Buchvorstellung: „Rote Linien“ von Brigitte Blobel
„Die Oberärztin verschwindet. Jetzt ist Kitty allein mit dem Professor. Er lächelt immer noch. Er macht eine Schleife aus dem Rest der Mullbinde. „So“, sagt er, „das wär’s für dieses Mal. Wie oft hast du das schon gemacht?“ „Was?“, fragt Kitty. „Versucht dir das Leben zu nehmen.“ „Ich weiß nicht“, murmelt Kitty. „Das glaub ich dir nicht“, sagt der Professor, „das wissen sie immer alle ganz genau. Also wie oft?“ „Dreimal“, flüstert Kitty.
„Oh“, erschrocken presst die Schwester ihre Hand gegen den Mund. Der Professor wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und sie verschwindet lautlos aus dem Krankenzimmer.
„Dreimal?“, wiederholt der Professor sanft. Kitty nickt. Sie wendet den Kopf ab. Tränen laufen über ihr Gesicht. Auf einmal ist es ihr, als würde eine Welle von Selbstmitleid sie einfach wegschwemmen, wie Strandgut, das man am Ufer zurückläßt. Sie fühlt sich hilflos, ein Bündel Haut und Knochen, so sinnlos ihr Leben, so traurig und ohne Hoffnung. Sie fährt verlegen mit der Hand über die Augen. Aber der Professor drückt ihren Arm sanft herunter. „Tränen sind gut“, sagt er leise, „Tränen müssen sein. Weine es nur heraus, Kitty. Das ist gut.“Kitty muss daran denken, wie sie das erste Mal versucht hat sich umzubringen. Wie sie auf der Brücke gestanden ist über den Eisenbahngleisen. Eine Eisenbrücke. Es war Winter gewesen und das Eisen so kalt, dass sie Angst hatte, ihre Finger würden am Geländer festfrieren.“