Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Quellen des islamischen Rechts
2.1. Der Koran
2.2. Die Sunna
2.3. Iḡmā
2.4. Iḡtihād
3. Juristische Fallbeispiele
3.1. Polygamie
3.2. Züchtigungsrecht
3.3. Strafe für Diebstahl
3.4. Glaubensfragen
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ziel und Zweck dieser vorliegenden Untersuchung ist die informative Darstellung der Positionen Öztürks im Verhältnis von Koran, Sunna und Iḡmā´ nach der traditionellen Auslegung des islamischen Rechts, sowie seine Art und Weise der Exegese des heiligen Buches, deren eigentliche Wurzeln in Ägypten, beginnend mit Muhammad Abduh (1849-1905), und zeitgleich in Indien – bis 1948 gehörten Pakistan und Bangladesch zu Indien – mit Sayyid Ahmad Kahn (1817-1898) begannen. Diese beiden Länder erfuhren die Kolonisierung des Westens besonders bedrückend und suchten nach Erklärungen für den Rückschritt der islamischen Welt und den Fortschritt des Westens und haben nach Ansätze zu einem apologetischen Einschlag der Deutung der Quellentexte des Islams gesucht. Es müsste doch eine Erklärung dafür geben, weshalb die Muslime, die die unverfälschte Botschaft Gottes besaßen, wie in diese Unterlegenheit geraten könnten und was dagegen zu tun wäre. Auch Öztürk folgte fast hundert Jahre später dieser Fragestellung und beschäftigte sich mit der Frage und entwickelte seine eigene Methoden der Exegese und der Gewinnung der eigenen Rechtsgutachten; vor allem widmete er sich den Frauen und deren Rechte im islamischen Kontext.1
Öztürk zeigt Parallelen zu den iranischen Reformisten Abdolkarim Sorusch und Mohammad Mojtahad Shabestari, jene Reformtheologen, die als Luther des Islams betitelt werden. Ihre Äußerungen zum Strafrecht und Kleidervorschrift, sie wären nur Äußerlichkeiten des Islams aber nicht sein Essenz, stimmen überein. Sorush unterscheidet Werte im Koran des ersten Grades und des zweiten, und es käme auf den ersten Grad an und sucht nicht nach einer religiösen Legitimation in Menschenrechte. Wie wir sehen werden, geht Öztürk nicht so weit.2
Mit Shabesteri, dem islamischen Philosophen und Mystiker, zeigt Öztürk für einen Reformtheologen und Modernisten erstaunlicher Weise eine Parallele in Mystik. Sie zeigen ein Glaubensverständnis in absoluter Hingabe zu Gott und in seiner Geborgenheit als unvollkommener Mensch. Öztürk verherrlicht in seinen Werken - wenn von Mystik die Rede ist - den persischen Mystiker Mawlānā Rūmī (1207-1273), der in der damaligen seldschukischen – heute türkischen - Stadt Konya lebte und heute noch von großer Mehrheit Sunniten verehrt wird. Für Öztürk soll der Glaube als eine spirituelle Erfahrung soll im Mittelpunkt eines Gläubigen stehen. Trotz des deckungsgleichen Glaubensbegriffes geht Öztürk nicht den Schritt der vom Koran unabhängigen Legitimation von Menschenrechten und Demokratie als vernunftgemäß, wie es bei Sorush der Fall ist. Öztürk macht soweit den Eindruck, von den traditionellen und zeitgenössischen Ansichten anderer Gelehrter des islamischen Jurisprudenz und dessen Theologie eklektizistisch für sich Passendes herausgesucht und eine neue Interpretation des islamischen Glaubens und Jurisprudenz befürwortet zu haben. Für Öztürks Kritiker ist einer der Hauptkritikpunkte ist seine auffällige Ferne zu Sunna. Hadith-Zitate sind in seinen Werken kaum anzutreffen und er etabliert einen direkten hermeneutischen Kontakt mit dem koranischen Text.3
In der Türkei gibt’s heute 4 Lager der Koranexegese, erklärt der Theologe Prof. Özsoy, von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main: Erstens, es gibt die säkularistischen Modernisten, die meinen, dass der Koran wortwörtlich und im ursprünglichen Sinne zu verstehen ist und dieses Verständnis vom Koran den Fortschritt des Landes hindere und der Islam auch rückständig und nicht reformierbar sei. Zweitens, sind es die konservativen Traditionalisten, die den Koran in ursprünglicher Bedeutung verstehen und meinen, dieses Verständnis sei überzeitlich gültig. Was die Frauen im Koran betrifft, so dürfe man mit Intension der Züchtigung beliebig schlagen. Wenn dieses Verständnis umgedeutet werde, nur deshalb, weil man sich vom Islam entfernt oder entfremdet habe. Drittens, eine Gruppe der eklektizistischen Reformisten, denen auch Öztürk gehört, stören sich an der ursprünglichen und traditionellen Auslegung der Schrift und finden, dass diese Auslegung mit den modernen Vorstellungen nicht in Einklang gebracht werden kann und sind in der Bemühung die bisherige Leseart um eine moderne Bedeutung zu erweitern. Viertens, die islamischen Modernisten verstehen den Wortlaut im traditionellen Sinne mit dem Unterschied, dass der Koran damals im 7. JH an die Araber adressiert war, die in der Zeit der Unwissenheit ihre Frauen schlugen, ja sogar ihre Besitzer waren, die über sie beliebig verfügten oder nach Laune töteten. In diesem sollte man z.B. den koranischen Vers 4:34 so verstehen, dass, bis es zu einem Schlagen kommt, sollten die vorigen Maßnahmen der Reihe nach durchgeführt werden.4
Öztürks Schwächen liegen darin, dass er eine echte Historisierung des Korans nicht für nötig hält, um dadurch zu einer wirklichen Neuinterpretation zu gelangen. Sich über den Wortsinn des Gottesworts hinwegzusetzen und es als an die damalige Zeit und den damaligen Kontext gebunden aufzufassen kommt für ihn nicht in Frage, weil dies einer Relativierung der überragenden Bedeutung des Korans gleichkäme. Spielraum für sein Koranverständnis schafft er sich dadurch, in dem er den größten Teil der Offenbarung als interpretationsbedürftig definiert und nur einen geringeren Teil davon als eindeutig. Eine weitere Schwäche Öztürks ist, dass er den Islam und die Muslime als Opfer des Westens bezichtigt. Seine apologetischen Anwendungen aus den wissenschaftlichen Exegesen (tafsīr ´ilmī) wie etwa, dass im Koran von einem Computer die Rede ist, in diesem Kontext zu verstehen.5
In dieser Arbeit werden zunächst im Hauptteil die Themen traditionell dargestellt; und in dem Zusammenhang wird zweitens die Öztürk‘sche Auslegung und sein Verständnis der Sachlage dargelegt, sodass man die Unterschiede oder mögliche Gemeinsamkeiten beider Parteien in Erfahrung bringen kann. Öztürk bezeichnet sich als einen kritischen Traditionellen, für die Mehrheit seiner Kritiker ist er aber ein Reformtheologe, der nur den Koran als legitime Quelle der Religion für sich beansprucht. Der Hauptteil der Arbeit (Kapitel 2 bis 4) behandelt zum einen die Primär- und Sekundärquellen der islamischen Jurisprudenz, indem zuerst die traditionelle Sicht behandelt und dargestellt wird, und im Nachfolgenden die Ansicht Öztürks anschließend dargelegt wird. Im Kapitel 3 werden einige Fallbespiele aufgeführt, die uns einen Einblick in die Religionsphilosophie Öztürks geben. Seine Ansichten in Glaubensfragen (´aqida) Einigkeit Gottes (tawḥid) und heimliche Beigesellung Gottes (riya) sind unter einer Kategorie im Kapitel 4 zusammengefasst.
2. Quellen des islamischen Rechts
2.1. Der Koran
Der heilige Koran ist die erste Primärquelle im islamischen Rechtssystem und das einzig vor Veränderungen geschützte Buch der Muslime, welches vom Gott durch den Engel Gabriel an den Gesandten Muhammad in 23 Jahren herabgesandt wurde. Er ist Gotteswort, niedergeschrieben auf Blättern zwischen zwei Deckel und belebt unsere Herzen. So lautet die traditionelle Beschreibung Korans, jedoch gab es schon immer Streit zwischen Kalām-Gelehrten.6 Der Koran ist die erste Quelle der rechtlichen Bestimmungen im Islam und ein normativer Maßstab sowie Kontrollinstanz der anderen Quellen der Šari´a. Der Koran gibt sich selbst Namen wie kitāb (Schrift), wobei die arabischen Wörter kitāb und qur´ān Synonyme für einander sind. Der Begriff Koran ist bekannt und weit verbreitet. Es besteht Konsens der sunnitischen Gelehrten, dass der Koran von Gott durch den Erzengel Gabriel auf seinen Gesandten stufenweise in Wortlaut und Sinngehalt herabgesandt wurde, dass Gott ein klares Arabisch spricht, und dass diese Offenbarung an die ganze Menschheit gerichtet und sie erreicht hat. Der Koran muss und darf im Gebet rezitiert werden (Waḥy matluw) im Gegensatz zu Hadiṯ.7 Denn Hadithe sind zwar Offenbarungen, sie werden aber im Gebet nicht rezitiert (Waḥy ġayr matluw). Wie wichtig eigentlich der Koran für Muslime ist, lässt sich daran messen, dass großer Wert auf die Rezitation und auswendig lernen der kurzen Suren durch die Kinder in der Koranschule gelegt wird.
Um den Koran den Menschen näher zu bringen und seine Ziele zu verdeutlichen, wurde er in unterschiedlicher Art und Weise gedeutet (Tafsīr). Nach dem Ableben des Propheten vermischte sich in die Exegese der Koranverse narrative Erzählungen (Israiliyat) aus dem Alten Testament (Tora o. Tawra) für die Zeit von `Ādam bis ´Īsā.8 In der wissenschaftlichen Exegese schließt sich Öztürk dem ägyptischen Theologen Muhammad Abduh an. Es wird zwar kein Prophet mehr kommen aber der Koran ist ein Buch, das die himmlische Botschaft für alle Zeiten in sich trägt. Daher wird jeden Tag – Parallel zu den Entwicklungen in der Technologie und Naturwissenschaften – ein neues seiner Geheimnisse gelüftet und eine neue Oase des Wissens entdeckt werden. Es liegt nicht daran, dass seine Sprache schwierig oder schwer verständlich ist, sondern am Mangel an Kenntnissen seiner Adressaten. Wenn ein Kind im Grundschulalter Algebra lernen soll, kommt Unbehagen auf. Es liegt nicht daran, dass Algebra schwer verständlich ist, sondern daran, dass das Kind nicht geeignet ist bzw. die Qualifikation noch nicht erreicht hat.9
Auch computergestützte Analyse Korans von Rašad Ḫalīfa findet bei Öztürk ihre Anwendung. Für ihn ist die Zahl 19 in Sura Muddaṯṯir die mathematische Kodierung Korans. Und der koranische Begriff Saqar steht nicht für eine Stufe der Hölle, sondern für die Elektrizität und lawwāḥa kommt von lawḥ, was Arabisch Tafel bedeutet. „Auf deren Tafeln befindet sich die 19 (Koran, 74:29)“. Daraus schließt Öztürk, dass es sich hier um Computer handelt.10 Ein weiterer Vertreter dieser Art von Exegese namens Ġawharī (gest. 1940) unternahm den Versuch, das gesamte natur- und sozialwissenschaftliche Wissen aus dem Koran herzuleiten. Oft handelt es sich bei diesen Wissenschaftlern nicht um Theologen, sondern um Menschen mit der entsprechenden Bildung ihrer eigentlichen Beschäftigung. Oft sind es Arbeiten aus apologetischen Motiven, um den Westen zu zeigen, wie fortschrittlich Islam eigentlich ist und um Jahrhunderte vorher das Patent auf die technischen Errungenschaften der Moderne besaß. Für die Vertreter der wissenschaftlichen Exegese sind die koranischen Anspielungen auf wissenschaftliche Erkenntnisse ein Beweis der Unnachahmlichkeit des Korans. Ein weiteres Beispiel für Öztürk ist die Sura Elefant, in der vom versteinerten Schlamm die Rede ist, die die Vögel auf das Heer von Abraha werfen und sie so vernichten. Öztürk zitiert ibn Isḥāq und ´Ikrima, die von dem ersten Auftreten der Blumenkrankeit (Poken)11 auf dem arabischen Boden berichten. Daraus schließt Muhammad Abduh - Öztürk schließt sich ihm an -, dass die Steine, die Vögel warfen eigentlich Viren symbolisieren. Das Thema auf diese Weise zu würdigen heißt weder den Ausführungen des Korans Gewalt anzutun, noch etwas an der Macht Gottes auszusetzen. Im Gegenteil führt diese Sichtweise zu einer der auffälligsten Wunder des Korans vor unsere Augen. Diese und ähnliche symbolische Ausdrücke des Korans gewinnen im Laufe der Zeit und mit der Weiterentwicklung der empirischen Wissenschaften an Klarheit, und es wird vor Augen geführt, welche Aufklärung und lebendige Kraft die göttliche Rede für die Zukunft bereithält.12
In Öztürks Leben nimmt Koran als einzige und unverzichtbare Rechtsquelle, anders als traditionstreuen Rechtsgelehrten, die neben Koran noch drei weitere Rechtsquellen anerkennen und bei Bedarf auch einsetzen. Weitere Rechtsquellen neben Koran sind: Sunna (prophetische Tradition), Iḡmā (Konsens) und Qiyās (Analogieschluss). Sunna ist für Öztürk zum Teil als Rechtsquelle einsetzbar, denn der Prophet ist seiner Meinung nach nur ein Mensch, und weil er ein Mensch ist, ist er auch fehlbar. So ist die Sunna bedingt als Rechtsquelle einsetzbar auch wegen der Kategorisierung der Hadithe in gesund, gut oder schwach bzw. erlogen. Und erst nach 200 Jahren nach dem Ableben des Propheten wurden sie gesammelt, womöglich die Überlieferungen nicht eins zu eins wiedergegeben werden könnten, und dadurch auch erlogene Hadiṯe sich unter denen befinden. Wie kann man unterscheiden, welcher Hadith wahr ist und welcher nicht. Aus diesem Grund wird er als Rechtsquelle bei Öztürk fehl am Platz sein und so war es auch. Aufgrund dessen war Öztürks Aufruf an die Muslime: „Zurück zum Koran!“ Denn nur der Koran hat den Attribut: „lā rayba fīhi“ (der Koran ist unbezweifelbar). Diese Unbezweifelbarkeit Korans wird von Öztürk immer wieder hervorgehoben und argumentativ untermauert. Auch, dass der Koran Gottes Wort ist und unter seinem persönlichen Schutz steht, hebt Öztürk in seinen Reden und Schriften hervor.13 Der Koran ist das einzige Buch in der Menschheitsgeschichte, welches in derselben Form bewahrt wurde, in der es herabgesandt wurde. Und er ist gleichzeitig auch das einzige Buch, welches durch die Epochen hindurch von Hunderttausenden bis Millionen von Menschen auswendig gelernt und rezitiert wurde.“14
Öztürk schildert grundsätzliche Argumentation für ein Primat des Korans und eine kritische Haltung in Umgang mit Hadithe. Der Prophet ist ein Übersetzer des Korans, der göttliche Anweisungen empfängt und diese durch Beispiele für die Menschen zu erschließen, und als der kompetenteste Mensch die Vorgaben der Offenbarung zu interpretieren. Hier muss auf einen Punkt hingewiesen werden: es ist ebenso gefährlich, die Propheten von der Ebene der Gesandten Gottes auf die Ebene der Teilhaber Gottes zu befördern, in dem man ihr Rederecht auf das Niveau eines Religionsstifters anhebt, wie es gefährlich ist, sie auf die Stufe eines neutralen Postboten zwischen Gott und seinem Diener herabzusetzen und damit zu gewöhnlichen Menschen zu degradieren. Beides wird Religion schaden. Nicht jedes Wort, nicht jede Tat oder Konvention, die dem Propheten zugeschrieben wird, ist in Wirklichkeit seine. Und die einzige verlässliche Quelle, um die tatsächliche Sunna von den Gefälschten zu unterscheiden, ist der sichere und zuverlässige Koran. Denn der Prophet hat nicht zugelassen, dass die Hadiṯe aufgezeichnet werden, und die beiden ersten rechtgeleiteten Kalifen haben diese Einstellung bewahrt. Erst nach 100 Jahren beginnt man Hadith-Material zu sammeln und nieder zu schreiben, damit auch die erfundenen Hadithe beizumischen. Anstelle des Islams, welcher auf Propheten herabgesandten Offenbarung gestützt ist, ist ein aus Sitten, Umdeutungen und Anpassungen bestehender Islam menschlicher Produktion entstanden.15
Die enorme Bedeutung des sinnlichen Erlebens des Korantextes von Nichtmuslimen allzu leicht übersehen oder unterschätzt. Diese Eigenschaft des Korans als gesprochener und gehörter Text bis heute immense Auswirkungen auf den Umgang mit ihm im Alltag der Muslime. Aufgrund der Bestimmung des Korans als Rezitationstext hat die Rezitation des Korantextes als eine Tradition der mündlichen Darbietung und Überlieferung stets eine zentrale Rolle im Leben der muslimischen Gesellschaft und der islamischen Frömmigkeit gespielt. Ein Indiz ist die Verfügbarkeit einer Menge an gern gekauften Aufnahmen guter Rezitationen auf modernen Tonträgern.16
Nach allgemein-muslimischer Auffassung ist der Koran Gottes Wort, das dem Propheten durch Engel Gabriel als Überbringer über einen Zeitraum in über 20 Jahren in einzelnen Abschnitten offenbart wurde. Diese Offenbarung ist zweitens die direkte Rede Gottes an die Menschen, mit ihr erfüllen sich alle vorangegangenen göttlichen Offenbarungen an die Menschheit, insbesondere Thora und Bibel. Im Gegensatz zu den beiden letzteren ist der Koran nach muslimischer Überzeugung unverfälscht überliefert worden und in seinem Wortlaut erhalten geblieben, was nicht zuletzt der mündlichen Überlieferung zu verdanken ist. Drittens spielt der Koran in der Reihe der anerkannten Quellen des Rechts und des Glaubens eine übergeordnete Rolle vor der Sunna des Propheten und dem Iḡmā (Gelehrtenkonsens) und Qiyās (Analogieschluss). Wie weitreichend diese Rolle des Korans ist, können Nichtmuslime kaum ermessen, da der islamische Religionsbegriff umfassender ist als der christliche und somit von der gesetzgeberischen Funktion des Korans weite Teile der Gesellschaft betroffen sind. Koran als Gesetzbuch ist nach islamischer Religionsauffassung die wichtigste Autorität, um nicht alle Fragen des Glaubens an Gott und des religiösen Ritus, sondern auch des sozialen Zusammenlebens zu regeln. Aus dieser Funktion ergibt sich ein Großteil der Probleme, mit denen sich die moderne Koranexegese konfrontiert sieht.17
Öztürk bestätigt den Status des Korans als Gottes Wort und spricht von göttlicher Rede.18 Gottes Wort steht unter seinem persönlichen Schutz. Das Dogma des Korans als höchste Rechtsquelle besitzt für Öztürk uneingeschränkte Gültigkeit. Öztürk sieht dieses Primat des Korans allerdings verletzt, oder absichtlich verdrängt. Parallel zu seiner Forderung nach einer Wiederbelebung der Rolle des Korans rügt Öztürk den falschen Umgang mit den anderen Quellen, insbesondere der Sunna, aber auch Iḡmā und Qiyās aufs heftigste. Diese seien nur Methoden der Menschen zum Verständnis der Religion, die fälschlicherweise mit dem Koran auf eine Stufe gestellt werden. Festzuhalten ist, dass Öztürk dem Grundsatz des Korans als höchster Rechtsquelle treu ist.19
2.2. Die Sunna
Die Begriffe Hadith und Sunna werden bei den Muslimen missverständlich als Synonyme benutzt. Sunna ist die Tradition des Propheten, das heißt seine Aussagen, seine Taten und Duldungen sind für islamische Gelehrsamkeit die Sunna. Es gibt Sunna, die gottesdienstliche Charaktere besitzt und welche, die zwischenmenschliche Angelegenheiten regeln sowie nicht verpflichtende Sunna, die lediglich einen Empfehlungscharakter besitzt. Hadith heißt im philologischen Sinne das Gesagte oder das Geschehene. Als Fachterminus bedeutet Hadith: ein Bericht darüber was der Prophet sagte, tat oder von seinen Gefährten stillschweigend duldete, wurde bis heute überliefert.
Was die Sunna als Rechtsquelle an zweiter Stelle nach dem Koran angeht, so belegen Hadithe die Notwendigkeit, dem Propheten zu gehorchen und ihm nachzufolgen. Diese bringen zum Ausdruck, dass die Hadithe wie der Koran zu befolgen sind und normative Quellen darstellen. Berühmt ist die Überlieferung, als der Prophet seinen Gefährten Muaḏ b. Ḡabal als Richter nach Jemen entsandte und vor der Reise ihn fragte, wie er denn zu richten gedenke. Muaḏ bekundete, mit dem Koran richten zu wollen, und wenn er da nichts zum Anliegen finde, so wolle er mit der Sunna des Propheten richten. Und selbst wenn auch da nichts Zutreffendes zu finden wäre, so stelle er sich vor mit seiner eigenen Ansicht (Iḡtihād bi r-Ra`y) richten zu wollen. Daraufhin klopfte Prophet zustimmend auf seine Brust und bekundete dadurch sein Einverständnis. Dieser derart bekannte Hadith wird als Beweis zur Legitimierung des Iḡtihād herangezogen. Die Notwendigkeit, bei nicht Vorliegen einer Bestimmung im Koran, nach der Sunna zu verfahren, bestärken, dass erst dann Iḡtihād geübt werden, wenn auch die Sunna keinen einschlägigen Beweis bietet.20
[...]
1 Vgl. Eith, Kathrin: Koranexegese bei Yasar Nuri Öztürk. Würzburg: Ergon, 2013, S. 16.
2 Vgl. Ebd., S. 18.
3 Vgl. Eith 2013, S. 19.
4 Vgl. Özsoy, Ömer: Koranhermeneutik als Diskussionsthema. Manuskript, 2004, S. 13.
5 Vgl. Eith 2013, S. 374.
6 Vgl. Cerrrahoğlu, İsmail: Tefsir Usulü. Ankara: TDV, 2013, S. 34.
7 Vgl. Krawietz, Birgit: Hierarchie der Rechtsquellen. Berlin: Duncker und Humboldt, 2002, S. 88 f.
8 Vgl. Cerrahoğlu 2013, S. 245.
9 Vgl. Eith 2013, S. 188 f.
10 Vgl. Ebd., S.190.
11 Vgl. Ebd. Auch Paret erwähnt die Pockendeutung in seinem Kommentar.
12 Vgl. Eith 2013, S. 191.
13 Vgl. Ebd., S. 182 f.
14 Vgl. Öztürk, Yasar Nuri: Islam in 400 Fragen. Düsseldorf: Grupello, 2001, S. 112.
15 Vgl. Eith 2013, S. 278 f.
16 Vgl. Ebd., S. 179 f.
17 Vgl. Eith 2013, S. 181 f.
18 Vgl. Öztürk, Yasar Nuri: Kuran’da ki Islam. Istanbul: Yeni Boyut, 2001, S. 55.
19 Vgl. Eith 2013, S. 184.
20 Vgl. Krawietz 2002, S. 126.