihren individuellen Bedürfnisse nachkommen können.

Ist ein Partner zu diesem Wechsel nicht in der Lage, führt dies stets in eine Konfliktsituation, „denn der symbiotisch Gebundene hat große Angst, daß diese Beziehung...zerfällt“ (ebd.) und wird insofern versuchen, den „Wirt“ noch enger an sich zu binden. Dieser wird immer mehr idealisiert, so dass eine reale Beziehung kaum mehr möglich wird.

Der Weg aus dieser Problematik führt über die Individuation. „Ziel des Individuationsprozesses ist es, daß man zu dem Menschen wird, der man eigentlich ist“ (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 9). Der symbiotisch Gebundene muss zu seiner eigenen Identität finden und sich zu einem autonomen Individuum entwickeln. Darin liegt, den Theorien der Jungschen Schule gemäß, der Schlüssel zu einer reifen Partnerschaft, denn „es gibt niemals nur Entwicklung von Autonomie, Hand in Hand damit geht immer auch die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit“ (Kast, Die Dynamik der Symbole, S. 13).

Diesen schwierigen Prozess illustriert das folgende Märchen: „In `Jorinde und Joringel´ werden die Schwierigkeiten und Entwicklungen auf dem Weg zu einer reifen Partnerschaft treffend widergespiegelt“ (Müller, S. 14)

III.3.1 Handlung und Symbole

Die in diesem Märchen thematisierte Problematik kündigt sich bereits im Titel an:

„Jorinde und Joringel gleichen sich sehr in ihren Namen“ (Kast, WAS, S. 192).

Eine enge Verbindung dieser Figuren wird also bereits zu Beginn deutlich.

Im Sinne einer subjektstufigen Deutung könnte man die Figuren als zwei Seiten, die männliche und die weibliche, einer Person deuten, welche zu einer besseren Ausbildung und Verständigung der beiden Pole angehalten wird.

Plausibler scheint in diesem Falle jedoch die objektstufige Deutung zu sein, die Jorinde und Joringel als Liebespaar betrachtet, wobei „der Gleichklang der im Stabreim aufeinander abgestimmten Namen...eine ...fast symbiotische Beziehung“ (Müller, S. 33) verrät, eine „unbewußte Identität“ (ebd.) der Hauptpersonen, in welcher „sich auch das nahende Unheil ankündigt“ (ebd.). Beide Partner haben noch nicht das Stadium der Eigenständigkeit und „inneren Ganzheit“ (ebd.) erreicht. So müssen sie im Verlaufe des Märchens einen Individuationsprozess durchleben, um zu einer wirklich reifen Beziehung zu gelangen. „Diesem Menschenbild, dem es wesentlich ist, man selbst zu werden, zu individuieren, ... vertrauensvoll auf den Weg zu gehen und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, ist das Menschenbild des Märchens verpflichtet“ (Kast, Wege zur Autonomie, S. 10). Die in diesem Märchen zwischen den Hauptpersonen herrschende „zu enge... Beziehung muß zuerst getrennt werden, damit eine neue Ganzheit entstehen kann. Genau dies ereignet sich im dramatischen Verlauf unseres Märchens“ (ebd.).

Das Märchen beginnt mit der Beschreibung des alten Schlosses mitten in einem „großen dicken Wald“ (WAS, S. ). Hat der Titel des Märchens bereits ein Problem angedeutet, wird hier noch eine zusätzliche Information hinzugefügt: „Dieses Problem ist dem Bewußtsein noch verborgen“ (Müller, S. 20), was durch das Waldsymbol aufgezeigt wird. Der Wald ist hier aber auch „Symbol für das Geheimnisvolle, ...ein Weg ins Dickicht des Lebens“ (Fink, S. 369), der von beiden beschritten werden muss, um zu einem autonomen Selbst werden zu können.

Dieser Weg führt hier unmittelbar zu der ganz allein im Wald lebenden Erzzauberin (vgl. WAS, S. 190). Die Erzzauberin steht in diesem Märchen in derselben Symbolkette wie der Wald, sie „entspricht etwas Verdrängtem“ (Kast, WAS, S. 192) und verdeutlicht somit die Wichtigkeit dieser Eigenschaft im Gesamtkontext.

Sie kann sich in sowohl in eine Katze als auch in eine Eule verwandeln, womit sie selbst und somit im übertragenen Sinne das verdrängte Problem näher beschrieben wird.

So symbolisiert die Katze „das Triebhafte“ (Fink, S. 263), „eine instinkthafte Weiblichkeit, anschmiegsam - und doch eigenständig und unberechenbar“ (Kast, WAS, S. 193), die Eule dagegen „die geistig-seherisch-weiblichen Fähigkeiten“ (Müller, S. 24).

Die Zauberin repräsentiert diese beiden Teile des Weiblichen, kann sie jedoch nicht vereinigen. In ihr wird also jene die Hauptfiguren beherrschende Problematik, der Kampf „der Leidenschaft... mit dem Geist“ (Fink, S. 134) deutlich und so wird hier bereits die notwendige Konfrontation von Jorinde und Joringel mit diesen beiden verschiedenen Seiten der Weiblichkeit offenbart. Die Hexe verwandelt sich ihrem Schloss nähernde Jungfrauen in Vögel und sperrt diese in Körbe. In der Traumdeutung „stellt der Korb ...oft ein Hindernis dar“ (Fink, S. 270).

Hier im Märchen macht die Gefangenschaft die Jungfrauen handlungsunfähig, sie werden eingesperrt. „Es ist, wie wenn sich viele Hüllen über diesen Menschen werfen würden“ (Kast, WAS, S. 192), so dass die Person in ihrer wahren Gestalt für den Partner nicht mehr erkennbar ist. Jene speziellen Voraussetzungen gelten in dem Wald, in den Jorinde und Joringel eintreten.

„Psychologisch bedeutet Wald ein Sinnbild für das Ungeformte ... in den weglosen Tiefen der Seele“ (Betz, S. 58). Jorinde und Joringel sind in ihrer Persönlichkeit noch ungeformt und ungefestigt. Beide sind sehr jung und noch nicht zur Autonomie fähig. Dies könnte ein Grund für die symbiosegeprägte Beziehung der beiden sein

Diese Beziehung ist also von einem den beiden noch nicht bewusst gewordenen Problem belastet. Die Bedrohung, welche von diesem unausgesprochenen Konflikt ausgeht, wird im Märchen anhand des Schlosses deutlich.

„Das Schloß stellt ..., psychologisch gesehen, das Zentrum des etablierten kollektiven Unbewußten dar... so deutet sich hier bereits an, daß es sich um ein allgemeines, wichtiges und zentrales Problem handelt“ (Müller, S. 20), dem man nicht durch Verdrängung entgehen kann. So übt denn das Schloss „geradezu einen Sog“ (Kast, S. 194) auf jene aus, die verliebt sind, denn gerade bei diesen besteht häufig die Tendenz, den Partner zu idealisieren und nur einer seiner Seiten die genügende Beachtung zu schenken.

Dieser Fehler unterläuft Joringel in diesem Fall. Zwar weiß er um die besonderen Gefahren in der Nähe des Schlosses, trägt aber dennoch unbewusst dazu bei, dass beide in dessen Bann geraten. Die Vorahnung der beiden, ihre unerklärliche Traurigkeit sowie auf symbolischer Ebene die Tageszeit, weisen bereits auf die kommenden Entwicklungen hin. Beiden ist die Problematik ihrer Beziehung unbewusst, jedoch ist diese dabei, sich auf emotionaler Ebene zu konstellieren. Dies unterstreicht der Sonnenuntergang im Märchen, der die Wandlung vom Tag zur Nacht bringt. Stilistisch wird hier das Heraufziehen der Katastrophe vorbereitet.

Tatsächlich erweist sich die Erzählung von den Kräften der Erzzauberin als wahr: Jorinde wird in einen Vogel verwandelt und in das Schloss gebracht, Joringel versteinert, so dass er ihr nicht helfen kann, bis es zu spät ist.

Hier wird die derzeitige Hilflosigkeit beider im Hinblick auf die trennenden Elemente in ihrer Beziehung deutlich: Als sich das zuvor latent vorhandene Problem ins Bewusstsein drängt, wird Jorinde sozusagen eingehüllt, sie kann an ihrer Erhöhung durch Joringel, die sie allem Menschlichen enthebt und zur Nachtigall emporstilisiert (vgl. Kast, WAS, S. 194) nichts ändern. Joringel wird bewegungslos, er „erreicht seine Frau nicht mehr“ (ebd.).

Seine Fixierung auf diese Idealisierung seiner Frau lässt ihn unfähig werden, sie als Person zu erreichen und zurückzuholen: „die Beziehung bricht ab“ (Kast, WAS, S. 195).

Im Folgenden muss Joringel allein sein Leben meistern und „die Trennung akzeptieren“ (ebd.), indem er Schafe hütet.

„Hüten heißt, etwas zusammenhalten; eigentlich hüten die Märchenhelden sich selber“ (ebd.).

In diesem Sinne ist auch die Tätigkeit Joringels hier zu verstehen. Er umschreitet immer wieder mit seiner Herde das Schloss, in dem seine Frau gefangen ist, allerdings ohne sich ihm zu sehr zu nähern. Er macht sich also die in der Beziehung aufgetretene Problematik bewusst, indem er sie systematisch umschreitet, „er sammelt sich“ (ebd.).

„Gleichzeitig ist Hüten auch ein Akt der Introversion; er besinnt sich auf sich“ (ebd.).

Diese Selbstbesinnung ist notwendig, um die „unauflösbare Ambivalenz von Sehnsucht und Angst“ (Müller, S. 35) überwinden zu können, die ihn von der Befreiung seiner Frau abhält.

Da die Handlung im Märchen stets archetypisch zu verstehen ist, wird hier auch angedeutet, dass man einem Problem erst gewachsen sein sollte, ehe man sich an seine Lösung macht.

Dieser Weisung leistet Joringel Folge. Er wartet auf eine Aufforderung, ehe er handelt.

Diese erhält er schließlich eines Nachts im „erlösenden Traum“ (ebd.): Darin findet er eine blutrote Blume mit einer weißen Perle in der Mitte. Mit dieser ist er fähig, den Bann der Zauberin zu lösen. „Im Blutrot steckt die Leidenschaft..., Blut, Körperlichkeit“ (Kast, WAS, S. 196), während die Perle ein Symbol ist für „Licht, das im Dunkel gewachsen ist“ (Betz, S. 103).

In der Vereinigung von Körperlichkeit und Geist wird Joringel also die Formel aufgezeigt, die den Zauberbann brechen kann. Das Auftauchen des Traums an dieser Stelle macht deutlich, dass Joringel fähig ist, die Möglichkeit und vor allem die Notwendigkeit der Vereinbarung dieser beiden Seiten des Weiblichen bei seiner Frau zu erkennen und zu verwirklichen.

Die Zeit der Selbstbesinnung und des Hütens haben in ihm diese Erkenntnis der Ganzheit möglich gemacht (vgl. Kast, WAS, S. 196f), „das Gefühl für die Verbundenheit von körperlicher und mystischer Liebe, das er nun als Erlebnis für sich gewonnen hat“ (Kast, WAS, S. 196).

Nachdem er diese „Gegensatzvereinigung“ (ebd.) zunächst in sich selbst erkannt hat, ist er nun zur konkreten Handlung fähig, er erhebt sich und sucht nach der Zauberblume.

Die Blume mit dem Tautropfen in der Mitte, welche er bald findet, zeigt zunächst an, dass es ein neuer Morgen angebrochen ist, Zeichen der Wandlung und Erneuerung.

Darüber hinaus hat Joringel nun auch gelernt, „das Versteckte“ (ebd.) zu sehen: Er erkennt im Tautropfen die Perle. Somit hat er „seine Mitte gefunden“ (ebd.), der Bann der Zauberin ist gebrochen. Er kann Jorinde befreien, „es kann jetzt eine reale Beziehung aufgebaut werden“ (Kast, WAS, S. 197).

III.3.2 Einsatz in der Therapie

„Das vorliegende Märchen zeigt, wie eine Entwicklung des Einzelnen und ebenso des Paares möglich ist, auch wenn am Anfang einer Beziehung häufig noch nicht jeder zu seiner eigenen Persönlichkeit gefunden hat“ (Müller, S. 17).

Diese Analyse des Märchens durch Müller zeigt bereits dessen hauptsächlichen Anwendungsbereiche und -möglichkeiten in einer Therapie auf:

So wird dieses Märchen, in dem besonders die zwei Seiten des Weiblichen und deren Gleichgewicht von Bedeutung sind, vor allem in der Paartherapie Verwendung finden.

Charakteristisch könnte hier ein Paar sein, in dem der Mann die Frau - auch über das Stadium der ersten Verliebtheit hinaus - idealisiert und sozusagen auf einen Sockel stellt, von wo aus sie auf ihn herabblickt. Verstellt sich der Mann auf diese Weise dauerhaft den Blick auf die Realität, kann dies die Beziehung in eine schwere Krise stürzen, wenn nicht sogar unmöglich machen, denn die Frau wird dann, wie Jorinde im Märchen, „der menschlichen Gestalt beraubt, ...kann nicht mehr als Mensch agieren“ (Kast, WAS, S. 197) und insofern auch keine Beziehung mehr führen, da es ihr unmöglich gemacht wird, mit dem Partner zu kommunizieren oder zu interagieren. Auch Jorinde wird ja als Nachtigall von Joringel nicht mehr verstanden (vgl. WAS, S. 191).

Der Mann kann, wenn er beinahe seine gesamte Gefühlssphäre auf die Frau überträgt (vgl. Kast, WAS, S. 197), dieses erhöhte Wesen nicht mehr erreichen, eine Beziehung wird so unmöglich gemacht.

Paare, die solc he oder ähnliche Anzeichen symbiotischer Beziehung und/oder emotioneller Überhöhung eines Partners aufweisen, könnten im Märchen „Jorinde und Joringel“ innerhalb einer Paartherapie wertvolle Erkenntnis- und Verhaltenshilfen gewinnen, denn es stellt dar, „woraus der gesunde menschliche Wachstumsprozeß besteht“ (Bettelheim, S. 19) und wohin er in Bezug auf eine Paarbeziehung führen soll: Der Mensch soll fähig werden, „in eine positive Beziehung“ (ebd.) zum anderen Geschlecht zu treten, indem er „sich selbst [findet]...und psychologische Unabhängigkeit und moralische Reife“ (ebd.) erlangt.

Es wird deutlich, wie eine zu symbiotische Beziehung, in der trennende Elemente nur latent vorhanden sind, letztendlich doch über eine Trennung führen muss, wenn sie zu einer gesunden, realisierbaren Beziehung werden soll.

„Beide sind zu symbiotisch aneinander gebunden, und es bedarf einer Klärung, einer Aus-ein-andersetzung“ (Müller, S. 42) beider Partner mit den Ursachen und Begründungen dieser Symbiose.

Das Märchen zeigt auch den Weg der Beschäftigung mit der jeweiligen Paarproblematik auf: Der Betroffene muss sich „seiner Innenwelt zuwenden“ (Kast, WAS, S. 198), sich auf sich selbst einlassen und konzentrieren. Dann, so verspricht es hier das Märchen, wird das eigene Unbewusste dem Menschen den Weg weisen, wie es Joringel im Traum erlebt.

Die Paarbeziehung kann hier jedoch nicht, wie es eventuell innerhalb anderer Problematiken möglich ist, durch den bloßen Dialog der Partner gelöst werden. Vielmehr sind innerhalb einer solchen Situation konkrete Entwicklungsschritte in Richtung eines veränderten Erlebens und Erfahrens notwendig.

Diese Entwicklung muss derjenige vollziehen, „der von der symbiotischen Situation weniger gelähmt ist“ (ebd.). Geschieht dies, eventuell mit Hilfe eines Märchens, so entsteht für beide Partner eine neue, bereichernde Beziehungssituation.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Märchen in der Therapie - Wege aus Angst und Symbiose
Hochschule
Universität zu Köln
Veranstaltung
Märchen in der Therapie
Note
1,7
Autor
Jahr
1999
Seiten
20
Katalognummer
V103001
ISBN (eBook)
9783640013814
Dateigröße
379 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen, Therapie, Wege, Angst, Symbiose, Märchen, Therapie
Arbeit zitieren
Sylvia Preis (Autor:in), 1999, Märchen in der Therapie - Wege aus Angst und Symbiose, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103001

Kommentare

  • Gast am 7.9.2002

    Student.

    Sehr geehrte Frau Sylvia Preis

    Ich studiere psychologie in Wien und habe ihre Arbeit über das Märchen als Therapie gelesen und lust bekommen mehr für mich privat zu erfahren dazu wollte ich nur mal wissen in welchen Büchern der jeweiligen Autoren die in ihrer Arbeit: Märchen in der Therapie - Wege aus Angst und Symbiose vorgefundenen zitate zu finden sind
    1.von Poser dass Zitat:

Blick ins Buch
Titel: Märchen in der Therapie - Wege aus Angst und Symbiose



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden