Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
1.1. Problemstellung und Forschungsinteresse
1.2. Aufbau und Methodik
2 THEORETISCHE ANNÄHERUNG
2.1. Digitalisierung und Mediatisierung
2.2. Konzeption einer Europäischen Öffentlichkeit
2.2.1. Theoretische Grundlage einer europäischen Öffentlichkeit
2.2.2. Definition europäische Öffentlichkeit
3. EUROPÄISCHE ÖFFENTLICHKEIT IM DIGITALEN WANDEL
3.1. Who
3.2. What
3.3. How
3.4. Outcome
4. AUSBLICK
5. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Seit 25 Jahren wird eine kontroverse Debatte über die demokratische Qualität der Europäischen Union geführt und der europäischen Demokratie dabei fortlaufend ein demokratisches Defizit konstatiert (Höreth, 1999; Mross, 2010: 57). Während die Diskurse vorrangig den vertragsrechtlichen und institutionellen Bestimmungen gewidmet waren, liegt das zentrale Moment jedoch in der systematisch marginalisierten Rolle einer europäischen Öffentlichkeit (Assenbrunner, 2012: 121). Bis heute existiert weder eine gesamteuropäische Öffentlichkeit, noch eine erfolgreiche Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten (Hepp et. al. 2012). Stattdessen werden europapolitische Themen vor dem Hintergrund national gefilterter medialer Inhalte diskutiert, wodurch eine europäische Meinungsbildung als Resonanzboden der europäischen Demokratie unmöglich scheint (ebd.).
Gleichzeitig befinden sich die Strukturen der Öffentlichkeit im Umbruch. Wie bereits Jürgen Habermas im Jahr 1962 die Entstehung und den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft als Strukturwandel der Öffentlichkeit beschrieb, so findet seit dem Jahrtausendwechsel ein grundlegender Wandel öffentlicher Kommunikation durch die stetige Bedeutungszunahme von Medien, der Allgegenwärtigkeit digitaler Kommunikation und der Verdichtung globaler Vernetzung statt (Roth-Ebner et al., 2018: 13). Diese Entwicklungen ziehen neue Kommunikationsprozesse nach sich, die nicht länger unmittelbar stattfinden und somit in digitalisierte Formen übertragen werden (Roth-Ebneret.al., 2018: 13).
Der medial-kommunikative Wandel vereint die digitale mit der sozialen Welt und wird nicht nur zum Spiegel, sondern gleichzeitig zum bedeutenden Auslöser gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Während für Habermas noch Theateraufführungen, Parteiversammlungen und Kaffeehäuser essentiell fürdie Herausbildung von Öffentlichkeit waren (Habermas, 1994: 452), lässt Digitalisierung auf ähnliche Art und Weise ein komplexes Netzwerk an Öffentlichkeit entstehen und ermöglicht hiermit die unerschöpfliche Erschließung von öffentlichen Räumen: „One can run from around on web pages in the speed of light, read messages from the furthest parts of the globe on computer screens and send messages... Space is no longer an obstacle; one second is enough to conquer it." (Bauman, 2005: 77). Mit dieser Entgrenzung des sozialen Raums Öffentlichkeit (Habermas, 1962: 43ff., 60ff.) werden den kommunikativen Prozessen des öffentlichen Diskurses neue Rahmenbedingungen und erweiterte Möglichkeiten gegeben, wodurch ebenfalls die Individuen alternative Zugänge erhalten, persönliche Ansichten und Meinungen in einem transnationalen sowie globalen Kontext zu verbreiten. Weiterhin werden die Strukturen von Öffentlichkeit durch den uneingeschränkten Zugang zu Informationen und die unzähligen Interaktionsmöglichkeiten im digitalen Raum neu konzipiert und Partizipation sowie die Konstituierung von Öffentlichkeit neu gedacht (Qöteli, 2018; Kalina et al., 2018: 7f.). Vor dem Hintergrund der Debatte um eine fehlende europäische Öffentlichkeit, ergeben sich hieraus neue Ansatzpunkte für die wissenschaftliche Untersuchung der Entstehung eines europäischen öffentlichen Raums.
1.1. Problemstellung und Forschungsinteresse
Die sozialwissenschaftliche Diagnose zur Frage, ob die EU ein Öffentlichkeitsdefizit aufweist, ist stark fragmentiert und wird bis heute kontrovers diskutiert. In den Ausführungen von Peter Graf Kielmannsegg stellt die Europäische Union keine Kommunikationsgemeinschaft dar (1995: 55) und Fritz Scharpf betrachtet die politischen Diskurse in Europa als nicht existent (1999: 674). Gleichzeitig wird dagegengehalten, dass das Öffentlichkeitsdefizit "[...] empirisch nicht gedeckt und theoretisch unfruchtbar [ist]." (Eder/Kantner, 2000: 307).
Tatsächlich ist die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit eine essentielle Bedingung für die Legitimation der europäischen Demokratie und somit für den Erfolg des Europäischen Projektes (Münch, 1993: 315; Preuß, 2013: 13). Dabei setzen die Artikulation von politischen Interessen und Meinungen, die Identifikation politischer Probleme sowie schließlich die Durchsetzung verbindlicher politischer Entscheidungen, vielfältige Kommunikationsprozesse voraus (Beck, 2010). Somit besteht eine enge Verbindung zwischen Demokratietheorie und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive: „Democratic theory focuses on accountability and responsiveness in the decision-making process; theories of the public sphere focus on the role of public communication in facilitating or hindering this process." (Ferree et al., 2002: 289).
Wenn Öffentlichkeit als kommunikativer Raum für Debatten über kulturelle, politische und soziale Themen wahrnehmbar ist (Habermas, 1994), wird im europäischen Kontext die Besonderheit grenzüberschreitender Kommunikation relevant. Dies bedeutet, dass die normativen Vorstellungen von Öffentlichkeit, strukturellen Merkmale und Zugänge sowie deren Rahmenbedingungen neu gedacht werden müssen. Hierzu wurden bereits verschiedene empirische Studien mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen durchgeführt (Eder/Kanter, 2000; Risse/ van de Steeg, 2003; Koopmans/Erbe, 2003; Wessler et al., 2008; Lingenberg, 2010; Assenbrunner, 2012), jedoch immer wieder Herausforderungen und Hemmnisse in der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit festgestellt.
Die vorliegende Arbeit will nicht den Versuch unternehmen den Diskurs um eine Europäische Öffentlichkeit nachzuzeichnen oder eine Existenz dieser nachzuweisen, sondern betrachtet die vielfältigen Effekte der Digitalisierung auf die Strukturen einer politischen Öffentlichkeit und der Realisierung ihrer Legitimationsfunktion im europäischen Kontext, analysiert mögliche Chancen für Lösungsansätze des Öffentlichkeitsdefizits der Europäischen Union und reflektiert Herausforderungen im Rahmen digitalisierter Öffentlichkeiten im transnationalen Raum.
1.2. Aufbau und Methodik
Die vorliegende Arbeit wird zunächst in einer theoretischen Abhandlung eine Annäherung an den Begriff Digitalisierung vornehmen und einen Bezug zum theoretischen Konzept der Mediatisierung nach Friedrich Krotz herstellen, das makro- und mikrosoziologische Erscheinungen und Prozesse im Verhältnis zueinander betrachtet. Hiernach wird, auf Grundlage der diskurstheoretischen Überlegungen von Jürgen Habermas und dem daran anschließenden modifizierten Verständnis verschiedener Autoren, der Begriff Öffentlichkeit gefasst. Hierauf aufbauend wird ein Verständnis einer europäischen Öffentlichkeit entwickelt, dass die Grundannahmen sowie Grundproblematiken der Entstehung von Öffentlichkeit im transnationalen Raum diskutiert.
Vor dem Hintergrund der bereits erläuterten demokratietheoretischen Qualitäten und Funktionen einer Öffentlichkeit (vgl. 1.1.) haben Ferree et al. (2002) vier normative Kriterien identifiziert, die universell auf verschiedene Perspektiven und Demokratiemodelle anwendbar sind. Da die Europäische Union innerhalb der Europaforschung als ein politisches System sui generis (Jachtenfuchs, 1997) gilt und sich selbst nach Art. 10 Abs. 1 EUV als repräsentative Demokratie versteht, sind diese vier Kriterien auch auf eine Öffentlichkeit der europäischen Demokratie anwendbar. In Anlehnung an die öffentlichkeitstheoretischen Untersuchungen von Ferree et al. (2002) wird die Forschungsfrage „[...] in terms of who should speak, the content of the process (what), style of speech preferred (how), and the relationship between discourse and decision-making (outcomes) [...]" (Ferree et al., 2002: 290) betrachtet und beantwortet.
Die Analyse der normativen Kriterien nach Ferree et al. wird auf Grundlage einer qualitativanalytische Literaturanalyse stattfinden und den bestehenden Forschungsdiskurs anhand praxisbezogener Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen reflektieren. Diese Vorgehensweise erlaubt bereits existierende Ergebnisse neuartig zu untersuchen und zu interpretieren (Eisend, 2014: 14), wodurch sich verschiedene Betrachtungsweisen auf die gestellte Forschungsfrage erschließen. Grundsätzlich werden hiermit die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für die Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit im europäischen Raum, dialektisch betrachtet.
Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisfortschritte hinsichtlich der Forschungsfrage bewertet und ein zusammenfassender Ausblick für die Weiterentwicklung digitaler Ansätze zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit gegeben.
2. Theoretische Annäherung
2.1. Digitalisierung und Mediatisierung
Der folgende Abschnitt definiert den Begriff Digitalisierung und verdeutlicht die Veränderungen öffentlicher Kommunikation im historischen Verlauf sowie deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Praktiken.
Für den Begriff Digitalisierung wurde bisher noch keine eindeutige Definition festgesetzt, da in Abhängigkeit vom Kontext verschiedene Bedeutungen bestimmbar sind und die Begriffe digitaler Wandel, digitale Transformation oder digitale Revolution synonym genutzt werden (Luber/ Litzel, 2019). Grundsätzlich wird unter Digitalisierung die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate verstanden - folglich die Erstellung „[...] digitale[r] Repräsentationen von analogen Informationen, physischen Objekten oder Ereignissen [...]" (Luber/ Litzel, 2019), um diese dann „[...] zu speichern, zu verteilen oder zu verarbeiten." (ebd.). Historisch betrachtet wurden zunächst die analogen Medien der Fotografie, Tonaufnahme, Film oder schriftliche Dokument in die binären Werte - null und eins - übersetzt (ebd; Borchers, 2003). Dabei setzte der Prozess der Digitalisierung weit vor der Veröffentlichung des ersten Browsers im Jahr 1993 ein (ebd.). Am 01. September 1969 ging das erste Computer-Netzwerk online (Winter, 2010: 41), in den 1980er Jahre gewann die E-Mail als digitale Version des Briefes zunehmend an Popularität und die massenmedialen Veröffentlichungen digitaler Übersetzungen von Büchern oder Zeitungen setzte ein (Borchers, 2003; Neuberger, 2009: 30). Die erste Phase des Internets war textbasiert, nicht kommerziell und wurde vorrangig von Studierenden und Wissenschaftlerjnnen1 gestaltet (Winter, 2010: 42). Während das Internet in dieser Phase von einer one-to-many Kommunikation gekennzeichnet war, erweiterte im Jahr 2005 der Begriff Web 2.0 von Tim O' Reilly die digitalen Möglichkeiten auf„Rollenwechsel, Partizipation und Gleichheit [sowie] Vernetzung" (Neuberger, 2009: 30). Die Etablierung von sozialen Plattformen und die zunehmende Vernetzung der Menschen, bezeichnet Jan Schmidt als Social Web (Schmidt, 2011: 22ff.). Gleichzeitig fand in dieser Phase eine „Kommerzialisierung des digitalen Raumes" (Winter, 2010: 42) statt, die zu einer Intensivierung der ökonomischen Globalisierung führte (ebd.). Gegenwärtig erschließen sich neue soziokulturelle Nutzungsmöglichkeiten digitaler Technik mit der zunehmenden Nutzung von Streamingdiensten, die die Speicherung von digitalen Medien ändern (Krotz, 2018: 34). Dies beeinflusst ebenfalls die Art und Weise, wie mediale Inhalte konsumiert werden (ebd.).
Die stetige Digitalisierung von Informations- und Kommunikationsprozessen verändert somit auch die öffentliche Kommunikation (Rath, 2018: 189). Die analogen Massenmedien werden in elektronische Medien und algorithmisch kuratierte Plattformen übersetzt (Imhof, 2006), Medienangebote erweitern sich und die Veränderung der individuellen Mediennutzung egalisiert die Gatekeeper-Funktion klassischer Medienanbieter (Krotz, 2018). Folglich findet im Zuge der Digitalisierung ein medialer Wandel statt, der zunehmend in die sozialen Bereiche und menschlichen Handlungsfelder vordringt (ebd.: 28). Diese medienbezogenen Entwicklungsprozesse werden nach Friedrich Krotz als Mediatisierung bezeichnet, wodurch der Zusammenhang zwischen medialem Wandel und damit einhergehenden sozialen Entwicklungsprozessen rekonstruierbar wird:
„Diese Entwicklung, die heute in der Durchsetzung der digitalisierten Kommunikation kulminiert, [...], soll einschließlich ihrer sozialen und kulturellen Folgen als Prozess der Mediatisierung bezeichnet werden. Sie findet zugleich auf einer makrotheoretischen Ebene statt, insofern sie den Wandel von Kultur und Gesellschaft postuliert, auf der Mesoebene, insofern sich beispielsweise Institutionen und Organisationen weiterentwickeln, und auf mikroethischer Ebene, insofern die Veränderungen im sozialen und kommunikativen Handeln der Menschen gründen." (Krotz, 2007: 38).
Aufgrund dessen wird im Zusammenhang mit dem aktuellen Medienwandel von einem umfassend angelegten Metaprozess (Krotz, 2018: 30) gesprochen, der nicht nur neue Medien- und Kommunikationsformen entstehen lässt, sondern auch „[...] das gesamt[e] Mediensystem mit seinen Zugangsbedingungen, Funktionen, Ästhetiken, sozialen Einbettungen, Inhalten und Nutzungsformen auf grundlegende Weise." (Krotz, 2018: 30) ändert.
Da ebenfalls Öffentlichkeit medial vermittelt wird, erfährt diese hierdurch neue Möglichkeiten des Sich-Informierens, des Kommentierens und Diskutierens (Schmidt, 2011: 96- 106). Dies hat wiederum direkte Auswirkungen aufdie Funktionen klassischer Massenmedien, welche in ihrer Informations-, Orientierungs-, Validierungs- und Kritikfunktion (Neid- hardt 1994: Sf.) immer stärker mit digitalisierten Formaten konkurrieren. Das Universalmedium Internet und die damit verbundenen sozialen Medien erweitern bestehende Netzwerke fürgesellschaftliche Diskurse und erschließen neue Plattformen für Herstellungsprozesse von Öffentlichkeit (Schrape, 2015). Diese bieten nicht nur die Möglichkeit, Argumente und Meinungen in einem breitangelegten Publikum auszutauschen, sondern auch gesellschaftliche Debatten anzustoßen.
Dabei hat der öffentliche Diskurs bereits ebenfalls eine Übersetzung in den digitalen Raum erhalten. Das derzeit prominenteste Beispiel hierfür ist die #MeToo Debatte, welche ihren Anfang in sozialen Netzwerke gefunden hat, innerhalb von kürzester Zeit global viral gegangen ist und somit eine gesellschaftliche Debatte über sexuelle Belästigung sowie deren Normalisierung angeregt hat (Hermanns, 2019).
2.2. Konzeption europäischer Öffentlichkeit
Grundlegende Voraussetzung und zentrales Moment für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit stellt die politische Transnationalisierung dar. Die Verlagerung politischer Kompetenzen auf die supranationale Ebene der EU, auch Europäisierung der Politik (Beck/Grande, 2004: 56ff.) genannt, führt ferner zur Europäisierung von Kommunikationsräumen. In diesem Kontext wird vorrangig eine politische Öffentlichkeit konzipiert: „Europäische Öffentlichkeit bezeichnet die intermediäre Sphäre von Kommunikations- und Meinungsbildungsprozessen, durch welche die Legitimität des europäischen Regierens zwischen den Entscheidungsträgern der EU und den Bürgerinnen und Bürgern Europas ausgehandelt wird." (Trenz, 2018: 359).
Der nachfolgende öffentlichkeitstheoretische Zugang soll, unter Berücksichtigung der Besonderheiten im europäischen Kontext, ein theoretisches Verständnis über die Entste- hungs- und Möglichkeitsbedingungen von Öffentlichkeit im transnationalen, europäischen Raum entwickeln. Hierauf aufbauend kann die Wirkung von Digitalisierung auf die vier Kategorien nach Ferree et al. (2002) nachvollzogen werden.
2.2.1. Theoretische Grundlage europäischer Öffentlichkeit
Um ein Verständnis für europäische Öffentlichkeit zu entwickeln, bedarf es zunächst der Betrachtung des diskurstheoretischen Öffentlichkeitskonzepts nach Jürgen Habermas2, da dieses den Ausgangspunkt für die definitorischen Bestimmungen im europäischen Kontext darstellt.
In seinem Verständnis ist Öffentlichkeit ein gesamtgesellschaftliches Strukturprinzip, dass sich über öffentliche Kommunikation herausbildet (Habermas, 1962: 43ff., 60ff.), die in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stattfindet (Habermas, 1994). Dabei spiegelt Öffentlichkeit die vielfältigen gesellschaftlichen Interessen sowie deren Wertvorstellungen wider, die in politische Meinungsbildungsprozesse überführt werden, um eine Verständigung auf kollektive Zielsetzungen zu ermöglichen (ebd.: 435ff.). Somit dienen die kommunikativen Austauschprozesse der Öffentlichkeit auch als Grundlage demokratischer Legitimität des politischen Systems (ebd.). Der öffentliche Diskurs ist dabei im Wesentlichen durch drei normative Ansprüche gekennzeichnet: Diese stellen sich als prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums und offener Zugang, eine verständigungsorientierte Kommunikation, die inhaltlich wie auch sprachlich leicht zugänglich ist, sowie ein hohes diskursives Niveau auf Grundlage argumentativer Verständigung dar (Habermas, 1994: 437-440). Aufgrund verschiedener, innerhalb des Kommunikationsnetzwerks agierender Akteure und zirkulierender Argumente, existieren nebeneinander verschiedene Teilöffentlichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen, die miteinander kommunizieren, sich austauschen, neu konstituieren oder zerfallen (ebd.: 452). Auf welcher Ebene öffentliche Kommunikation dabei stattfindet, hat wiederum Auswirkungen darauf, in welcher Rolle Akteure auftreten - als Veranstalter, Redner oder Zuhörer (ebd.). Je nach Rollenverteilung wird ein bestimmter Einfluss auf die Entstehung von Öffentlichkeit ausgeübt (Habermas, 1994: 436ff.). Dabei konstruiert Habermas eine normative Idealvorstellung von Öffentlichkeit, in welcher die stattfindenden Diskurse von Machtbeziehungen und anderen Determinierungen befreit sind sowie eine unverzerrte Kommunikation zwischen den Teilnehmenden möglich ist (Habermas, 1962: 47; Habermas, 1994: 436).
Eben diese hohen normativen Ansprüche sind ein wesentlicher Kritikpunkt des Öffentlichkeitsverständnisses nach Habermas und wurden bereits in theoretischen Abhandlungen erweitert und praktikabel gemacht (vgl. Peters, 1994; Brüggemann, 2008)3. Weiterhin weist Seyla Benhabib daraufhin, dass eine einheitliche Öffentlichkeit als Idealvorstellung eine Fiktion darstellt (1997: 32-37). Ferner wird die strikte Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit von Nancy Fraser kritisiert, da es keine festgelegten Grenzen von Angelegenheiten des öffentlichen Interesses gebe (1996: 169), sowie die Tatsache, dass die nationale Rahmung von Habermas einen festen Ort von Öffentlichkeit festsetzt, jedoch Öffentlichkeit nicht an nationalen Grenzen endet (Mouffe, 2007: 43).
Die theoretischen Überlegungen zusammenfassend betrachtend, lässt sich politische Öffentlichkeit als dynamische, komplexe, multidimensionale Kommunikationsprozesse definieren (Wimmer, 2014: 288), die sich beständig neu konstituieren und wieder zerfallen (Schulz, 2001: 268), jedoch selten an nationalstaatlichen Grenzen enden (Mouffe, 2007).
2.2.2. Definition europäische Öffentlichkeit
Im europäischen Kontext wird eine Öffentlichkeit zunächst medienzentriert konzipiert, da die massenmediale Infrastruktur das Potenzial birgt, Informationen und diverse Meinungen zu vielfältigen Themen an ein breites europäisches Publikum zu vermitteln (Gerhards/Neidhardt, 1993). Hier sind zwei Grundausrichtungen auszumachen: Die erste geht von der Annahme aus, dass transnationale, paneuropäische Medien sowie Medienangebote zunehmen und die zweite beschreibt die zunehmende Europäisierung der Debatten und Bezugnahmen in nationalen Medien (Gerhards, 1993). Im ersten Modell konzipiert sich eine transnationale europäische Öffentlichkeit, wenn ein gemeinsamer Kommunikationsraum durch europäische Medien hergestellt wird. Das zweite Modell sieht eine europäische Öffentlichkeit durch die Synchronisierung europapolitischer Debatten entstehen, wenn die gleichen europäischen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten im selben Zeitraum in unterschiedlichen europäischen Ländern debattiert werden (Kantner, 2003: 226; Eder/Kantner, 2000). Der Prozess der Europäisierung tritt nach Ansicht von Friedhelm Neid- hardt und Ruud Koopmans bereits dann ein, wenn europapolitische Themen und Akteure zunehmend in den nationalen Medien sichtbar werden, diese aufeinander Bezug nehmen und Aufmerksamkeit generieren oder sich miteinander vernetzen (Koopmans/Erbe, 2003).
[...]
1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der Inklusion aller Geschlechteridentitäten eine gendergerechte Sprache sowie gendergerechte Formulierung verwendet.
2 Seine theoretischen Ausführungen hat er in den Werken Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) und Faktizität und Geltung (1994) festgehalten.
3 Beispielsweise stellt Peters fest, dass verschiedene Rollen unterschiedlichen Einfluss auf die Entstehung von Öffentlichkeit haben und einen vorteilhaften Zugang zur öffentlichen Sphäre genießen können (Peters, 1994: 57). Weiterhin fordert Brüggemann, anschließend an den Grundsatz des allgemeinen Zugangs, die ,,[...] passive Teilnahme [an Öffentlichkeit] [...]." (Brüggemann, 2008: 36f.) als Beobachter durch Partizipationsmöglichkeiten über verschiedene online und offline Kanäle (ebd.).