Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Tabuisierung von Sexualität im Alter
2 Begriffe
2.1 Sexualität
2.2 Alter(n)
2.3 Tabu
3 Die gesellschaftliche Tabuisierung von Sexualität im Alter
3.1 Altersbilder und Sexualität
3.2 Sexuelle Biographien und sexuelle Sozialisation
4 Sexuelle Realitäten älterer Menschen
4.1 Partnerschaft und sexuelle Aktivität im Alter
4.2 Sexuelle Zufriedenheit und sexuelles Interesse im Alter
5 Gesundheit und Sexualität im Alter
5.1 Depressionen und Sexualität
5.2 Demenz und Sexualität
6 Tabuisierung von Sexualität in Einrichtungen der stationären Altenhilfe
6.1 Sexuelle Übergriffe in Einrichtungen der stationären Altenhilfe
6.2 Sexualassistenz
7 Herausforderung für die Soziale Arbeit
7.1 Sexualität und Soziale Arbeit
7.2 Tabuisierung von Sexualität im Alter in der Sozialen Arbeit
7.3 Sexuelle Bildung und Soziale Arbeit
7.3.1 Sexuelle Bildung in der Theorie Sozialer Arbeit
7.3.2 Angebote Sexueller Bildung für ältere Menschen
8 Herausforderung: Enttabuisierung von Sexualität im Alter
Literaturverzeichnis
1 Tabuisierung von Sexualität im Alter
Bei Sexualität im Alter1 handelt es sich heute noch, trotz des demografischen Wandels, um ein tabuisiertes Thema. Dieses wird meist ausschließlich aus dem medizinischen oder physiologischen Blickwinkel betrachtet.2
Dem Thema Sexualität im Alter wurde in den letzten 50 Jahren in der Wissenschaft zwar mehr Aufmerksamkeit geschenkt, doch wurden hierbei hauptsächlich zählbare sexuelle Aktivitäten von älteren Menschen untersucht, die den vielfältigen Facetten von Sexualität nicht gerecht werden. Die Vorstellung, dass Sexualität im Alter keine Rolle spielt, hält sich hartnäckig.3 Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Tabuisierung von Sexualität im Alter, den Gründen und Folgen dieser Tabuisierung, und den Herausforderungen für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, die sich aus dieser Tabuisierung ergeben.
Zunächst findet eine Annäherung an die grundlegenden Begriffe statt, um darzustellen, welcher Alters-, Sexualitäts-, und Tabubegriff der Arbeit zugrunde liegen soll.
Anschließend wird sich in Kapitel 3 damit auseinandergesetzt, welche Altersbilder bezüglich Sexualität vorhanden sind, und wie diese zur gesellschaftlichen Tabuisierung von Sexualität im Alter beitragen.
Da der jeweilige Sexualitätsbegriff auch immer abhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten ist, findet in diesem Kapitel zusätzlich eine Auseinandersetzung mit sexuellen Biographien und ein kurzer Umriss von historischen Entwicklungen bezüglich Sexualität in Deutschland statt. Dies soll zur Beantwortung der Frage beitragen, weshalb Sexualität im Alter bisher tabuisiert wird.
In Kapitel 4 wird auf der Grundlage verschiedener Studien untersucht, inwieweit bestehende Altersbilder mit der Realität übereinstimmen und welche Faktoren Sexualität und das sexuelle Erleben von älteren Menschen maßgeblich beeinflussen können. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Studienergebnissen soll einen Überblick zur Sexualität älterer Menschen geben und die Notwendigkeit der Enttabuisierung dieses Themas verdeutlichen.
Die Ergebnisse der Berliner Altersstudie II (2019) dienen hierbei als wissenschaftliche Grundlage.
Die Ergebnisse weiterer Studien von Bucher (2009) und Klaiberg u.a. (2001) finden hier ebenfalls Beachtung, um die Ergebnisse der Berliner Altersstudie II an einigen Stellen zu ergänzen. Diese Studien wurden ausgewählt, weil sie nicht nur körperliche und ,messbare‘ Faktoren von Sexualität in den Blick nehmen, sondern hierbei auch psychosoziale Faktoren untersucht wurden.
Da Partnerschaft und Ehe zu den vorherrschenden Lebensformen im Alter zählen, und aus der Vermutung heraus, dass das Vorhandensein einer Partnerschaft einen großen Einfluss auf die gelebte Sexualität im Alter hat, wurde in dieser Arbeit das Hauptaugenmerk auf den Faktor Partnerschaft gelegt.
Es wird hierbei nicht explizit auf Lebensformen von LGBT4 Personen eingegangen, um den Umfang dieser Arbeit nicht zu überschreiten. Dieses Thema bedarf, aufgrund von Diskriminie- rungs- und Unterdrückungserfahrungen von nicht heterosexuellen Menschen, einer eigenen ausführlichen Bearbeitung. Es kann zudem davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse der behandelten Studien, ebenso auf Partnerschaften von homosexuellen Personen zutreffen.5
Bisher wird in der Wissenschaft vorwiegend der Einfluss von altersbedingten Krankheiten auf die Sexualität älterer Menschen untersucht.6 In dieser Arbeit findet in Kapitel 5 eine Berücksichtigung von altersbedingten Krankheiten statt, um auch diesem Faktor gerecht zu werden. Mit zunehmenden Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine oder mehrere Erkrankungen auftreten.7
Hierbei werden Depressionen und Demenzen, sowie ihre möglichen Auswirkungen auf die Sexualität älterer Menschen genauer beleuchtet. Sie gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter und können starke Auswirkungen auf die Sexualität älterer Menschen haben.8
Nachdem in den vorherigen Kapiteln beleuchtet wurde, welche verschiedenen Faktoren das sexuelle Erleben und die Sexualität älterer Menschen beeinflussen können, wird sich im Weiteren damit auseinandergesetzt, inwieweit diesem Thema im Pflegealltag begegnet wird.
Da aufgrund des demografischen Wandels die Anzahl der Pflegebedürftigen in Zukunft immer weiter ansteigen wird, und somit insbesondere die Arbeit von Einrichtungen der stationären Altenhilfe in den Mittelpunkt rückt, findet in dieser Arbeit eine besondere Betrachtung von Pflege- und Seniorenheimen statt.
In der Wissenschaft findet eine mangelnde Auseinandersetzung mit dem Thema ,Sexualität von Heimbewohnern‘ statt.9
Aufgrund dessen wird in dieser Arbeit genauer beleuchtet, inwieweit in Einrichtungen der stationären Altenhilfe mit diesem Thema umgegangen werden kann, um pflegebedürftige Menschen in ihrer sexuellen Selbstbestimmung zu unterstützen.
Um die Relevanz der Auseinandersetzung mit Sexualität in der Pflege zu verdeutlichen, wird sich anschließend in Kapitel 6.1 damit auseinandergesetzt, inwieweit die Tabuisierung von Sexualität in Einrichtungen der stationären Altenhilfe, zu sexuellen Übergriffen innerhalb des Pflegealltags führen kann.
Dies soll verdeutlichen, dass eine Enttabuisierung des Themas ,Sexualität im Alter‘ sowohl für ältere, pflegebedürftige Menschen, als auch für Pflegende von dringender Notwendigkeit ist. An dieser Stelle werden zusätzlich Handlungsweisungen zusammengetragen, die zu einer Ent- tabuisierung im Pflegealltag beigetragen können.
Um darzustellen, wie eine solche Enttabuisierung gestaltet werden kann, wird an dieser Stelle das Thema Sexualassistenz/Sexualbegleitung von pflegebedürftigen Personen beleuchtet. Diese findet nur langsam ihren Weg in die Altenhilfe, obwohl sie eine Möglichkeit darstellen kann, dass ältere und pflegebedürftige Menschen weiterhin ihre Sexualität erleben können.10
Anschließend wird in Kapitel 7 beleuchtet, inwieweit Soziale Arbeit zu einer Enttabuisierung des Themas ,Sexualität im Alter‘ beitragen kann, denn Sexualität spielt auch in der Praxis Sozialer Arbeit eine nicht unbedeutende Rolle und ist in allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit anzutreffen.11
Hierzu wird genauer betrachtet, inwieweit ,Sexualität‘ ein Thema in der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit darstellt und wie dem Thema ,Sexualität im Alter‘ in der Sozialen Arbeit begegnet wird. Dies soll beleuchten, inwieweit in der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit Handlungsbedarf besteht, wenn es um die Kompetenzerweiterung von Sozialarbeitern bezüglich sexualitätsbezogenen Themen geht.
Abschließend wird in Kapitel 7.3 betrachtet, wie die Verankerung von sexueller Bildung in der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit dazu beitragen kann, dass sowohl bei Sozialarbeitern, als auch bei älteren Menschen, Fähigkeiten zum Umgang mit sexualitätsbezogenen Themen erlangt werden und das Thema ,Sexualität im Alter‘ enttabuisiert wird.
Hierzu wird erläutert, wie Angebote sexueller Bildung für Sozialarbeitende, aber auch für ältere Menschen gestaltet werden können.
Die Verwendung der männlichen Form in dieser Arbeit wird sprachlich den verschiedenen Ge- schlechteridentitäten nicht gerecht. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird jedoch auf die Verwendung von Doppelformen oder gendergerechten Kennzeichnungen verzichtet.
Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind dabei ausdrücklich inkludiert.
2 Begriffe
2.1 Sexualität
Die Suche nach einer einheitlichen Definition des Begriffs ,Sexualität‘ gestaltet sich schwierig. Lange Zeit wurde der Begriff ,Sexualität‘ ausschließlich in seinem biologischen Kontext betrachtet. So wurden beispielsweise in den Forschungsarbeiten zum Thema ,menschliche Sexu- alität‘ von Masters und Johnson aus dem Jahr 1970, in erster Linie biologische Prozesse bei sexuellen Handlungen und der Reaktionszyklus beim Orgasmus untersucht.12 Der Begriff ,Se- xualität‘ wurde hierbei lediglich auf seine genitalen und biologischen Aspekte reduziert.
Mittlerweile wird Sexualität in ihren verschiedenen Facetten differenzierter dargestellt und es existieren vielfältige Definitionen dieses Begriffs.
Dass Sexualität nicht auf genitale Aspekte reduziert werden kann, beschrieb der holländische Medizinethiker Paul Sporken mithilfe seines Drei-Kreise-Modells.
Er teilte Sexualität in ihre unterschiedlichen Facetten auf, indem jeder Kreis verschiedene Aspekte von Sexualität beinhaltet. Der äußere Kreis umfasst allgemeine und alltägliche Aspekte der Sexualität wie z.B. Kommunikation, Identität und zwischenmenschliche Beziehungen.
Der mittlere Kreis beinhaltet Aspekte wie Nähe, Sinnlichkeit, Intimität und Erotik. Der kleinste Kreis steht für genitale Aspekte wie Geschlechtsverkehr oder andere sexuelle Handlungen.13
Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erstellte zum Begriff ,Sexualität‘ eine eigene Definition:
„Sexualität ist ein existentielles Grundbedürfnis des Menschen und ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität umfasst sowohl biologische als auch psychosoziale und emotionale Dimensionen. Die Ausgestaltung von Sexualität deckt ein breites Spektrum von positiven Aspekten ab, wie beispielsweise Zärtlichkeit, Geborgenheit, Lustempfinden und Befriedigung. Menschen leben und erleben Sexualität unterschiedlich, je nach Lebensalter und -umständen“14
Diese Definition bedarf allerdings einer Ergänzung, weil hierbei ein zentraler Aspekt, der Sexualität beeinflusst, nicht benannt wird.
Sexualität muss auch immer in dem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen betrachtet werden. Dieser prägt die Einstellung zu Sexualität und das Verständnis dieser maßgeblich, aufgrund von Sozialisation, Erziehung, Normen und Werten, sowie Moralvorstellungen.15 Schmidt und Sielert fügen hierbei hinzu, dass nicht ausschließlich die äußeren Bedingungen in der Gesellschaft Sexualität prägen. Auch eigene Vorstellungen und Wünsche, die nicht immer mit den gesellschaftlichen Vorstellungen übereinstimmen, prägen diese grundlegend und können sich dementsprechend auch verändern oder entwickeln.16
Die verschiedenen Faktoren und Aspekte, die zu Sexualität gehören, machen es schwierig eine allumfassende Definition des Begriffs vorzunehmen.17
Sexualität kann nicht auf biologische Faktoren und den Reproduktionsprozess reduziert werden. Vielmehr lässt sich „Sexualität (.) als eine biologisch, psychologisch und sozial determinierte Erlebnisqualität des Menschen verstehen, die in ihrer individuellen Ausgestaltung von der lebensgeschichtlichen Entwicklung geprägt wird.“18 Hierzu gehören auch Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen.19
Diese Begriffsannäherung soll auch dieser Arbeit zugrunde liegen.
2.2 Alter(n)
Um darstellen zu können, inwieweit Alter(n) und Sexualität sich gegenseitig beeinflussen, muss vorerst ,das Alter‘ als soziologischer und gerontologischer Gegenstand genauer betrachtet werden.
Wenn über ,das Alter‘ gesprochen wird, scheint es Probleme bei der Abgrenzung dieser Lebensphase zu geben. So werden in einigen Kulturkreisen Menschen als ,alt‘ bezeichnet, wenn sie das jeweilige Rentenalter erreichen.20
Doch ab wann gilt eine Person als ,alt‘ und wie lässt sich Alter definieren?
Für die Lebensphasen im Alter gibt es mittlerweile vielfältige Alterseinteilungen. Die Alterseinteilungen orientieren sich jeweils an verschiedenen Aspekten.
Grundlegend kann Alter mithilfe seines kalendarischen bzw. chronologischen Aspekts beschrieben werden. Das bedeutet, dass das Geburtsdatum einer Person darüber Auskunft gibt, welches kalendarische Alter eine Person besitzt. Je nachdem welches kalendarische Alter erreicht wird, werden auch gesellschaftlich oder rechtlich festgelegte Altersgrenzen erreicht, wie z.B. die Volljährigkeit oder der Renteneintritt.21
Um definieren zu können was Alter(n) bedeutet, reicht der kalendarische Aspekt nicht aus, da hierbei z.B. die Entwicklung der sozialen Rolle, die mit dem Alter(n) einhergeht, nicht beachtet wird.
Eine soziologische Alterseinteilung, die auch die soziale Altersrolle in den Blick nimmt, nahmen Prahl und Schroeter vor. Demnach werden die 60-75-Jährigen als „junge Alte“, „(...) die 75-90jährigen als die „Alten“, die 90-100jährigen als die „Hochbetagten“ und die über 100jährigen als die „Langlebigen“ (..)“ bezeichnet.22
Das soziale Alter wird unter anderem durch gesellschaftliche Vorstellungen von dem Alter ge- prägt.23 Dazu gehören auch Altersbilder (siehe Kap. 3.1), die bei jedem die Vorstellungen und Erwartungen davon prägen, welche Eigenschaften oder Fähigkeiten eine Person in einer bestimmten Lebensphase erfüllen muss.
Eine gerontologische Alterseinteilung stellt die Einteilung der ,Lebensalter‘ nach Laslett dar. Hierbei wird zwischen dem ersten, zweiten, dritten und vierten Lebensalter unterschieden. Das erste Lebensalter wird geprägt durch Erziehung und Sozialisation, das zweite Lebensalter wird geprägt von Unabhängigkeit und dem Berufsleben, das dritte Lebensalter stellt die Zeit der Selbsterfüllung dar und das vierte Lebensalter wird geprägt durch altersbedingte psychische, sowie körperliche Einbußen und die Vorbereitung auf den Tod.24
Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit solche Alterseinteilungen und -abgrenzungen dem komplexen und individuell ablaufenden Prozess des Alterns gerecht werden, denn die Al- ter(n)sphase ist heutzutage einem immensen Strukturwandel unterworfen. Dieser geht unter anderem einher mit einer Verjüngung des Alters, Feminisierung, Singularisierung, Entberufli- chung und einer höheren Lebenserwartung. Ältere Menschen passen sich heutzutage weniger an traditionelle Vorgaben an und entwerfen vielfältige Lebensführungen.25 Es kommt zu einer Pluralisierung und Biographisierung der Lebensstile, auch in Bezug auf Sexualität.
Es ist nicht erstrebenswert starre Alterseinteilungen zu entwerfen, welche diese Vielfalt nicht wiedergeben können.
Neuere Betrachtungen bezeichnen Alter eher als ein sozial konstruiertes Phänomen.26 Dieses wird zwar auch von biologischen Prozessen begleitet, lässt sich auf diese und den kalendarischen Aspekt jedoch nicht reduzieren, sondern muss vorrangig mehrdimensional betrachtet werden.27 Die Vielfältigkeit von Lebensführungen im Alter, gesundheitlichen Aspekten und sozialen Faktoren des Alterns führen dazu, dass Alter, so wie auch Sexualität, soziale Konstruktionen darstellen, welche sich je nach kulturellen und gesellschaftlichen Rahmungen unterschiedlich definieren lassen.
2.3 Tabu
Auf den ersten Blick scheint eine Definition des Begriffs ,Tabu‘ unkomplizierter zu sein, als die vorherige Begriffsklärung zu , Sexualität und ,Alter‘.
Ursprünglich stammt das Wort ,Tabu‘ aus dem Polynesischen und bedeutet, dass etwas ,un- aussprechlich‘ ist. Gesellschaftliche Tabus sind rational kaum erklärbar und lassen sich aus den Werten, Normen und Moralvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft ableiten.28
Es kann demnach davon ausgegangen werden, dass es sich bei einem Tabu auch um eine soziale Konstruktion handelt, die jeweils im gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Kontext betrachtet werden muss.
Aufgrund der sozialen Konstruktion von Tabus sind diese wandelbar und können sich im historischen Verlauf einer Gesellschaft verändern bzw. auflösen. Dies kann auch anhand von gesellschaftlichen Tabus bezüglich Sexualität gezeigt werden.
So wurde z.B. in den späten 1960er Jahren Sexualität von der Ehe und ihrer Fortpflanzungsfunktion entkoppelt. In Folge dessen kam es zu einer Enttabuisierung und Liberalisierung des Sexualitätsbegriffs.29 In den 1970er Jahren wurden aufgrund der Frauen- und Schwulenbewegung verschiedene Tabus erstmalig auch öffentlich diskutiert. Hierzu zählten Themen wie Abtreibung, Pornographie und sexuelle Gewalt.30
Heutzutage zeigt sich, dass Sexualität zumindest in den meisten westlichen Ländern keine Tabuisierung mehr widerfährt. „(...) [S]ie durchdringt alle Bereiche des öffentlichen Lebens: Mode, Film, Literatur, Theater, Werbung, Spiele - überall sind sexuelle Bilder und Themen präsent.“31
Zum einen sind der liberale Umgang mit Sexualität und die weitestgehende Enttabuisierung von Sexualität, in Bezug auf ältere Menschen nicht zu beobachten.
Zum anderen sind die Darstellungen von Sexualität in den Medien kein Ausdruck der Realität und vermitteln hierbei ein realitätsfernes Bild von Sexualität. So kann vor allem in der Werbung eine immense Ökonomisierung von Sexualität und eine Sexualisierung von Frauen beobachtet werden.32
Bisher wird Sexualität in den Medien vorrangig mit jungen Menschen und jugendlichen Körpern in Verbindung gebracht. Ältere Menschen sind, auch im Kontext von Sexualität, in den Medien selten bis gar nicht repräsentiert.33
Darstellungen in den Medien spielen eine große Rolle, inwieweit gesellschaftliche Vorstellungen von dem Älterwerden ausgestaltet sind.34
Dadurch werden auch Vorstellungen von Alter und Sexualität geprägt und können Altersstereotype bezüglich der Sexualität von älteren Menschen formen und reproduzieren. Auch der Mangel an differenzierten Darstellungen von Sexualität im Alter kann zu der Vorstellung beitragen, dass Sexualität im Alter nicht mehr vorhanden ist und zu einer Tabuisierung dieser beitragen. Das Thema Sexualität im Alter stellt auch heute noch ein gesellschaftliches Tabu dar, dessen Auflösung sich angenommen werden muss. Wie zumindest in der Arbeit von Pflegefachkräften und Sozialarbeitern dazu beigetragen werden kann, soll unter anderem Gegenstand dieser Arbeit sein.
3 Die gesellschaftliche Tabuisierung von Sexualität im Alter
3.1 Altersbilder und Sexualität
In den gesellschaftlichen Vorstellungen von ,dem Alter‘ und in dem Verständnis von dem Prozess des Älterwerdens kann zweifellos eine Erklärung für die Tabuisierung von Sexualität im Alter gefunden werden.
Welche Eigenschaften älteren Menschen zugeschrieben werden, wie sich ältere Menschen als soziale Gruppe von ,den Jungen‘ abgrenzen und wie Altern als Prozess wahrgenommen wird, ist eng verknüpft mit unterschiedlichen Altersbildern. Diese gesellschaftlichen Altersbilder lassen sich in verschiedenen Bereichen und Darstellungen, wie z.B. Politik, Gesundheitswesen oder Medien, finden.35
Altersbilder, welche meist auch von negativen Altersstereotypen geprägt sind, sind dabei keineswegs ein Ausdruck der Realität. Sie sind je nach kulturellem und gesellschaftlichem Rahmen unterschiedlich geprägt und können als sozial konstruiert bezeichnet werden.36
Bereits in der Kindheit werden, durch verschiedene Medien, in der Gesellschaft bestehende Altersstereotype verinnerlicht. Diese formen individuelle Altersbilder, vor deren Hintergrund das eigene Älterwerden ausgehandelt und interpretiert wird.37 Die Besonderheit von Altersstereotypen liegt darin, dass diese Stereotype zunächst nicht die eigene Altersgruppe betreffen und somit unreflektiert übernommen werden.38
So wird in der Werbung ,das Alter‘ meist als Zustand angesehen, der mithilfe von , Anti-Aging‘ Produkten bekämpft werden muss. Und auch in Filmen sind ältere Menschen unterrepräsen- tiert.39 Dies gilt ebenso für die realistische Darstellung von Sexualität älterer Menschen in den Medien, vorrangig in Filmen.
Die vorwiegend negativ geprägte Darstellung von älteren Menschen und die fehlende Darstellung von Sexualität im Alter in den Medien ist besonders problematisch wenn bedacht wird, dass diese Bilder übernommen werden, und beim Prozess des eigenen Alterns ausgehandelt werden müssen.
Auch in Bezug auf Sexualität halten sich gewisse Altersbilder relativ hartnäckig: das Bild des asexuellen Alter(n)s.
Es wird - dem Defizitmodell entsprechend - davon ausgegangen, dass ab einem gewissen Alter aufgrund von Krankheit, körperlichen Beschwerden oder aufgrund des Alters selbst, das sexuelle Interesse und die sexuelle Aktivität gänzlich eingestellt werden.40
Dieses defizitorientierte Bild von älteren Menschen, die unter verschiedenen physischen Einbußen leiden und in der Gesellschaft keine soziale Rolle mehr spielen, hält sich im Bewusstsein der Gesellschaft relativ konstant.41
Das Defizitmodell wurde mittlerweile um ein Kompetenzmodell des Alter(n)s erweitert, um die Ressourcen und Stärken von älteren Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.42 Es sind zudem auch vermehrt positive Darstellungen von älteren Menschen in unterschiedlichen Bereichen, wie in den Medien oder in der Politik, zu finden.43
Doch kann dies ebenfalls dazu führen, dass das aktive Alter(n) und die lange soziale Einbindung zu einem neuen Altersbild werden, dem sich die ältere Generation unterwerfen muss, wenn es um ein ,erfolgreiches‘ Altern geht.
Dies lässt sich auch hinsichtlich Sexualität beobachten.
Dem Altersbild des asexuellen Alterns steht mittlerweile das der langen, aktiven Sexualität von älteren Menschen gegenüber. Hierbei wird die langanhaltende, sexuelle Aktivität als Messfaktor für ein erfolgreiches Altern gesehen.44
Dass Sexualität bei älteren Menschen ebenso eine Rolle spielt, wird häufig nicht ernst genommen und ist mit Gefühlen der Scham, und teilweise auch der Abscheu besetzt.45 Vorstellungen in Generationenbeziehungen können dieses Bild ebenfalls beeinflussen, da sich erwachsene Kinder meist nicht mit dem Sexualleben ihrer Eltern oder Großeltern auseinandersetzen wollen und diese daraufhin nicht als sexuelle Wesen anerkennen.46
Zudem kann auch eine Infantilisierung der Liebe und Sexualität zwischen älteren Menschen beobachtet werden.47 Älteren Menschen wird in Folge dessen Lust, Erotik und Intimität abgesprochen und eine asexuelle Partnerschaft unterstellt.
Nicht nur von anderen Personengruppen kann dieses Bild des asexuellen Alterns verstärkt und weitergetragen werden. Auch auf ältere Menschen selbst haben Altersbilder einen großen Einfluss.
Dieser kann dazu führen, dass ältere Menschen diese Altersbilder und bestehende Altersstereotype auf ihre eigenen Selbstbilder übertragen und sich in Folge dessen die eigene Sexualität absprechen.48
Der bereits 1977 von Sontag konstatierte ,double standard of aging‘ zeigt ebenfalls, dass die Bilder vom Älterwerden unterschiedlich geprägt sind und sich dementsprechend auch geschlechtsspezifisch auswirken können. Nach diesem wird das Älterwerden der Geschlechter unterschiedlich bewertet. Frauen gelten beim Älterwerden früher unattraktiv als Männer.49
Aufgrund des immensen Einflusses von Altersbildern „(...) auf die Verwirklichung von Entwicklungsmöglichkeiten im Alter als auch auf den Umgang mit Grenzen im Alter“50, ist es von besonderer Wichtigkeit, diese Altersbilder auch bezüglich Sexualität aufzubrechen und heterogen zu gestalten.
Im sechsten Altenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 wurden verschiedene Altersbilder in Bereichen der Arbeitswelt, Bildung, Medien oder Pflege in den Blick genommen und ihre Auswirkungen auf den jeweiligen Bereich dargestellt. Dieser wurde angefertigt um darzustellen, inwieweit Altersbilder die kulturelle sowie gesellschaftliche Teilhabe von älteren Menschen in Deutschland beeinflussen, und um bestehende Altersbilder in verschiedenen Bereichen zu korrigieren.51
Das Thema Sexualität ist jedoch weder im Bereich Pflege, noch im Bereich Medien und Werbung des sechsten Altenberichts zu finden.
Ein Projekt, welches sich ausschließlich mit der Sexualität und Partnerschaft von älteren Menschen beschäftigte, stellt die Wanderausstellung ,Alter und Liebe‘ des Seniorenbüros Hanau dar.
Im Rahmen des Projektes wurden 11 Paare im Alter von 66 bis 88 Jahren innerhalb Interviews nach der Bedeutung von Liebe, Sexualität und Partnerschaft befragt und fotografiert.
Die Paare, die befragt wurden befanden sich schon seit vielen Jahren in einer Partnerschaft. Es wurden jedoch auch Paare interviewt, die sich nach dem Tod des vorherigen Partners neu verliebten.
Das Ziel dieser Wanderausstellung bestand darin, die Öffentlichkeit für das Thema Sexualität und Liebe im Alter zu sensibilisieren und bisherige Vorstellungen und Altersbilder zu diesem Thema aufzubrechen.52
Es lässt sich jedoch feststellen, dass hierbei ausschließlich heterosexuelle Menschen interviewt wurden, die sich in einer Partnerschaft befanden. Hierbei wurden vielfältige Lebensformen, wie nicht heterosexuelle Lebensformen oder alleinstehende ältere Menschen, für die Sexualität ebenfalls eine Rolle spielt, nicht dargestellt.
Ein Grund hierfür könnte darin liegen, dass die Mitarbeiter des Seniorenbüros bereits bei der Suche nach älteren Menschen die fehlende Bereitschaft von älteren Menschen feststellten, sich zu diesem Thema befragen zu lassen. Eine Erklärung sahen die Mitarbeiter darin, da es sich hierbei um ein sehr intimes Thema handelt.53
Ein Film der mit Vorurteilen gegenüber dem Thema Sexualität im Alter aufräumen wollte, ist ,Wolke 9‘ von dem Regisseur Andreas Dresen, welcher bei seiner Veröffentlichung für Aufregung in Deutschland sorgte.
Dieser handelt von einer Frau, die sich nach 30 Jahren Ehe und im Alter von fast 70 Jahren, in einen 80-jährigen Mann verliebt. Hierbei werden sexuelle Handlungen zwischen den Schauspielern explizit gezeigt und bilden somit eine authentische Darstellung, wie Sexualität im Alter aussehen kann.
Solche Darstellungen können dazu beitragen, dass vielfältige und differenzierte Bilder von Sexualität im Alter gezeichnet werden und Vorurteile abgebaut werden können
Es lässt sich zusammenfassen, dass mittlerweile zwei entgegengesetzte Altersbilder vorhanden sind. Auf der einen Seite steht das Bild des asexuellen Alter(n)s und auf der anderen Seite das Bild der langanhaltenden, sexuellen Aktivität im Alter.
[...]
1 In dieser Arbeit soll ,Alter‘ nicht als kalendarische Gegebenheit, sondern als soziale Konstruktion dargestellt werden. Es erfolgt aufgrund dessen keine Festlegung einer Altersgruppe, wenn in dieser Arbeit von ,älteren‘ Menschen oder von Sexualität ,im Alter‘ die Rede ist. vgl. Schulz-Nieswandt 2019: 17.
2 vgl. Brose/Zank 2019: 523; ebenso Schultz-Zehden 2013: 56.
3 vgl. Brose/Zank 2019: 521f.
4 Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender. vgl. Brose/Zank 2019: 526.
5 vgl. ebd.: 525f.; ebenso Hierholzer 2016: 94f.
6 vgl. Brose/Zank 2019: 522f.
7 vgl. Polidori/Häussermann 2019: 249f.
8 vgl. ebd.: 265.
9 vgl. Brose/Zank 2019: 521; ebenso Bach 2011: 160.
10 vgl. Paulsen 2018: 27.
11 vgl. Altenburg 2017: 51.
12 vgl. Masters/Johnson 1970.
13 vgl. Sporken 1974.
14 BZgA 2016: 5.
15 vgl. Schmidt/Sielert 2012: 15.
16 vgl. ebd.: 16.
17 In dieser Arbeit werden ausschließlich positive Aspekte von Sexualität umfasst. Aspekte wie Pädophilie, Inzest, Vergewaltigung sowie sexuelle Folter und Sklaverei werden ausgeklammert. vgl. White 2013: 31f.
18 Beier/Loewit 2011: 12.
19 vgl. ebd.: 12.
20 vgl. Kruse 2017: 20; ebenso Kämmerer-Rütten 2015: 112.
21 vgl. Hank 2018: 11.
22 Prahl/Schroeter 1996: 13.
23 vgl. Hank 2018: 11.
24 vgl. Laslett 1995: 34f.
25 vgl. Böhnisch 2018: 230f.
26 vgl. Kruse 2017: 20.
27 vgl. Schulz-Nieswandt 2019: 17.
28 vgl. Bach 2011: 160.
29 vgl. Matthiesen 2017: 22.
30 vgl. ebd.: 23.
31 Matthiesen 2017: 25.
32 vgl. ebd.: 25.
33 vgl. BMFSFJ 2019: 15.
34 vgl. ebd.: 15.
35 vgl. BMFSFJ 2019: 9.
36 vgl. ebd.: 8.
37 vgl. Beyer/Wurm/Wolff 2017: 330.
38 vgl. Wurm/Berner/Tesch-Römer 2013: 4f.
39 vgl. BMFSFJ 2019: 15.
40 vgl. Bach 2011: 163.
41 vgl. Böhnisch 2018: 227.
42 vgl. ebd.: 235.
43 vgl. Beyer/Wurm/Wolff 2017: 341.
44 vgl. Brose/Zank 2019: 533; ebenso Bucher 2009: 59.
45 vgl. Bach 2011: 163.
46 vgl. ebd.: 163.
47 vgl. Vight-Klußmann 2014: 36.
48 vgl. Schultz-Zehden 2013: 57.
49 vgl. Sontag 1977.
50 vgl. BMFSFJ 2019: 7.
51 vgl. ebd.: 12.
52 vgl. Seniorenbüro Hanau 2010 : 3.
53 vgl. ebd.: 4.