Nizâm-ı Cedîd. Die Reformen Sultan Selim III. (1789-1807)


Fachbuch, 1998

156 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Quellenbesprechung
2.1. Primärquellen
2.2 Sekundärquellen
2.3. Forschungsstand

3. Forschungsstand
3.1. Die Lage des osmanischen Reichs vor der Krönung Selīm III.
3.2. Die osmanische Gesellschaft
3.2.1. Die ʻʻIlmiyye
3.2.2. Die Seyfiyye
a) Der Verwaltungsapparat
b) Die Janitscharen
c) Die Sipahis
3.2.3. Die Reaya
3.2.4. Handel

4. Die Probleme des osmanischen Reichs zu der Zeit Selīm III.
4.1. ʻAyān-i beled
4.2. Dynastien und autonome Gebiete

5. Die Regierungszeit Selīm III.
5.1. Die Kindheit und Jugend Selīm III.

6. Die Reformen vor Selīm III.

7. Die Reformen Selīm III.
7.1. Reformvorstellungen Selīm III.
a) Koca Yūsuf Pascha
b) Tātārciḳzade ʻAbd-Allāh Molla Efendi
c) Çavuşbaşi Meḥmed Raşid Efendi
d) Defterdar Şerif Efendi
e) Reis al Küttab ʻAbd-Allāh Birri Efendi
f) Ketḫuda Muṣṭafā Reşid Efendi
g) Der frühere Ketḫudā Ali Rasih Efendi
h) Der “große Mevali (Mevali-i azam)” Salihzade
i) Mabeynci Muṣṭafā Bekefendi
k) Muhasebeci-i evvel Haci Ibrahim Efendi
7.2. Reformprogramm Selīm III.
a) Vorbereitungen
7.3. Militärische Reformen
7.3.1. Reformen in der Artillerie
a) Die Ordnung der Kanoniere (Ṭopcu)
b) Die Ordnung der Grenadiere (Ḫumbaraci)
c) Die Ordnung der Sprengerkompanie (Laġimci)
d) Die Ordnung der Wagner
e) Gesetzgebungen für die Festungen am Bosporus von 1795
1. Die Gesetzgebung der sieben Festungen an den Meerengen vom Bosporus
2. Die Festungen des Bostancibaşi
7.3.2. Die Janitscharen
7.3.3 Der Korps der Kavallerie (Sipahiyan)
7.3.4. Die Nizām -i Cedīd Armee
7.3.5. Die neue Kasse (ʼĪrād-i Cedīd)
7.4. Die Ordnung der Pulverfabriken
7.5. Technische Reformen
a) Kanonen und Gewehre
7.6. Die Technischen Schulen
7.7. Reformen in der Marine
a) Zustand der Marine vor Selīm III.
b) Marinereformen nach Çeşme
c) Wiederbeleben des osmanischen Schiffbaus
d) Ausländische Schiffsbauer
e) Technische Änderungen in der Marine
f) Änderungen in der Marineingenieursschule
g) Reorganisation in der Marine 1804
h) Administrative Geschäfte

8.1. Die Botschafter
8.2. Gesetze für die Botschaftsübersetzer
8.3. Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den westeuropäischen Staaten
8.4. Neue Verordnungen in der Jurisdiktion
8.5. Die Regulierung für die Reaya
8.6. Administrative Änderungen

9. Fazit

Anlagen
1. Ḫumbaraci ḳanunnamesinin hulasa-ʼi mevaddi mündericesi Die Kurzfassung der Gesetzgebung für die Grenadiere
2. Laġimci ḳanunnamesinin hulasa-ʼi mevaddi Die Kurzfassung der Artikel der Gesetzgebung der Mineure
3. Ṭopcu ḳanunnamesiniñ hulasa-ʼi mevaddi Die Kurzfassung der Gesetzgebung der Artillerie
4. Levend çiftliki ḳanunnamesinin hulasa-ʼi vecihle sureti Die Kurzfassung der Gesetzgebung des Landgutes von Levend

Tabellen

Literaturverzeichnis
1. Primärquellen
2. Sekundärquellen
3. Moderne Darstellungen
4. Aufsätze
5. Hilfsmittel
6. Abkürzungen

Bidernachweis

Hinweise zur Transkription

Personenregister

I. Einleitung

Am 24.12.1761 wird der lang ersehnte Kronprinz des Hauses Osman geboren. Seit 40 Jahren wurde kein Thronfolger mehr im Palast geboren. Sultan Muṣṭafā III. (1757-1774) ließ die Geburt seines Sohnes Selīm eine Woche lang feiern. Der Hofastrologe des Sultans, Yaʻḳūb Efendi sagte vor der Geburt des Prinzen, dass bei seiner Geburt die Sternenkonstellationen so gutstehen, sodass der Neugeborene Prinz in der Zukunft ein sehr starker Sultan für das osmanische Reich sein wird und die Feinde des Reiches besiegen wird1. Jedoch verschwieg der Hofarzt, der von der Vorhersehung des Hofastrologen wusste, dass er bei der Geburt des Prinzen die Uhr um ein paar Sekunden umgestellt hatte.2 Prinz Selīm wuchs mit diesem Selbstbewusstsein auf. Er glaubte tatsächlich, dass er der Auserwählte sei, der das osmanische Reich wieder zur alten Stärke führen und die Feinde besiegen würde, wenn er nach dem Ableben seines Onkels ʻAbd al-Ḥamīd I. (1774-1789) an die Macht kommt.

Der lange ersehnte Tag kam unerwartet am 07. April 1789 während des osmanisch-russisch-österreichischen Krieges starb ʻAbd al-Ḥamīd I..

Selīm III. bestieg 1789 im Jahr der Französischen Revolution, den Osmanischen Thron mit dem Anspruch, sein Reich wieder an die alten glanzvollen Tage seiner Ahnen zu führen. Als Mittel der Stärkung des Reichs dachte Selīm an Reformen, welche in allen Bereichen des Staates durchgeführt werden sollten. Die Reformen wurden als „Niẓām-i Cedīd“ (Neue Ordnung) bezeichnet. Als erstes Ziel nahm er sich vor, das militärische System des osmanischen Reichs zu ändern. So wie er dachten auch die führenden Persönlichkeiten des Staates. Das Militär muss gänzlich umstrukturiert werden, denn das alte System diente seinem Zweck, den feindlich gesinnten europäischen Nachbarn zu überwinden, nicht mehr. Die Janitscharen, die schlagkräftigste Truppe der Osmanen, wurden nicht mehr von den europäischen Nachbarn gefürchtet. Noch 200 Jahre davor waren sie unter der Herrschaft Selīm I. (1509-1518) und Süleymān des Prächtigen (1519-1568) der Schrecken dieser Nachbarn. Süleymān der Prächtige ließ Gesetze zur Disziplin und Organisation der Janitscharen erlassen. Nach seinem Tod versuchten die Janitscharen diese Gesetze zu umgehen. Unter den Gesetzen waren zwei Bestimmungen, die unter Strafe und Ausschluss aus den Reihen der Janitscharen standen. Der Sultan sah die Janitscharen, die die Kinder von nichtmuslimischen Untertanen waren als seine persönlichen Sklaven (ḳūl) an.3 Zum einem durften die Janitscharen bis zu ihrer Pensionierung nicht verheiratet sein, zum anderen während der aktiven Militärzeit keinen anderen Beruf ausüben. Mit fortschreitender Zeit wurde es aber zur Regel, die Bestimmungen zu verletzen. Ein weiterer Aspekt des Verfalls der Janitscharentruppen ist der, dass sich seit dem 17. Jh. zusehends mehr Türken in die Liste der Janitscharen einschreiben ließen, obwohl diese Truppen nur für christliche Kinder bestimmt waren. Die Türken achteten nicht mehr auf die Janitscharenbestimmungen Süleyman des Prächtigen.

In meiner Arbeit werde ich mich mit diesen Reformen der Niẓām i Cedīd beschäftigen.

Zuerst werde ich die Primär- und Sekundärquellen, die moderne Literatur und den Forschungsstand zum Thema darstellen.

Um ein besseres Verständnis zum Thema zu bekommen, werde ich die Gesellschaft des osmanischen Reiches kurz umreißen. Die Reformversuche vor Sultan Selīm III. beschreiben. Die Reformvorschläge seiner Vertrauten, die an ihn gerichtet worden sind, darstellen. Die sozioökonomischen- und politischen Reformversuche werde ich im historischen Kontext darstellen. Einige Gesetze Selīm III. werde ich im Anhang von alttürkischen ins deutsche übersetzen. Zum Schluss werde ich ein Fazit darstellen und zu erklären versuchen, warum die Reformen von Selīm III. scheiterten.

2. Quellenbesprechung

2.1. Primärquellen

Die Geschichte Sultan Selīm III. wird ausführlich von dem Hofchronisten Ismāʻīl ʻĀṣim Efendi, in seiner zweibändigen Chronik ʻĀṣim Tāriḫi beschrieben.4 Der Inhalt des Werkes fängt mit der Krönung Selīms an und endet mit dessen Ermordung. ʻĀṣim Efendi schreibt ausführlich über die militärischen Reformen der Niẓām-i Cedīd, aber es mangelt an der Beschreibung anderer Reformversuche. Muṣṭafā Necīb Efendi ist ein weiterer Zeitgenosse Selīm III., hat ebenfalls am Hofe Selīms gedient5. Necīb Efendi berichtet ausführlich über den Aufstand der Yamaḳs6 in Istanbul unter der Führung des Kabakci Muṣṭafā Aġas und den Vorfällen der Jahre 1806 und 1807 die zum Sturz und Tod Selīms führten. Des Weiteren beschäftigt sich Necīb Efendi mit der Biografie der bei dem Aufstand der Yamaḳs proskribierten Männer, die zum engsten Anhängerkreis Selīms gehörten, sowie deren Stellung am Hofe. Erwähnung finden auch die Reformvorschläge führender osmanischer Persönlichkeiten von 1792 und die Ziele der Niẓām-i Cedīd. Muṣṭafā Necīb Efendi versteht die “Neue Ordnung” auch wie IsmāʻīlʻĀṣim Efendi ausschließlich im militärischen Kontext.

Eine weitere zeitgenössische Quelle ist das Werk des Tüfenkcibaşi ʿĀrif Efendis.7 ʿĀrif Efendi behandelt ebenfalls wie Necīb Efendi als Hauptthema den Aufstand der Yamaḳs. Der Autor bezieht jedoch die Hintergründe der Entthronung Selīm III. und die Drahtzieher nicht mit ein, so dass sich kein historisches Gesamtbild des Aufstandes ergibt.

Im Tagebuch des Geheimsekretärs Selīm III., Aḥmed Efendi8, welches von 1791 bis 1797 reicht, erfährt der Leser Einzelheiten über das Privatleben des Sultans, aber keine Information über die Reformen und Reformversuche. Es befindet sich keine Passage im Text, wo die Niẓām-i Cedīd direkt erwähnt wird. Der Geheimsekretär verliert mit fortschreitender Zeit seine anfängliche Mitteilungslust. Zum Ende des Buches hin überspringt er sehr lange Zeitspannen.

Meine Hauptquellen zu den Reformen Selīm III. sind die in zwei Bänden von Enver Ziya Karal veröffentlichten kaiserlichen Erlasse. Band eins, beinhaltet allgemeine Erlasse. Band zwei bezieht sich speziell auf die Erlasse, die die Niẓām-i Cedīd betreffen.9 Der Leser lernt durch die Erlasse die Möglichkeit den Sultan und sein Reformwerk näher kennen. Die Reformvorschläge, die der Sultan von seinem ihm nahestehenden Untergebenen 1792 verlangte, sind ebenfalls von Karal herausgegeben worden.10 In dieser Quelle sind die einzelnen Reformvorschläge der führenden Persönlichkeiten des osmanischen Reichs in Kurzform zusammengefasst worden. Die Vorschläge beziehen sich vorrangig auf militärische Reformen, aber einige Autoren machen sich auch Gedanken über die wirtschaftliche Lage des Reichs und der Gründung einer neuen Kasse für die Finanzierung der Niẓām-i Cedīd. Die Vorschläge können wir in drei Kategorien einteilen.

1. Die Wiederherstellung der frühen Ordnung der Janitscharen, wie zu der Zeit Sultan Süleyman des Prächtigen.
2. Die Neugründung eines Heeres mit der Beibehaltung der Janitscharen.
3. Die Neugründung eines Heeres und die gleichzeitige Abschaffung der Janitscharen.

Wie sich die Beziehung zwischen Selīm in seiner Prinzenzeit und dem französischen König Ludwig XVI. gestaltete, erfahren wir aus deren Briefwechsel, welche von Uzunçarşili und Tahsin Öz unabhängig voneinander veröffentlicht wurden.11

Für die Zeit nach 1800 und die Beziehung zu Frankreich sind Briefwechsel vorhanden, welche zwischen der Hohen Pforte und den Botschaftern in Paris, Moralī ʿAlī Efendi und später Ḥālet Efendi, geführt wurden. Hier sind auch einige Briefe Napoleon Bonapartes zu finden, die an Selīm III. gerichtet sind.12

2.2. Sekundärquellen

Die umfangreichste Sekundärquelle zur Geschichte Selīm III. und seiner „Neuen Ordnung“ stellt das 10-bändige Werk des berühmten osmanischen Gelehrten und Staatsmannes Aḥmed Cevdet Pascha dar.13 Das Tāriḫ-i Cevdet umfaßt den Zeitraum von 1774-1825.

Die Bände 5-9 beinhalten die Biografie und Geschichte der Zeit Selīm III.. Im Gegensatz zu den Primärquellen ist das Tāriḫ-i Cevdet umfassender, informativer und führt zu präziseren Schlussfolgerungen. Aḥmed Cevdet Pascha hat sein Werk als Hofchronist geschrieben, d.h.; obwohl er präziser in seinen Ergebnissen ist, argumentiert er affirmativ zur offiziellen Geschichte des osmanischen Reichs. Er versteht sich als loyalen Gefolgsmann der osmanischen Dynastie. Da bietet uns Aḥmed Rasim eine andere historische Perspektive,14 in dem er die Reformen von Selīm III. kritisch behandelt. Er vergleicht sie mit der kontemporären Französischen Revolution und kommt zu dem Ergebnis, dass Selīm III. ein Despot ist., und schlußfolgernd daraus, dass der Staat zwangsläufig despotisch sein muss. Aḥmed Rasim meint, dass Selīm III. die Reformen nicht wünschte, sondern nur zu dem Zweck der Selbsterhaltung der osmanischen Dynastie durchgeführt werden sollten, was letzlich nicht durchgeführt werden konnte.

Es ist offensichtlich, dass der Autor an die Vorstellung der Jungtürken knüpft und als Ideal des politischen Regimes an die konstitutionelle Monarchie und Demokratie denkt, welches er in der Zeit Selīms natürlich nicht findet. In einem weiteren Werk versucht Aḥmed Rasim15 dem Leser verständlich zu machen, dass das Osmanische Reich in der Zeit von Selīm III. nicht mehr agiert, sondern auf die Aktionen der anderen europäischen Großmächte so gut es geht, reagiert. Aḥmed Rasim erzählt die Osmanische Geschichte zusammenhängend mit der europäischen Geschichte.

Eine weitere Sekundärquelle finden wir in „Ḳabaḳci Muṣṭafā” die von Aḥmed Refiḳ verfaßt wurde.16 Der Autor verflucht regelrecht die ʻUlemāʼ und die Janitscharen als deren Handlanger. Er macht sogar Schluss mit der als Glanzzeit der Janitscharen bekannten Epoche unter der Regentschaft von Selīm I. und Süleyman dem Prächtigen. Er betont, dass die Janitscharen immer zu Aufständen gegen den Sultan bereit waren, sobald sie ihren Sold nicht bekamen oder ihnen aus einem Kriegszug kein Gewinn zugesprochen wurde. Aḥmed Refiḳ stellt die These auf, wonach die Janitscharen immer nur dem Gold treu waren, aber nie dem Sultan.

Der deutsche Orientalist Zinkeisen gibt die osmanische Geschichte aus diplomatischen Akten wieder und bezieht sich hauptsächlich auf die Depeschen des preußischen Gesandten Diez in Istanbul.17 Zu den Sekundärquellen können wir noch das Werk des rumänischen Orientalisten Iorga zählen.18 Iorga erkennt die Niẓām-i Cedīd auch nur strickt als Militärreform an.

Die kontemporären Quellen erkennen die Niẓām-i Cedīd als Mittel zum Zweck, d.h.: Die Reformen wurden zu keinem anderen Zweck als der militärischen Stärkung gemacht. Im Gegensatz dazu können wir bei Aḥmed Cevdet Pascha sehen, dass die Reformen nicht nur für militärische Belange gedacht waren, sondern auch für andere Bereiche des Staates Geltung haben sollten.

3. Forschungsstand

Die türkischen Historiker Ende des 19. Jh. Anfang des 20. Jh. wie Aḥmed Cevdet Pascha und Aḥmed Rasim bringen das Ergebnis hervor, dass Selīm III. zwar reformwillig, aber zu schwach war, die angestrebten Reformen durchzusetzen. Außerdem fehlte ihm jegliche Unterstützung für sein Reformwerk. Vom Charakter ähnelte Selīm III. eher einen schöngeistigen Musiker als einem Herrscher. Er war verspielt und verträumt. Er hatte kein Bezug zur Realität.

In der Geschichtserklärung der türkischen Republik, besonders vertreten durch E.Z.Karal fungiert Selīm III. als ein Nationalheld, der wegen seiner patriotischen Gesinnung Thron und Leben verliert.

Die neueste Forschungsarbeit über Selīm III. und seine Zeit ist von S. J. Shaw. in seinem großen Werk „Between Old and New” geht er einzeln auf die Themen ein. Shaw bietet eine sehr sorgfältige Untersuchung mit einem großen Quellen- und Literaturapparat. Aber ein deutliches Urteil über Selīm III. fällt er im ersten Band seines zweibändigen Werkes über die osmanische Geschichte „Ottoman History” mit seiner Co Autorin Ezel Kural Shaw.19 Seiner Meinung nach, war Selīm ein Kind seiner Zeit. Die „Neue Ordnung”, und die militärischen Erneuerungen habe er nur gemacht, um eine neue Leibgarde zum Schutz der eigenen Person aufzustellen.20 Die anderen Reformen werden als „Fenster zum Westen” bezeichnet, damit meint Shaw, dass Selīm III. der erste osmanische Herrscher war, der Europa mit einer neuen Perspektive betrachtete. Die Niẓām-i Cedīd Armee war für seine Zeit ein großer Fehler. Für die Modernisten und Reformer im osmanischen Reich war der beste Zustand das 15. und 16 Jh. Sie haben nicht verstanden, wie viel Fortschritte Europa gemacht hatte.

Mit der Niẓām-i Cedīd kam das erste Aufwachen und die Erkenntnis der Realität der modernen Welt. Die Niẓām-i Cedīd, ist ein neuer Reformkonzept, das Erschaffen neuer Institutionen und Praxis, direkt vom Westen übernommen. Anstelle der alten ererbten.

“All Selīm's reforms, even the Niẓām-i Cedit, followed patterns of reform developed prior to the establishment of sustained and regular contacts with Europe. They were traditional Ottoman responses to the needs of the time […] that European ideas took no root at this time, but only left the seeds for a real flowering that came later.”21

“Selīm was a true heir of the eighteenth-century Ottoman reformers in devoting most of his attention and energy to the military. Neither he nor his advisers understood how much Europe's technological reforms were products of the social, economic, and political revolutions that had been going on since the Reformation. There were no general efforts at governmental, economic, or social modernization, only piecemeal attempts to meet the old problems in the old ways.”22

2.1. Die Lage des osmanischen Reichs vor der Krönung Selīm III.

Das osmanische Reich galt bis zur zweiten Belagerung Wiens (1683) bei seinen Nachbarn als unbesiegbar. Erst nach dieser mißlungenen Belagerung Wiens unter dem Oberbefehl des Großwesirs Merzifonlu Kara Muṣṭafā Pascha wurde den Europäern deutlich, dass das osmanische Reich nicht mehr wie früher die militärische Überlegenheit hatte. die Erzrivalen der Osmanen in Südosteuropa die Habsburger eroberten mit Hilfe Polens und Venedig 1684 Ungarn und Siebenbürgen. Die Venezianer setzten sich im Archepelogos fest. Hier muss die Frage gestellt werden, wie es zu dieser erheblichen militärischen Schwäche der Osmanen kommen konnte. 1729 gelangten die Osmanen wieder in den Besitz des Archepelagos und Belgrads, aber das war das letzte Mal, dass die Osmanen sich in Europa militärisch durchsetzen konnten. Nach dem Belgrader Friedensschluss folgte für die Osmanen eine Friedensperiode von 40 Jahren und an der iranischen Front erfreuten sie sich einer gleichzeitigen Friedensperiode von 30 Jahren.

1768 endete diese friedliche Zeit für die Osmanen abrupt. Die Einmischung Katherina II. in die Königswahlen in Polen verleitete Sultan Muṣṭafā III. zum Protest gegen die Einmischung Russlands. Er glaubte noch an die Großmachtstellung seines Imperiums, dass seine Truppen in der Lage wären sich durchsetzen zu können, und erklärte Katharina der Großen den Krieg. Muṣṭafā III. stürzte sein Reich unüberlegt Hals über Kopf in den Krieg. Das osmanische Reich hatte wegen der langen Friedensperiode keine kriegserfahrenen Truppen und Offiziere mehr, geschweige denn charismatische Heeresführer, die den Krieg noch in seinem unglück- lichen Verlauf für die Osmanen ändern konnten. Die einzige Gegenstimme gegen den Krieg kam von Aḥmed ʻAzmī Efendi, der später die undankbare Aufgabe hatte, den Friedensabkommen mit den Russen zu besprechen. Das Ergebnis war, dass die Osmanen nicht nur den Krieg und ihre Flotte in Çeşme verloren (07.07.1770), sondern auch zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein von Muslimen bewohntes Gebiet, die Krim verloren (1771). Im Frieden von Kaynarca diktierte die Zarin die Unabhängigkeit der Krim. Desweiteren verlangte sie eine hohe Kriegsentschädigung, wodurch die osmanische Staatskasse arg ausgebeutet wurde. Der Verursacher des Krieges Muṣṭafā III. starb noch im Verlauf des Krieges. Die Quellen behaupten, dass er bei der Nachricht des Verlustes der Krim ein Schlaganfall bekam, von dem er sich nicht mehr erholen konnte. Die Folgen waren jedoch tiefgreifender als der Verlust der Krim. Das osmanische Reich war nicht mehr imstande sich allein gegen eine europäische Großmacht ebenbürtig zu zeigen, es konnte sich nicht mehr verteidigen. Der neue Sultan ʻAbd al-Ḥamīd I., der der neue weltliche - und geistliche Führer der Osmanen wurde, bekam als Oberhaupt (Kalif) der sunnitischen Muslime, das Recht der geistlichen Führung der Krimtataren im Vertrag von Küçük Kaynarca (1774) zugesprochen. Der Name des Sultans durfte in der Freitagspredigt (hutba) erwähnt werden. Er wurde gewissermaßen zum Schutzpatron der Krimtataren.

« […] Quant aux cérémoniesde religion comme les Tartares

- Professent le même culte que les Musulmans, et que S. M. le Sultan
- est regardé comme le souverain Calife de la religion mahométane,
- ils se conduiront à son égard comme il est prescrit par les préceptes
- de leur loi, sans cependant compromettre par là leur liberté politique
- et civile, telle qu'elle vient d'être établia L'Empire de Russie rend à la
- dite nation Tartare [… ] »23

Die Ernennung des Khan der Krimtataren wurde ihm auch zugesprochen. Aber der russische Zar/in durfte im Gegenzug dazu als Beschützer der orthodoxen Christen, im osmanischen Reich, fungieren. Ein weiterer Artikel des Abkommens von Kücükkaynarca war, dass der osmanische Sultan die Fürsten der Walachei und Moldau nur mit der Zustimmung des russischen Zaren ernennen durfte. Bei diesen beiden Punkten war das osmanische Reich immer angreifbar durch die Russen.

Im Jahr 1783 ging Katharina die Große mit ihren Forderungen noch weiter. Sie annektierte die Krim und traf sich in Cherson mit dem Kaiser Josef II., wo sie ihre Pläne austauschten. Katharina dachte an die Eroberung Istanbuls und die Neugründung des byzantinischen Reichs, dessen Kaiser ihr Enkelsohn Konstantin werden sollte. Kaiser Josef II. war nicht minder begeistert von der Teilungsidee Katharinas. Er beanspruchte für sich Moldawien, die

Walachei sowie Serbien, Kroatien und Bosnien - Herzegowina.24

Noch hundert Jahre zuvor wollten die Osmanen den „goldenen Apfel“ (Wien) erobern, nun mussten sie muslimischen Boden aus der Hand geben. Das wollten die intellektuellen Führer des osmanischen Reichs nicht ohne weiteres hinnehmen. Sie ersannen Rache für den Verlust der Krim. Aber die Großwesire wie Darendeli Meḥmed Pascha und Ḫalil Ḥamīd Pascha, die zwar derselben Überzeugung wie die ʻUlemāʼ waren, sahen die Zeit für ein Rachefeldzug gegen das Reich der Zarin noch nicht gekommen. Anstatt kopflos den Russen den Krieg zu erklären, bemühte sich Ḫalil Ḥamīd Pascha besonnen das osmanische Heer zu reformieren, und die leere Staatskasse zu füllen. Er nahm die Annexion der Krim für das Erste in Kauf und bestätigte die Einverleibung dessen durch Russland. 1785 wurde Ḫalil Ḥamid Pascha durch die Intrigen des einflussreichen Aḥmed Bey und dessen Sohn Seliīm Bey, dem Ehemann einer Tochter des ʻAbd al-Ḥamīd I., sowie Esma Sultan eine Schwester Abd- al Ḥamid I. und des Kaputan-i derya Palabiyik Cezayirli Ġazi Ḥasan Pascha 25 entmachtet. Sie diskreditierten den Großwesir beim Sultan, insofern dass er sich mit dem im Kafes befindenden Şehzade (Prinzen) Selīm insgeheim gegen ʻAbd-al Ḥamīd verschworen habe solle, damit er seine Pläne durchsetzen könne. Ḫalil Ḥamīd Pascha wurde hingerichtet und Selīm büßte seine ohnehin eingeschränkte Freiheit ein.

Der neue Großwesir Koca Yūsuf Pascha ein Zögling des Ġazi Ḥasan Pascha war ein unerschütterlicher, hartnäckiger Mensch. Ohne die Reformen des Ḫalil Ḥamīd Pascha zu vollenden, nur auf die eigene Energie und der Macht des Ziehvaters vertrauend, erklärte er im August 1787 Russland den Krieg. Diesmal war zwar das osmanische Heer besser organisiert als im letzten Krieg, aber die osmanischen Kriegsbefürworter rechneten nicht damit, dass Österreich aktive Hilfe an Russland leisten würde. Das osmanische Heer musste ein Zweifrontenkrieg führen. Gegen Österreich in Serbien und der Walachei, gegen Russland in Moldawien und im Kaukasusgebiet. Am Anfang des Krieges mussten Österreich und Russland Niederlagen hinnehmen. Sie wussten sich aber im Verlauf des Krieges gegen die Osmanen durchzusetzen. Die Österreicher drangen in Serbien, nahmen Belgrad ein und drangen in die Walachei ein und annektierten Bukarest.

Es ist den internen Schwierigkeiten zu verdanken, dass die verbündeten Mächte sich nicht so gegen die Osmanen durchsetzen konnten, wie sie es wollten. Österreich hatte in Folge der Französischen Revolution Schwierigkeiten die Aufstände in Belgien unter Kontrolle zu halten. Russland hatte finanzielle Probleme, um den Krieg fortzuführen. Außerdem wäre es nicht mehr einfach gewesen sich gegen das osmanische Reich ohne hohe Verluste durchzusetzen, da Josef II. wegen innenpolitischen Unruhen und der preußischen Bedrängnis kein Interesse mehr hatte, den Krieg fortzuführen, wollte er so schnell wie möglich Friedensverhandlungen.

Der neue Sultan, Selīm III., freute sich über das Waffenstillstandsabkommen von Reichenbach und dem anschließenden Friedensvertrag mit Österreich in Ziştovi,26 der durch den Druck des preußischen Königs Friedrich-Wilhelm quasi erzwungen wurde.27 Er kam an der Spitze von 100.000 Mann an die österreichische Grenze und nötigte Josef II. zum Waffenstillstand.

England, Spanien und Holland vermittelten zwischen den beiden Kriegsparteien in Reichen- bach. Österreich akzeptierte den Status quo ante bellum und gab alle annektierten Gebiete wieder zurück, außer Bukarest, mit der Begründung, die Stadt erst nach dem Kriegsende gegen Russland zurückzugeben.

Selīm III. stellte sich vor, nach diesem Friedensvertrag, sich Vorteile gegenüber Russland verschafft zu haben. Er verließ sich auf den Vertrag mit Preußen und wollte seinerseits bei Vertragseinhaltung Friedrich Wilhelms Preußen Vorteile in Polen zusprechen. Einen zweiten Vertragspartner hatte er in dem schwedischen König Gustav III.. Der schwedische König wollte die an Russland verlorene finnische Besitzung zurückgewinnen. Beide Staaten einigten sich am 11.7.1789 auf einen Vertrag,28 wo der eine ohne die Zustimmung des anderen kein Waffenstillstand oder Friedensvertrag mit Russland abschließen durfte. Selīm III. versprach, Gustav III. 20.000 Beutel Aspern, 2.000 Beutel sollte der schwedische Botschafter in Istanbul jährlich in Empfang nehmen. Diese 2.000 Beutel sollten wiederum vierteljährlich zu je 500 Beutel ausgehändigt werden.29 In der schwedisch-russischen Auseinandersetzung gab es keinen eindeutigen Überlegenen, so dass Gustav III. bald des Krieges überdrüssig wurde. Die Osmanen verloren in Gustav III. den Verbündeten gegen Russland. Auf Preußen konnten sie sich nicht verlassen, ob sie gegen Russland zum Kriegsfeld ziehen würden oder nicht. Friedrich Wilhelm wollte seinerseits zwar einen Friedensvertrag zu Gunsten der Osmanen oder gar selbst vermittelnd mitwirken, aber beim Kriegsgeschehen mit seinen Truppen nicht persönlich teilnehmen. Selīm III. dachte auch an einen Friedensvertrag mit Russland aber nicht ohne einen abschließenden Sieg seiner Truppen, welcher die Friedenskonditionen zu Gunsten der Osmanen ermöglicht hätte.

Die Pläne von Selīm III., dass einerseits Krieg und andererseits Friedensverhandlungen stattfinden sollten, scheiterten. Die Osmanen begannen unter der Führung des Hofchronisten Vasif Efendi die Friedensgespräche mit den Russen zu führen. Sie nahmen die Friedensangebote des russischen Delegationschef General Ripnin an.

Diese sind: 1) Der Friedensvertrag von Kaynarca soll bestätigt werden.
2) Moldawien und Walachei sollen mit besonderen Status an die Hohe Pforte zurückgegeben werden.
3) Der Fluss Turla (Dnyester) soll als Grenze zwischen beiden Imperien bestätigt werden.

Der Frieden wurde am 09.01.1792 in Jassy paraphiert.30 Selīm III. sowie seine Gegenspieler Leopold II. und Katharina die Große waren mit diesem Kriegsergebnis zufrieden. Die Osmanen verloren kein Boden und mussten keine Kriegsentschädigung leisten, aber sie mussten endgültig die Hoffnung auf die Rückeroberung der Krim aufgeben. Was die verbündeten Mächte Österreich und Russland anbelangt, so mussten sie die Erfahrung machen, dass das osmanische Reich zwar schwach geworden war, aber sich erstaunlicherweise immer noch zu wehren wusste. Aber interessanter war die neue politische Qualität, die Selīm für die Existenz seines Reichs gefunden hat, nämlich Allianzen mit anderen europäischen Staaten einzugehen, was seine Vorgänger aus Stolz und religiösen Gründen nicht gemacht hatten.

Hier muss die Frage gestellt werden, warum das osmanische Reich so schwach geworden ist.

Um die Frage beantworten zu können, müssen wir einzelne Bereiche des Staates untersuchen.

3.2. Die osmanische Gesellschaft

Die Gesellschaftsstruktur im osmanischen Reich bestand aus drei Klassen.

1. Der ʻIlmiyye: Die Klasse der geistlichen Führer
2. Die Seyfiyye: Die Klasse der weltlichen Führer
3. Die Reaya: Die produzierende Klasse

3.2.1. Die ʻIlmiyye

Das osmanische Reich war ein theokratischer Staat. Die Gesetze des Korans und mit ihr die Scharia31 mussten befolgt werden. Der Sultan musste sich der Rechtsprechung des Islams fügen. Er hatte auch Kompetenzen beschränkte weltliche Gesetze zu erlassen. Seit der Eroberung Ägyptens (1517) durch Selīm I. wurden die osmanischen Herrscher auch als Kalifen bestätigt, d.h. sie wurden auch zu geistlichen Führern der sunnitischen Muslime. Ihre Macht schien unumschränkt zu sein. Jedoch mussten sie als weltliche und geistliche Herrscher ihre Kompetenzen teilen. In weltlichen Angelegenheiten überließen sie die Regierung den Wesiren, die aus der Klasse der Seyfiyye kamen. Der Großwesir war der Eroberung Ägyptens (1517) durch Selīm I. wurden die osmanischen Herrscher auch als Kalifen bestätigt, d.h. sie wurden auch zu geistlichen Führern der sunnitischen Muslime. Ihre Macht schien unumschränkt zu sein. Jedoch mussten sie als weltliche und geistliche Herrscher ihre Kompetenzen teilen. In weltlichen Angelegenheiten überließen sie die Regierung den Wesiren, die aus der Klasse der Seyfiyye kamen. Der Großwesir war der „alter ego” des Sultans. Die geistlichen Aufgaben erledigte der Şeyḫ-al Islām, der aus Klasse der ʻIlmiyye kam. Der Şeyḫ-al Islām stellte Gutachten (fetva) aus.

Der Sultan konnte beide Amtsträger theoretisch jederzeit entlassen. Aber der Şeyh-al Islam konnte seinerseits, wenn er starke Verbündete finden konnte, am ehesten in der Zusammenarbeit mit dem Großwesir, den Sultan durch eine Fetva seiner Macht entheben. Das konnte ein selbstbewusster Şeyh-al Islam durchaus machen, denn die ʻIlmiyye war die führende intellektuelle und geistliche Gewalt im Osmanischen Reich. Ihre Macht war und ist heute immer noch in einigen Staaten mit hoher muslimischer Bevölkerung unumschränkt. In ihren Händen lag nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch, da sie zur gleichen Zeit auch die Intelligentia verkörperten auch die Wissenschaft. Sie beschäftigten sich in allen Zweigen der Wissenschaft, wie die Philosophie, Medizin und den Naturwissenschaften. Aber im Laufe der Zeit nahm das wissenschaftliche Interesse der ʻIlmiyye ab. Andere Wissenschaften außer den Koranwissenschaften, welches in den Medresen gelehrt wurde, wurden verpönt.32 Selbst die Medresen sanken von hohem intellektuellem Niveau auf das Niveau einer Institution herab, in dem die Mitglieder nur noch den Koran auswendig lernten. Wie angedeutet sank neben dem Niveau der Qoranwissenschaft auch das Niveau der anderen Wissenschaften. Die medizinische Versorgung wurde schlechter. Die Mathematik und die anderen Naturwissenschaften, wurden vernachlässigt. Gleichzeitig stieg das wissenschaftliche Niveau in Westeuropa. Dort wurden die Ingenieurswissenschaften gefördert. Neuere, leichtere, schnellere und präzisere Geschosse wurden hergestellt. Es ist kein Wunder, dass die osmanischen Truppen mit ihren mittelalterlichen Ausrüstungen seit 1683 keine nennenswerten Siege mehr für sich verbuchen konnten. Insbesondere die Artillerie wurde schwerfällig. trotz der Unterlegenheit machte die Klasse der ʻIlmiyye keinerlei Anstalten sich Gedanken zu machen, warum ihre Truppen keine Siege mehr erlangen konnten. Nach Auffassung der ʻUlemāʼ waren die Muslime auf dem richtigen Pfad. Die anderen waren „Ungläubige“, gegen die man auch Kriege verlieren konnte, da Gott über Sieg und Niederlage bestimmt. Es spricht eine Überheblichkeit und eine große ignorante Haltung aus ihnen heraus. Das Imperium wurde nach außen hin isoliert, weil die Osmanen keinen Kontakt mit Andersgläubigen knüpfen wollten.

Der Islam und seine geistigen Vertreter, die ʻUlemāʼ festigten diesen Gedanken. Der osmanische Staat genügte sich selbst. Wenn es nicht notwendig war, durften Muslime sich nicht in nichtmuslimischen Staaten aufhalten.33 Die Osmanen haben sich aus religiösen Gründen, weil sie Gott nicht zuwider Handeln wollten und aus der Ignoranz gegenüber dem Westen, da sie sich berechtigter weise stark genug fühlten, den Westen als nicht gleichwertig anerkannt.

Mit der Zeit verfiel die Institution der Medrese wo die ʻUlemāʼ ausgebildet wurden. Die rechtsprechenden Ämter wurden käuflich. Die Söhne von Professoren wurden ohne jegliche Prüfung und Examen zum geistlichen oder richterlich weltlichen Amt zugelassen. Die Kadis (Richter) gingen nicht zu ihren Distrikten. Sie blieben viel lieber in Istanbul, und ließen sich durch Naibs vertreten. Diese Naibs waren oft Auszubildende ohne juristische Kenntnisse.

Neben den Wissenschaften hatten die ʻUlemāʼ auch die Rechtsprechung vernachlässigt. Oft sprachen sie demjenigen Recht, der die größere Börse hatte. Die zu erwartende Gerechtigkeit im Rechtswesen des Islams fiel zusehends in die Hände von parteiischen, bestechlichen und meistens unwissenden Richtern.34

3.2.2. Die Seyfiyye

a) Der Verwaltungsapparat

Mit der Seyfiyye war die Klasse der Staatsdiener gemeint, die im militärischen oder administrativen Bereich tätig waren. Die osmanischen Sultane hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, die Verwaltung ihres Reiches freigelassenen Sklaven, aus ihrem eigenen Besitz die aus der Knabenlese hervorkamen, anzuvertrauen. Viele ihrer hohen Regierungsbeamten kamen aus der Pallastschule, wo ihnen militärischer und administrativer Unterricht erteilt wurde. An der Spitze der Regierung stand der Großwesir (Vezīr-i aʻẓam), dem der Sultan die Regierungsgeschäfte anvertraute. Es hing von der persönlichen Stärke des Sultans ab, ob er sich gegen den Großwesir durchsetzen konnte oder nicht. Im 18. Jh. schien es so, dass die Wesire schwächer als ihre Vorgänger waren, aber die Sultane waren noch schwächer. Sie wurden von den ʻUlemāʼ und ihren Handlangern den Janitscharen beherrscht. Ab dem 17. Jh. verloren die Wesire permanent an Macht. Nach dem verlorengegangenen Krieg von 1683 und dem Frieden von Passarowitz verloren sie auch an Ansehen. Einerseits begünstigten die Sultane ihre Zöglinge, ohne darauf zu achten, ob die ausgekorenen Personen als Staatsdiener der höchsten Stufe des Verwaltungsapparats, dem Amt gewachsen waren oder nicht. Die meisten von ihnen hatten keine Ausbildung, geschweige denn praktische Erfahrung in der Staatsführung. Auch in den Provinzen verloren die Wesire nach dem Passarowitzer Frieden, das Ansehen. Bis dahin schien es so, dass das osmanische Reich zentral regiert wurde. Nach dem Passarowitzer Frieden wurde das Imperium immer stärker zu einem dezentral verwalteten Staat.

Neben der Staatsmacht, repräsentiert durch den Wesir, bildeten sich in den Provinzen neue Machtsrukturen. Es entstanden lokale Machtfaktoren, die ʻAyāne (Landlords). Diese waren lokale Persönlichkeiten, die der ʻUlemāʼ angehörten oder ehemalige Janitscharenaġas. Bis zum osmanisch - russischem Krieg von 1769-1774 war die Macht der ʻAyāne so gefestigt, dass Muṣṭafā III. und ʻAbd al-Ḥamīd I. um Unterstützung durch deren Privattruppen baten. Das ʻAyānsystem hatte seinen Höhepunkt nach dem Ende des Russlandkrieges 1774 bis zur Regierung Maḥmūd II. (1808-1839). Gegen diese Art von ʻAyānen konnten sich die Wesire in den Provinzen nicht durchsetzen. Weil die Amtszeit der Wesire begrenzt auf ein bis zwei Jahre war. Die Sultane beabsichtigten ursprünglich damit, dass die Wesire sich keine Machtbasis in den Provinzen aufbauen konnten, um später den Sultan entmachten zu können.

So entglitt dem Sultan die Herrschaft über die Provinzen nicht durch die Wesire, sondern durch die ʻAyāne, aber dennoch existierten einige Paschas in den Provinzen, die dem Sultan die Stirn boten.35 Die meisten Wesire konnten wegen der oben angesprochenen Kürze der Amtszeit keine Autorität in den Provinzen etablieren. Um sich wenigstens ein wenig Respekt gegenüber der Provinzbevölkerung zu verschaffen, gingen sie Bündnisse mit den Kadis und den ʻAyānen ein. Das führte zur Korruption und Bestechlichkeit im Amt. Schließlich reichte die Herrschaft des Sultans nicht über die Stadtgrenzen Istanbuls aus, selbst das war noch zu bezweifeln.

b) Die Janitscharen

In der Klasse der Seyfiyye waren die Janitscharen die Klasse, die die größte militärische Funktion ausübte. Die Janitscharen bestanden aus 196 Regimentern. Sie wurden von Sultan Murad I. aus der Knabenlese gegründet. Die Janitscharen waren Infanteristen und Artilleristen, neben ihnen gab es noch die Kavallerie und Provinztruppen, die von Provinzgouverneuren selbst bereitgestellt wurden. In der Ära Meḥmed II. gewannen die Janitscharen die Gunst des Sultans. Als stehendes Heer waren sie ursprünglich im Vergleich zu den europäischen Heeren vorbildlich, in ihren Exerziermethoden und ihrer Disziplin. Ihre Disziplin ließ im 17. Jh. nach. Zeitgleich bekamen außenstehende das Recht in die Janitscharentruppen einzutreten. Des Weiteren kauften sich Muslime die lukrativen Freibriefe (esame) um sich zu bereichern, ohne dafür tatsächlich militärischen Dienst geleistet zu haben.

Ursprünglich durften nur Kinder von Christen in die Janitscharenkorps eintreten. Viele der neuen Janitscharen ließen sich ihren Sold auszahlen, ohne zum Exerzierplatz zu gehen. Sie übten Berufe aus und waren verheiratet. Es ist verständlich, dass ein verheirateter Mann, der vielleicht noch Kinder hat ungern zum Exerzierplatz geht, geschweige denn zum Kriegsschauplatz, wenig Interresse hat, seinem Regiment mit Leib und Seele zu dienen.36

c) Die Sipahis

Ein anderer militärischer Bestandteil waren die Timarioten (Kavallerie), diese leisteten Kriegsdienst ohne direkte Besoldung. Die Timarioten bekamen als Gegenleistung Ländereien zugesprochen, deren Mindestertrag 3.000 Aspern betrug. Das Timarsystem unterscheidet sich grundlegend vom europäischen Feudalsystem. Der Timariot musste seine eigene Ausrüstung haben, und je größer der Lehnsboden war desto mehr Männer musste er zum Krieg führen, die er aus der eigenen Kasse besolden musste. Wenn ein Landlehen ein Ertrag von über 20.000 Aspern aufweisen konnte, wurde es Zeamet genannt.

Das Timar war ursprünglich nicht erblich. Der Boden gehörte dem Sultan. Wenn das Feld mehr als drei Jahre hintereinander nicht bestellt wurde, verlor der Timariot das Bodennutzungsrecht an einem anderen Timarioten. Die Kleintimarioten die das Pachtland selberbestellen mussten, gingen nach der Goldschwemme durch das minderwertige südamerikanische Gold aus Spanien im 16. Jh. unter. Die Osmanen erlebten eine stetig wachsende Inflation. Die Preise stiegen, aber der Ertrag aus der Ernte verringerte sich, so dass die Timarioten sich existentiell nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Andererseits konnten die Osmanen keine neuen Gebiete mehr erobern, die unter den Timarioten verteilt werden konnten. Das Gegenteil setzte ein. Mit den Gebietsverlusten aus den vergangenen Kriegen verloren die Timarioten dieser Gegenden ihren Timar. Sie wurden ihrer Existenz beraubt.

Um die verlorenen Einkünfte der Staatskasse zurückführen zu können, bedienten sich die Sultane des Iltizamsystem. Die Steuereinkünfte für ein bestimmtes Gebiet wurden berechnet und mit der berechneten Summe zur Auktion angeboten. Der Meistbietende bekam das Land für zehn Jahre zur Pacht. Im Gegensatz zu den Timarioten waren die Mültezims Zivilisten.

Sie brauchten kein Militärdienst zu leisten oder Kontingente für den Kriegsfall bereitzustellen. Die Mültezims holten sich das Geld von der Landbevölkerung (reaya) mehrfach wieder heraus. Viele Landbewohner konnten jedoch die hohen Abgaben an die Mültezims nicht aufbringen und begingen Landflucht. Sie gingen entweder zu den Gouverneuren, wo sie sich unter seinem Dienst stellten, oder wurden Banditen (Celali). Der Untergang der Sipahis bedeutete für das osmanische Reich, dass es keine reguläre Kavallerie mehr gab.37

3.2.3. Die Reaya

Die Reaya war die produzierende Klasse im osmanischen Reich. Der Staat verstand unter dem Begriff Reaya38 Hauptsachlich die Landbewohner. Ihre Aufgabe war es für das Reich landwirtschaftliche Güter zu produzieren und Steuern zu entrichten. Nach den verlorenen Kriegen und dem Friedensschluß von 1699 ging es den osmanischen Bauern nicht mehr gut. Sie mussten neben dem zehntel (Ösr) noch außergewöhnliche Kriegssteuern bezahlen. Die christlichen Bauern mussten neben dem Ösr noch die Cizye (Kopfsteuer) bezahlen. Obwohl die Landbevölkerung die hauptsachlich produzierende Klasse neben den Zünften in den Städten war. Die in Provinzen regierenden beuteten die Reaya regelrecht aus. Wie o.g. erwähnt setzte die Landflucht ein. Typisch für das osmanische System war, dass der größte Teil der Bauern nicht auf den eigenen Boden wirtschaftete. Die Bauern bewirtschafteten auf Staatsboden, wo sie als Pächter galten. Nach der Landflucht verloren die Bauern das Pachtrecht, da die gesetzliche Bestimmung vorsah, dass, wenn ein Ackerboden drei Jahre hintereinander nicht bestellt worden ist, der Pächter kein Recht mehr hatte das Land zu bestellen. Die meisten Menschen konnten nicht mehr zurückkommen und stürzten in bittere Armut.

C.Keyder und H.Islamoğlu erachten diese Entwicklung als normale Entwicklung des osmanischen Reichs von der asiatischen Produktionsweise hin zum westlichen Kapitalismus an.39

3.2.4. Handel

Nach der Renaissance hat die westeuropäische Gesellschaft eine Entwicklung hin zum Kapitalismus gemacht. Das städtische Bürgertum betrieb Handel. Den Kampf um den Fernhandel gewannen die Europäer. England, Spanien, Portugal und Holland wurden zu Seegroßmächten. Durch die Entdeckung des amerikanischen Kontinents und der freien Zufahrt nach Indien durch das Kap der guten Hoffnung verlor das osmanische Reich seine Stellung als Transitstrecke für Gewürze und indische Stoffe. Das Imperium fungierte nicht mehr als Mittler des Handels zwischen Orient und Okzident, d.h.; der Gewinn durch den Transithandel ging zum größten Teil verloren.

Ein zweiter Aspekt war, dass muslimische Händler der Osmanen Fernreisen scheuten. Sie überließen diese Domäne den nichtmuslimischen Bürgern, insbesondere den Juden, den Griechen und Armeniern. Ein weiterer Aspekt war, dass muslimische Händler keine Zinsen, nach dem islamischen Gesetzen her, nehmen durften. Währenddessen in Westeuropa Geschäftsleute Bankhäuser gründeten. Im Gegensatz dazu existierten im osmanischen Reich bis zur Mitte des l9.Jh. kein Bankwesen. Die osmanischen Händler lebten noch im mittelalterlichem Gildengedanken, wobei sich ihre westlichen Berufsgenossen zu Kapitalisten entwickelten. Das Ergebnis war, dass das osmanische Reich nicht mehr so viel Kapital anhäufen konnte wie die europäischen Staaten.

Der osmanische Handel erlebte zur Entstehungs- und Blütezeit des westeuropäischen seinen Niedergang.

4. Die Probleme des osmanischen Reichs zu der Zeit Selīm III.

4.1. ʻAyān-i beled

Die ʻAyāne waren, wie erwähnt lokale Größen in den Provinzen. sie gehörten meistens ent- weder der ʻUlemāʼ an oder waren pensionierte Janitscharenaġas. Im juristischen Kontext waren die ʻAyāne die Vertreter der provinziellen Bevölkerung. Sie vertraten diese gegenüber dem Staat. Im Amt wurden sie durch den Vali (Gouverneur) und dem Kadi bestätigt. Ihre Aufgabe war es die Bevölkerung vor dem Staat zu repräsentieren und von der Bevölkerung Steuern für den Staat einzutreiben. Das Amt war, wie alle Ämter im osmanischen Reich ehrenamtlich. Nach den gesetzlichen Bestimmungen musste der ʻAyān vom Volk gewählt werden. Im 18. Jh. wurde diese Bestimmung umgangen. Die Kandidaten holten sich oder erzwangen die Stimmen der anderen Notabeln und erkauften sich die Bestätigung des Valis und des Kadis. Dieses Amt war wie dafür geschaffen die Notabeln noch reicher zu machen, als sie schon ohnehin waren. Sie erhoben unrechtmäßige Steuern, die das Volk nur mühsam aufbringen konnte. Von dem akkumulierten Geld gaben sie nur einen Bruchteil an die Staatskasse weiter. Es kam mancherorts wegen Amtsmissbrauch zu Gerichtsverhandlungen gegen die Notabeln. Aber auch wenn sie für schuldig befunden wurden unrechtmäßige Steuern an sich genommen zu haben, konnten sich doch nicht bestraft werden. Entweder waren die Gouverneure zu schwach, um die Notabeln zu bestrafen, oder bestechlich. Der Staat verhielt sich nicht wie sich für einen Staat gebührt, sondern eher wie ein gewöhnlicher Bandit. Die Notabeln, die er nicht bestrafen konnte, wurden per Dekret abgesetzt.

Ein neuer ʻAyān wurde eingesetzt, der als erste Aufgabe die Verfolgung des Vorgängers und die Auffindung der unrechtmäßig angehäuften Steuern übernehmen musste. der Alten und die Auffindung der unrechtmäßig angehäuften Steuern übernehmen musste.

Neben der zerstörerischen Eigenschaft hatten die Notabeln auch positive Eigenschaften für die Landbevölkerung. Die Bevölkerung hatte den Schutz des Staates längst verloren, sie konnten nur noch von den Notabeln vor noch größeren Beanstandungen geschützt werden, denn letztendlich war es im Sinne der Notabeln, dass die Bevölkerung prosperieren konnte, dadurch konnten sie wiederum selbst profitieren. Bei Grenzüberschreitungen und Verwüstungen des Ackerbodens durch fremde Notabeln wurde die Reaya von den eigenen Notabeln geschützt. Einige Notabeln brachten es sogar zu offiziellen Staatsämtern, wie Çapanoġlu, Ṭayyar Aḥmed Pascha aus Canik, Tirsinikli Ismail usw. Der berühmteste unter ihnen war Bayraktar Muṣṭafā Pascha, der kurz vor der Ermordung Selīm III. sogar sich selbst zum Großwesir ernannte.

4.2. Dynastien und autonome Gebiete

Das osmanische Imperium erstreckte sich über drei Kontinente: Europa, Asien und Afrika.

Die afrikanischen Besitzungen in Tunesien, Algerien und Libyen waren zu weit entfernt, um von Istanbul aus zentral regiert zu werden. Sie waren tributpflichtig. Die Herrscherinsignien, die Erwähnung des Namens des Sultans im Freitagsgebet (hutba) und Münzprägung (sikke) im Namen des Sultans wurden eingehalten. Ansonsten waren diese Gebiete autonom. Am meisten beschäftigte sich die Hohe Pforte mit Ägypten. Dort waren die Mamluken an der Macht. Der osmanische Gouverneur war sozusagen, nur zu Besuch in Ägypten. Sobald die Mamluken eine Opposition seitens des Gouverneurs vermuteten, setzten sie ihn sofort ab und baten die hohe Pforte um einen neuen Gouverneur. Der Mamluk Bulutkapan Ali Pascha erklärte 1768 seine Unabhängigkeit vom osmanischen Reich. Er weigerte sich der hohen Pforte den Tribut zu senden.

In Syrien herrschte Cezzar Aḥmed Pascha, der den Tribut nur dann abgab, wenn er keinen Ausweg mehr sah, sich den Bedrängungen der hohen Pforte zu entziehen. Cezzar Aḥmed Pascha versuchte sich in Libanon gegen die Drusen durchzusetzen, was ihm dann auch gelang. In Irak herrschte die gleiche Situation wie in Ägypten, dort herrschten die Mamluken des Süleymān des Großen. Im Hicaz war die Lage noch prekärer. Dort gründete sich eine neue islamische Formation, die Wahhabiten unter der religiösen Führung des ʻAbda-al Wahhab aus Diraya, der bei dem Stammesfürsten Suud eine Stütze fand. Die Wahhabiten erklärten außer der Rechtsschule der Hanbaliten, die Rechtsschulen der Hanafiten, wozu auch der Sultan angehörte, der Şafiiten und der Malikiten für ungültig. Sie erkennen wie anderen Rechtsschulen den Zusammenhang Koran und Sunna des Propheten Muhammad an, aber verbieten den Icmaʻa der islamischen Gelehrten und den Ḳiyās (Analogieschluss) den einzelnen Muslim, wenn dieser bei einer bestimmten Frage keine Antwort im Koran, in der Sunna oder der Icmaʻa findet. Die Wahhabiyya kennt keine Heilige Person, deshalb haben sie die Geburtshäuser der rechtgeleiteten Kalifen (ḫulafa ar-raşidūn) und der Prophetengenossen (ashab) zerstört.

Beim Gebet soll der Segnungsausspruch für den Propheten unterlassen werden. Die osman- ische ʻUlemāʼ beschäftigten sich nicht mit den Wahhabiten. Sie selbst waren im Begriff des Niederganges ihrer Bildung. ʻAbd al-Ḥamīd I. und Selīm III. erkannten die Gefahr der Wahhabiten, konnten aber nichts dagegen tun. Erst als die Wahhabiten die heiligen Städte Mekka und Medina eroberten, wurde es der osmanischen ʻUlemāʼ bewußt, welche Gefahr sie für das osmanische Reich bedeuteten. Die Wahhabiten verloren zwar Mekka und Medina wieder zurück an die Osmanen, aber sie konnten einen unabhängigen wahhabitischen Staat unter der Herrschaft der saudischen Familie gründen.

In Anatolien befanden sich zwei Herrscherhäuser, die um die Vormacht miteinander wetteiferten. Die Çapanoġlu und das Haus des Tayyar Aḥmed Pascha aus Canik.

Beide Familien entstammen von den ʻAyān. Çapanoġlu und Aḥmed Pascha stellten gemeinsam Kontingente für den Sultan im Krieg gegen Russland (1768-1774). Als die Macht des Aḥmed Pascha zu groß wurde, wurde Çapanoġlu beauftragt Aḥmed Paschas Expansion zu dämmen, was ihm auch gelang.

In Rumelien war die Situation noch schwieriger. Dort herrschten Tirsiniklioġlu Ismail in Ruscuk, Paspanoġlu Osman in Vidin der sogar Gebiete in Moldawien überfiel und Yilikoġlu Suleyman. In Rumelien waren neben den Notabeln noch die Daġli eşkiyasi (Bergbanditen) zu befürchten, die nach dem Krieg gegen Osterreich und Russland keine Zukunft mehr hatten, sich zusammenschlossen und durch Räuberei lebten.

In Belgrad herrschten die Janitscharendayis wie in Algerien. D.h. Der Sultan herrschte hier nur symbolisch.

5. Die Regierungszeit Selīm III.

Am 7. April.1789 starb Sultan ʻAbd al-Ḥamīd I. infolge eines Schlaġanfalls, während des osmanisch- russisch-österreichischen Krieges, als er den Verlust der Festung Otschakow (Özi) vernahm. Sein Neffe wurde zum neuen Sultan gekrönt. Selīm III., der neue Sultan war 28 Jahre alt. Er war energischer als sein Onkel und wollte unbedingt den Sieg über die Feinde erringen und die Krim zurückerobern. Bald musste er erkennen, dass seine Truppen nicht im Stande waren, die Feinde zu überwinden. Selīm III. wollte persönlich an die Spitze seines Heeres, was ihm jedoch nicht gelang. Karal meint, dass die Regierung das von ihm wünschte, aber er sich nicht getraut hat sich an die Spitze des Heeres zu setzen.40

Wegen der Missstimmung mit Koca Yūsuf Pascha im Zusammenhang mit der Hinrichtung Ḫalil Ḥamid Paschas, hatte man erwartet, dass Selīm III. den Großwesir und Oberbefehlshaber (Serdar-i ekrem) der osmanischen Armee absetzt. Die anderen Verschwörer, Aḥmed Efendi und seinen Sohn Selīm Efendi, hat Selīm III. für ihre Tat hinrichten lassen.41 Er tat es nicht, weil er keine Missstimmung in seinem Heer haben wollte.

Nach dem glücklichen Ende des Krieges gegen Österreich, mit dem Frieden von Zistovi am 04.08.1791 und dem Friedensschluss von Jassy am 09.01.1792.mit Russland, konnte sich Selīm III. sich seinen Reformplanen zuwenden. Um Selīm III. und seine Reformen verstehen zu können, müssen wir die früheren Reformen und Reformversuche seiner Vorgänger und seine Biografie kennenlernen.

5.1. Die Kindheit und Jugend Selīm III.

Selīm wurde am 1761 als Sohn Sultan Muṣṭafā III. geboren. Sein Vater war ein Reformsultan. Er wollte die osmanischen Truppen neu organisieren. Er ließ den Ungarn, Baron de Tott, der im französischen Diensten gestanden hatte, ein neuen Kannoniercorps gründen auch die Artillerie sollte nach dem französischen Muster funktionieren.

Selīm III. hatte eine unbeschwerte Kindheit. Da Muṣṭafā III. an die Astrologie glaubte, nahm er die Geburtsstunde Selīms als gutes Omen an. Sein Vater erzog ihn zu einem zukünftigen Helden. Er glaubte fest daran, dass sein Sohn das osmanische Imperium wieder zur alten Stärke führen konnte.

Selīm wurde in diesem Bewusstsein erzogen. Er bekam auch Einblick in die Staatsgeschäfte seines Vaters, und trug seine Hoffnung über eine Neuorganisation der Armee mit. Selīm verliert seinen Vater im Alter von 13. Es war seit Anfang des 17.Jh. üblich geworden, dass der Thronfolger eines neuen Sultans in den Kafes gesteckt wurde. Der Kafes war ein Luxusgefängnis für die Prinzen. Selīm konnte diesem Schicksal nicht entrinnen.

Anders als seine Vorgänger duldet ʻAbd al-Ḥamīd I. gewisse Freiheiten seines Neffen.

Bis zur Hinrichtung des Großwesirs Ḫalil Ḥamīd Pascha erzählen die Quellen nichts über Selīm. Als Ḫalil Ḥamid Pascha den Sultan ʻAbd al-Ḥamīd I. wegen seiner passiven Politik zum Rücktritt zwingen- und statt seiner Selīm zum Thron verhelfen möchte, werden die Quellen wieder Selīmkundig. Selīm soll sich mit dem Großwesir darüber abgesprochen haben den amtierenden Sultan abzusetzen, um endlich die angestrebten Reformen durchzusetzen. Das Komplott des Großwesirs und des Prinzen wird von Aḥmed Aġa aufgedeckt. Selīm der nun im Kafes ein echtes Gefängnisleben durchstehen musste, ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Er wollte unbedingt auf den Thron und den Auftrag des Vaters, Retter seines Reiches zu werden erfüllen. Er war besorgt über die inkonsequente Politik seines Onkels. Obwohl er sich in Gefangenschaft befand, bereitete er sich auf den Tag der Thronbesteigung vor. Er suchte in Ludwig XVI einen Verbündeten und begann einen Schriftwechsel zwecks der Rückeroberung der Krim. Er wollte seine Truppen nach dem Model Frankreichs umstrukturieren. Selīm sandte seinen entfernten Cousin Ishaḳ Bey nach Frankreich, wo dieser die Befestigung von Festungen, die Organisation der Artillerie usw. lernen sollte. Der französische Botschafter in Istanbul Choisseul-Gouffier, half bei der Durchschleusung Ishaḳ Beys mit. Der Briefwechsel zwischen dem osmanischen Prinzen und dem französischen König fand ein unglückliches Ende. Selīm wollte die Belehrungen Ludwig XVI. nicht hinnehmen und beschuldigte Frankreich die Osmanen zum Krieg gedrängt zu haben aber selbst eine zwiespältige Politik durchzogen zu haben. Selīm meinte, dass Frankreich die Osmanen, da sie den Osmanen nicht geholfen haben im Krieg gegen Russland (1769 -1785) und damit ein Verrat an der Sache der Osmanen begangen haben.

Während der eine der Brieffreunde eine Revolution hinnehmen musste, standen für den anderen 1789 die Sterne günstiger. Selīm konnte nach dem Tod ʻAbd al-Ḥamīd I. auf den langersehnten Thron steigen. Das Volk in Istanbul war begeistert über den Herrschaftsantritt Selīm III.. Der Mythos des zur Herrschaft geborenen Sultans war bei der Bevölkerung verbreitet. Dass dieses ein Mythos blieb, dafür sorgten die Umstände - wie beschrieben - des fortlaufenden Krieges gegen Russland.

6. Die Reformen vor Selīm III.

Als erster Reformsultan gilt allgemein ʻOsmān II. (1618-1622) Dieser Sultan erkannte als erster Herrscher, wie schädlich das Gebilde der Janitscharen für das Reich wurde.

Durch den Verrat seines Großwesirs wurden seine Pläne vereitelt, wonach er von Bagdad aus mit seinen privaten Truppen die Janitscharen vernichtend schlagen wollte. Offiziell ließ der 17-jährige ʻOsmān II. verlauten, dass er nach Mekka zur Pilgerfahrt gehe. Er wurde von den Janitscharen in der Festung der sieben Burgen erdrosselt.

Sein Bruder Murad IV.(1623-1640) war in seiner Haltung gegenüber den Janitscharen eisern. Er setzte sich ihnen gegenüber hartnäckig durch.

Die Großwesire der Familie Köprülü vermochten auch die Janitscharen im Zaum zu halten.

Jedoch war die Politik der sultanischen Brüder und den Großwesiren der Familie der Köprülüs nicht auf Reformen aus. Sie erzwangen nur mit eisernem Willen die Disziplin unter den Janitscharen. Von echten Reformen können wir erst in der Zeit von Aḥmed III.( 1703-1730) und seines Großwesirs und zugleich Schwiegersohns Nevşehirli Damad Ibrahim Pascha sprechen.

Diese Epoche ist bekannt als die Tulpenzeit. Ihr Wahrzeichen war die Tulpe. Nach den langen erfolglosen Kriegen gegen die europäischen Machte, war die hohe Pforte erschöpft. Erstmals öffnete sich das Reich den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des Westens. Der Großwesir Ibrāhīm Pascha sandte Yirmisekiz Meḥmed Çelebi mit seinem Sohn Meḥmet Said Efendi42 nach Paris. Mehmed Said kam mit der Idee des Druckereiwesens zurück, wo er mit dem jüdischen Renegaten Ibrāhīm Müteferrika aus Ungarn die erste Druckerei der Osmanen gründete.

Das Hofleben Aḥmed III. erinnerte an das Rokoko Leben in Paris. Mit dem Symbol der Tulpe sollte Lebenslust signalisiert werden. Man pflanzte Tulpengarten an, vergnügte sich an den Abenden in den mit Lampions geschmückten Gärten. Der europäische Lebensstil wurde übernommen. Die Dichtung erlebte eine Blüte. Als berühmtesten Vertreter dieser neuen weltlichen an der Lebensfreude orientierten Dichtung steht Nedim.43

Die Tulpenzeit fand ein jähes Ende im Jahr 1730 mit dem Aufstand des Patrona Ḫalīl, der das Werkzeug der ʻUlemāʼ war. Die reaktionäre Kraft der ʻUlemāʼ sah sich gestört durch das ungebührende Verhalten des Hofes. Das „a la franca“ Leben war in ihren Augen die pure Sünde. Es war nicht zu vertreten mit den islamischen Maximen. In Wirklichkeit ging es aber nicht um islamische Ideale, sondern um Macht. Die ʻUlemāʼ hatten Angst bekommen, Einfluss und damit die Machtstellung zu verlieren. Aḥmed III. wurde entthront und in den Kafes gesteckt. Dort blieb er sechs Jahre bis zu seinem Tod. Damad Ibrāhīm Pascha wurde hingerichtet.

In der Regierungszeit Maḥmūd I. (1730–1754) wurden Versuche gemacht, dass Militär nach europäischem Muster zu organisieren, insbesondere die Mörsercorps unter der Anleitung des Franzosen de Bonneval. De Bonneval nahm den Islam an und wurde Ḫumbaraci Aḥmed Pascha genannt. Obwohl Aḥmed Pascha äußerlich ein Muslim wurde, erfüllte und bewältigte er seine Aufgaben in Manier eines Europäers. Im Krieg gegen Österreich nahm Aḥmed Pascha nicht aktiv teil, aber er übte einen großen Einfluß im Kriegsgeschehen aus.

In der Herrschaft Muṣṭafā III. (1757-1774) kam an die Stelle de Bonnevals, Baron de Tott, Baron de Tott ließ das Artillerie Regiment Muṣṭafā III. exerzieren. Er ließ 600 Mann nach europäischem Muster in Kağithane üben, und erweiterte die Kanonengießerei. Ein weiterer Verdienst Baron de Totts war die Gründung der Mühendishane-i baḫr-i humayūn. Muṣṭafā III. ließ durch den französischen Botschafter Vergennes, aus der Pariser Sience Akademie Bücher kommen, und ließ diese übersetzen. Ferner ließ Muṣṭafā III. durch Vergennes das Skelet eines Acht- bis Neunjährigen Kindes, dessen innere Organe mit Wachs erhalten waren, ebenfalls aus Paris kommen. Außerdem wurden auf seinen Befehl hin zahlreiche medizinische Bücher übersetz.

Im Siebenjährigen Krieg zwischen Österreich und Preußen war Muṣṭafā III. sehr beeindruckt von Friedrich den Großen. Muṣṭafā III. glaubte tief an die Astrologie und glaubte deshalb, dass Friedrich der Große von guten Astrolegen beraten war. Er sandte Aḥmed Resmī Efendi nach Berlin um von Friedrich II. drei gute Astrologen für sich zu erbitten. Friedrich der Große antwortete, dass seine drei Astrologen diese wären:

1. Eine gute Armee besitzen
2. Diese Armee so bereithalten, dass sie jederzeit bereit ist sich dem Feind im Kampf zu stellen
3. Die Staatskasse voll halten.44

Die Bemühungen Muṣṭafā III. reichten nicht aus, das osmanische Heer neu zu organisieren. Muṣṭafā III., der die Politik Russlands bei der ersten Teilung Polens nicht ohne weiteres hinnehmen wollte, stürzte das osmanische Reich in einen katastrophalen Krieg (1768 -1774) gegen Russland. In diesem Krieg sahen die Osmanen ihre Grenzen, nämlich dass sie überhaupt keine einsetzbaren Truppen mehr hatten.

Unter der Regierung ʻAbd al-Ḥamīd I. (1774-1789) eiferte sich der Großwesir Ḫalil Ḥamīd Pascha mit Reformideen. In einem Gespräch mit dem französischen Botschafter Choisseul-Gouffier, der mit der Aufgabe betraut war, die Osmanen mit richtigen Reformen zu beratschlagen, denn Frankreich sah seine Außenpolitik und Handel durch das expandierende Russland im Orienthandel und dem Handel am Schwarzen Meer gefährdet. Choisseul-Gouffier sagte zu Ḫalil Ḥamīd Pascha " Wenn die Türkei unter den Großmächten bleiben will, dann müßten die Osmanen nicht nur die Verwaltung des Reichs ändern, sondern auch ihren Charakter. Der Sultan und die Mächtigen des Reichs müssten in dieser Hinsicht überzeugt werden.". Ḫalil Ḥamīd Pascha erwiderte „Das hier ist nicht Frankreich, wo der König allein entscheiden kann. In Gegensatz dazu muss hier in der Türkei die Zustimmung der ʻUlemāʼ, der Einflussreichen Personen und der Personen, die früher hohe Ämter bekleidet haben, geholt werden.“.45

Ḫalil Ḥamīd Pascha eröffnete die Ingenieursschule, ferner ließ er aus Frankreich Spezialisten für die Landstreitkräfte, die Flotte und der Befestigung von Festungen holen. Die bislang beschriebenen Reformen oder Reformversuche waren alle auf den militärischen Bereich bezogen. Der europäische Lebensstil wurde nach dem Frieden von Karlowitz aufgrund der erweiterten nachbarlichen Beziehung mit Europa mehr und mehr übernommen. Die militärische Unterlegenheit zwang die Osmanen, Reformen zu machen, jedoch waren sie zu stolz es anzuerkennen.

7. Die Reformen Selīm III.

7.1. Reformvorstellungen Selīm III.

Während der Friedensverhandlungen mit Österreich in Reichenbach, sandte Selīm III. seinen treuen Untertanen und Jugendfreund Ebu Bekir Ratib Efendi nach Österreich. Er sollte dort die Gesellschaft, ihre Kultur, den Staatsaufbau, das Militär und die technischen Errungenschaften studieren.

Ratib Efendi, der als Amedci (Schreiber) diente, welches zum Amt des zukünftigen Außenministers führen konnte, schrieb über seine Erlebnisse und Eindrücke in Österreich einen umfangreichen Reisebericht (Seferatname) von über 600 Seiten.46 Er beschrieb die Gesellschaft und den Staatsaufbau sehr detailliert; daher beeinflusste er Sultan Selīm III. stark in seinen Reformgedanken. Die meisten Reformideen des Sultans stammen von ihm.

Nach dem Frieden von Jassy 1792 war für Selīm III. die Zeit gekommen, die Reformvorstellungen in die Realität umzusetzen. Er wusste jedoch, dass sich die ʻUlemāʼ und die Janitscharen gegen Reformen stellen würden. Um Unterstützung zu finden, beauftragte er 22 hohe Persönlichkeiten des Reichs, darunter auch zwei Ausländer, für ihn Vorschläge (layiha), zu erarbeiten, wie man das Militär reformieren konnte. Er wollte darüber erfahren, welchem Staatsmann er vertrauen bzw. wer für ihn dienstbar sein konnte. In allen Vorschlägen wird deutlich, dass der Zustand der Verteidigung des osmanischen Reichs in einem sehr desolaten Zustand geraten war.

a) Koca Yūsuf Pascha

Der Großwesir Koca Yūsuf Pascha schlug vor, die Schlagkraft der Janitscharen zu stärken. Es sollte mehr exerziert werden. Er sah die Notwendigkeit der Gründung einer Tüfenkcieinheit (Schnellschützeneinheit). diese sollten von Provinzgouverneuren ausgewählt werden.47 Die kleinste Einheit sollte zehn Mann umfassen unter der Führung eines Onbaşi. Zehn Einheiten sollten unter dem Kommando eines Yüzbaşi (Hauptmann) stehen. Drei Hauptmänner sollten einem Üçyüzbaşi unterstehen, fünf Üçyüzbaşi wiederum einem Beşyüzbaşi, und diese sollten unter dem Kommando eines Binbaşi (Major) stehen.

Das Regiment sollte nach den Vorstellungen Yūsuf Paschas diszipliniert werden. Die Offiziere hatten die Aufgabe zu disziplinieren und zu bestrafen. Die Soldaten mussten zwei Mal in der Woche zum Exerzierplatz antreten und auf Kämpfe strategisch vorbereitet werden. vierteljährlich müsste ihr Erscheinen anhand von Eintragungslisten überprüft werden. Falls die Anzahl der eingetragenen Soldaten aus den Provinzen zahlreich wäre, so sollten sie vierteljährlich sich zu je 200 Mann abwechseln und nach Istanbul zum Exerzieren kommen.48

Yūsuf Pascha meinte weiter, dass das Kanoniers Regiment mit den Schnellfeuerkanonen aufgehoben werden sollte. Anstelle dieser sollten in den Provinzen vertrauenswürdige Gouverneure je zwei Kanonen und einen Mörser bereitstellen. Die Kanonen sollten von je sieben bis acht Mann bedient werden. Die Kanoniere und Mörser sollten ständig in Übung sein. Die Regimenter der Kanoniere und der Mörser sollten mit Scharfschützen ausgestattet sein. Jedes Regiment sollte je nach Größe zwei, drei oder vier Scharfschützen bekommen. Aus der Mitte des neuzugründenden Regiments der Scharfschützen sollten je zehn Mann zu den Kanonen beordert werden.49

Die Laġimcis und Ḫumbaracis waren nach Yūsuf Paschas Ansicht nicht mehr brauchbar. Sie sollten einer strengen Prüfung untergezogen werden. Wer die Prüfung nicht bestehen würde, sollte sein Zeamet oder Timar verlieren.50

b) Tātārciḳzade ʻAbd Allāh Molla Efendi

Tātārciḳzade ʻAbd-allah Molla gehörte zu dem berühmtesten ʻUlemāʼ seiner Zeit. Er war Kadiasker (Heeresrichter) in Rumelien. Erstaunlicherweise machte Tātārciḳzade die besten Vorschläge für das Reformvorhaben Selīm III.. In seiner layiha schlug Tātārciḳzade vor, dass man zwei neue Regimenter gründen soll. Die eine sollte das Schnellschützenregiment und die andere das Kanonierregiment sein. Zuerst sollte das Schützenregiment gebildet werden. Die Soldaten sollten monatlich ihren Sold ausbezahlt bekommen. Ihre Uniformen und Kriegsausstattungen sollten sie sofort nach der Einschreibung entgegennehmen. Danach erst war geplant das Kanonierregiment auf den neuen Stand der Kriegstechnik zu bringen. Jedes Bataillon war mit Schnellschützen auszustatten und je nachdem, wieviel Männer vorhanden waren, mit zwei, drei oder vier Kanonen. Den neuen Soldaten sollen für je ein Geschütz Schützen mit den Namen Suratci zur Seite gestellt werden. Dadurch sollte ein kontinuierliches Üben gewährleistet sein. Weiterhin schlug Tātārciḳzade für die Ausbildung der Kanoniere vor, fachlich kompetente Personen aus Europa zu holen, wie in der Zeit von Muṣṭafā III...51

Die ausgebildeten Offiziere sollten nach den Vorstellungen Tātārciḳzades in die Provinzen gehen und dort selbst Soldaten in die Bedienung moderner Kriegstechnik einzuführen. Tātārciḳzade stellte sich vor, dass man in sieben bis acht Jahren ungefähr 42.000 ausgebildete Soldaten haben würde, die sowohl im Sommer als auch im Winter einsetzbar sein könnten. Die moderne Kriegstechnik sollten nicht nur die Janitscharen übernehmen, sondern auch alle anderen Regimenter. Auch die Seestreitkräfte sollten sich der neuen Kriegstechnik anpassen.52

Die Laġimcis, die Ḫumbaracis und die Metriscis sollen nach seinen Vorstellungen nach Istanbul einberufen werden, damit sie in Kadikoy ausgebildet werden konnten. Wer sich nicht zur Verfügung stellte, sollte sein Timar oder Zeamet verlieren.

ʻAbd Allāh Molla begründete seine Vorschläge damit, dass der technische Fortschritt weit fortgeschritten war und somit das osmanische Reich einfach zu besiegen war. Seiner Meinung nach sollte auch die Bildung der ʻUlemāʼs und die Ausbildungsstruktur an den Medresen geändert werden. Der Sultan sollte:

- sein Reich durchqueren und kennen lernen und an der Spitze der Armee stehen.
- Die Staatsausgaben sollten gekürzt werden.
- Die Janitscharen sollten hingehalten und zum Exerzieren gezwungen werden.

Die moderne Kriegstechnik sollte ihnen als Gesetzgebung Süleyman des Prächtigen erklärt werden. So sollten sie endlich auch den Umgang mit der modernen Kriegstechnik erfahren.53

Aḥmed Cevdet Pascha hielt die Ideen Tātārciḳzadeh für brillant, aber nicht für durchsetzbar, er konnte sich nicht vorstellen, dass man die Regimenter auf einmal ändern oder umstrukturieren könnte. Noch nie hatten die osmanischen Truppen bis zu diesem Zeitpunkt eine gravierende Änderung erfahren müssen.

Die einzige Chance wäre, seiner Meinung nach, die Aufhebung aller Truppen, um mit neuen eine neue Ära zu beginnen.54

c) Çavuşbaşi Meḥmed Reşid Efendi

Meḥmed Reşid Efendi stellte sich vor, aus Rumelien und Anatolien junge Männer in die Listen einzuschreiben. Sie sollten sich nicht mit den Janitscharen vermischen und nach seinen Vorstellungen ” nicht deren verderblichen Charakter übernehmen ”. Für sie sollte ein extra Regiment gegründet werden. Die Größe war auf 20.-30.000 Mann geplant. Die Ausbildung sollte kontinuierlich durchgeführt werden. Es war auch eine Besoldung vorgesehen, um die Einsatzfreude zu mobilisieren. Jede Verfehlung sollte bestraft werden, sei es seitens eines Offiziers oder Soldaten. Die Bestrafung sollte jeweils ein Exempel statuieren. Die Vorschriften waren streng zu befolgen. Rasid Efendi wollte, dass die Janitscharen bleiben. Für die Finanzierung machte er keine Vorschläge, obwohl er hätte wissen müssen, dass die Staatskasse beide Regimenter nicht tragen konnte.55 Reşid Efendi wies aber vor allem auf einen bedeutsamen Aspekt hin: sollten die neuen Truppen den Janitscharen einverleibt werden, dann würden diese Truppen die undisziplinierten aber doch den Ton angebenden Janitscharen stärken, wenn nicht, dann würden die Janitscharen versuchen, diese Truppen zu bekämpfen.56

[...]


1 Cihangir-i bî-naẓir Welteneroberer

2 Vgl.: Şehsuvaroğlu, Üçüncü Sultan Selim´in ileri düşünceleri, S. 45 Karal, Selim III ün Hatti hümayunlari S. 2 f

3 Vgl.: I.H..Uzunçarşili, Devşirme, S. 563, I A Das System der Devşirme wurde von Murād I. (1359 - 1389) entwickelt. Devşirme bedeutet Knabenaushebung für die Janitscharentruppe

4 Vgl.: C. Brockkelman: Geschichte der osmanischen Geschichtsschreiber, S.339 f..

5 Vgl.: ders.a.a.O, S.349 f

6 Yamak sind Janischaren die in den Festungen Dienst tun

7 Vgl.: C. Brockkelman: Geschichte der osmanischen Geschichtsschreiber, S., 349

8 Vgl.: Tahsin Öz: Selim III. ün Sırkatibi Tarafından Tutulan Ruzname I”

9 Vgl.: E.Z Karal: Bd.1, Sultan Selim III hatti humayunlari Bd.2, Sultan Selimin hatti humayunlari: Niẓam-i cedid

10 Vgl.: ders.: Nizam-i cedide dair layihalar, Tārīḫ Vesikalari 1942

11 Vgl.: I.H.Uzunçarşili: S elim III'ün Veliaht İken Fransa Krali Lüi XVI İle Muhabereleri T.Öz: Fransa Krali Louis XVI`nin Selim III.`e Namesi

12 Vgl.: E.Z.Karal: Halet Efendinin Paris Büyük Elçiliği

13 Vgl.: Aḥmed Cevdet Pascha: Osmanli Tārīḫi

14 Vgl.: Aḥmed Rasim, Rasim Osmanli Imparatorluğu`nun Reform Çabalari Içinde Batiş Evreleri, S.15 ff

15 Vgl.: ders., Osmanli Tārīḫi, Bd. 4,

16 Vgl.: Aḥmed Refiḳ, Kabakci Mustafa

17 Vgl.: Zinkeisen, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 6 und Bd .7

18 Vgl.: Iorga Geschichte des Osmanischen Reiches Bd 5

19 Vgl.: Shaw & Shaw Ottoman History Bd 1, S 265 ff

20 Vgl.: Stanford J. Shaw, Ottoman Navy, S.168

21 Vgl.: Shaw&Shaw, Ottoman History Bd.1, S.266

22 Vgl.: Shaw & Shaw, a.a.O., S. 264

23 Vgl.: Noradounghian: Recueil d´Actes Internationaux Bd.1 Vertrag von Kücük Kaynarca, S.319 ff Artikel 2.

24 Vgl.: I.H.Uzunçarşili . S. Iorga, Osmanische Geschichte, Bd.5, S.20 f

25 Vgl.: I.H.Uzunçarşili, Selim III. Ve Koca Yūsuf Paşa, S. 238 ff ders.: Sadrazam Ḫalil Ḥamīd Paşa, S. 248 ff

26 Vgl.: Nuradounghian Bd.2, S.6 ff Vertrag von Ziştovi

27 Vgl.: ders.a.a.O., S.3 ff Osmanisch- Preusisches Abkommen vom 31.01.1790 Beydilli, Osmanli Prusya ittifaki S.76 ff

28 Vgl.: Nuradounghian Bd.2, S.1 ff Osmanisch.- Schwedischer Abkommen

29 Vgl.: Beydilli, Osmanli Prusya ittifaki, S.48

30 Vgl. ders.a.a.O., S.16 ff

31 Scharia bedeutet in der arabischen Justizsprache das göttliche Gesetz Vgl.: Schacht, Serīʻat, S.429-435, IA, Bd.11

32 Fiqh, Kelam Koranrezitation, Koranauslegung usw.

33 Die islamische Rechtsterminologie kennt nur zwei Staatsformen. 1. Der islamische Staat (dar-al islam / Haus des Islam) Vgl.: IA, S.492, Bd.3, Abel. Dār al-Islām, S.127 f, 2. Der nichtislamische Staat (dar-al harb / Haus des Krieges) Vgl.: IA, S. 492, Bd.3 Abel., Dār al-Ḥarb, S. 126 Einige Islamgelehrte sprechen noch von einer dritten Variante, der Dar al Sulh. In diesem Land leben Nichtmuslime, die die Herrschaft der Muslime jedoch anerkennen Vgl.: Abel, A, D.B. MaCdonald, Dar al Sulh, S. 490 f,

34 Vgl.: Heyd, Ilmiyye, S.1152 ff

35 Cezzar Aḥmed Pascha, Tepedelenli Ali Pascha, Işkodrali Maḥmūd Pascha usw.

36 Vgl.: Uzuncarsili.: Osmanli Devleti Teşkilatindan Kapi Kulu Ocaklari. Acemi Ocagi ve Yeniceri Ocagi Bd. 1 Ilgürel: Yeniçeriler

37 Vgl.: Barkan, Timar Vgl.: Sahillioglu, Zeamet

38 Reaya bedeutet in der arabischen Sprache, die zur Weide geführten.

39 VgI.: C. Keyder und H.Islamoglu Ein Interpretationsrahmen für die Analyse des Osmanischen Reichs

40 Vgl.: Karal, Selim III`ün hatti humayunlari, S.27 f.

41 Vgl.: Cevdet Pascha, Bd.4, S. Aḥmed und Selim Efendi sollen Befehl gegeben haben, dass Kafesfenster zuzumauern, damit Selim als auftrünniger Prinz nicht mehr nach draußen gucken sollte.

42 Später 1757 wird Mehmed Said Efendi für drei Monate zum Großwesir ernannt.

43 Gel gülelim oyniyalim hayati yaşiyalim

44 Vgl.: Karal, Osmanli Tarihi, Bd. 5, Nizam-I Cedid ,S 58 f.

45 Vgl-: Uzuncarsili, Halil Hamit Paşa

46 Uzunçarşili hält Ebu Bekir Ratib Efendi für den aufgeklärtesten Osmanen seiner Zeit. Vgl.: I.H.Uzunçarşili, Ebu Bekir Ratib Efendi…, S. 59, 70

47 Vgl.: Tārīḫ-i Cevdet, Bd.5, S.220

48 Vgl.: Karal, Nizam-i Cedide dair layihalar, S. 415 ff, TV, V.6

49 Vgl.: ders., Bd.5, S.215

50 Vgl.: Tārīḫ-i Cevdet, Bd. 5, S. 245 Karal, Selim III`ün Hatlari Niẓam-i Cedid S.39 f. ders., Nizam-i Cedide dair layihalar S.430 1943, V.12, S. 350, V.11, 1943

51 Vgl.: Tārīḫ-i Cevdet, Bd. 5, S 223 Karal, Nizam-I Cedide dair layihalar, S.419,1942 V. 6

52 Vgl.: ders.a.a.O., S. 420, S.350, V.11, 1943

53 Vgl.: Tārīḫ-i Cevdet, Bd. 5, S. 222

54 Vgl.: Tārīḫ-i Cevdet, Bd. 5, S. 225

55 Vgl.: Karal, Nizam- Cedide dairlayihalar 420 ff 1942 6

56 Vgl.: Tārīḫ-i Cevdet, Bd. 5, S. 225 Karal, Nizam-i Cedide dair layihalar, S.415 ff, TV, V.6, S.351 f, V.8, S.429, V.12

Ende der Leseprobe aus 156 Seiten

Details

Titel
Nizâm-ı Cedîd. Die Reformen Sultan Selim III. (1789-1807)
Autor
Jahr
1998
Seiten
156
Katalognummer
V1033195
ISBN (eBook)
9783346446947
ISBN (Buch)
9783346446954
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nizâm-ı, cedîd, reformen, sultan, selim
Arbeit zitieren
Fahri Özkul (Autor:in), 1998, Nizâm-ı Cedîd. Die Reformen Sultan Selim III. (1789-1807), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1033195

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