Der negative Familientisch


Skript, 1997

3 Seiten


Leseprobe


Medienkritik von Günther Anders:

Der negative Familientisch

In seinem 1956 erschienenen Band „Die Antiquiertheit des Menschen“ setzt sich der Technikkritiker Günther Anders mit dem damals noch neuen Fernsehen auseinander. Nach Anders wird der Mensch vom Fernsehen zur Unmündigkeit und Hörigkeit erzogen. Der soziale Kitt der Gesellschaft bröckelt.

Der Philosoph Günther Anders, bekannt als unermüdlicher Warner gegen die atomare Bedrohung, wird in der Fachwelt gerne ignoriert. Daran ist er jedoch nicht ganz unschuldig. So hat er nicht nur eine akademische Laufbahn in den 50er Jahren ausgeschlagen (er sollte Ordinarius der FU Berlin werden) und es gewagt, gegen die Philosophie zu philosophieren; er hat auch seine Medienkritik „Die Welt als Phantom und Matrize“ in erster Linie an die Konsumenten, also die Hörer und Zuschauer gerichtet und erst in zweiter Linie an Berufsphilosophen oder Rundfunk- und Fernsehfachleute. Anders’ Kritik am Fernsehen mußte in ihrer Klarsicht und Präzision die Euphorie der Zeitgenossen über das neue Medium verstören.

Jenseits von Mittel und Zwecken

Am Beginn der analytisch scharfsinnigen Medienkritik von Günther Anders steht die Auseinandersetzung mit der Illusion, die besagt, es käme ausschließlich darauf an, was wir aus Rundfunk und Fernsehen machen, „... für welche Zwecke wir sie als Mittel einsetzen: Ob für gute oder für schlechte, für humane oder antisoziale.“1 Die Aufteilung in Mittel und Zwecke ist nach Anders nur bei Einzelhandlungen und isolierten maschinellen Prozeduren legitim. In der Tat: Wer heute ernsthaft behauptet, es käme bei der Atomkraft ausschließlich darauf an, ob man sie für friedliche oder für militärische Zwecke nutze, dem müßte man im günstigsten Falle Denkfaulheit bescheinigen - wozu das Fernsehen nach Günther Anders ohnehin erzieht. Ebenso gilt dieser Logik folgend: Wer ausschließlich danach fragt, zu welchen Zwecken Auto gefahren wird, wird sich nicht dafür interessieren, ob das Fahren selbst schon ein Problem darstellt - nämlich ein ökologisches. Und wer meint, daß das Fernsehen ein ausgezeichnetes Mittel sei, um bei einem guten Film den Zusammenkünften der Familie einen Reiz zu geben, der vergißt die Wirkung des Fernsehens jenseits von Mittel und Zwecken - vielleicht nicht die ökologischen Folgen, dafür aber die sozialpsychologischen.

Der negative Familientisch

Der Technikkritiker Anders meint in seiner Schrift aus den 50er Jahren seit Jahrzehnten feststellen zu müssen, was neuerdings die kommunitaristische, am

Gemeinsinn orientierte Strömung laut beklagt: der soziale Kitt leidet an Schwindsucht, und die Familie ist im Begriff sich aufzulösen. Der Masseneremit, wie Anders den in Massen vereinzelt lebenden, in seine Privatheit verbannten Menschen bezeichnet, tritt den Siegeszug an. Hierbei schreibt Anders dem TV eine Schrittmacherfunktion zu. Er erkennt, daß das „soziale Symptommöbel der Familie: der massive, in der Mitte des Zimmers stehende, die Familie um sich versammelnde Wohnzimmertisch“ beginnt „seine Gravitationskraft einzubüßen... Nun erst hat er, eben im Fernsehapparat, einen echten Nachfolger gefunden; nun erst ist er durch ein Möbel abgelöst, dessen soziale Symbol- und Überzeugungskraft sich mit der des Tisches messen darf, was freilich nicht besagt, daß TV nun zum Zentrum der Familie geworden wäre. Im Gegenteil: was der Apparat abbildet und inkarniert, ist gerade deren Dezentralisierung, deren Exzentrik; er ist der negative Familientisch.“2

Sprachverkümmerung

Der Tisch war der gemeinsame Mittelpunkt, der die um ihn sitzenden Familienmitglieder dazu angehalten hatte, die Blicke und Gespräche hin und her spielen zu lassen, anders der Fernsehapparat, welcher zum gemeinsamen Fluchtpunkt wird. Die Sitzordnung vor der Mattscheibe läßt die Möglichkeit, einander anzusehen aus Versehen zu; miteinander zu sprechen wird zur Seltenheit. Die Sprache verkümmert. „Denn was man lernt, ist eben nur das Hören. In die aus diesem Grunde bei Unterhaltungen immer wieder entstehenden Lücken dröhnt, z. B. in den Diskotheken, ein Musiklärm, der Miteinandersprechen nicht nur unmöglich macht, sondern auch darauf abzielt, die Tatsache zu übertäuben, daß man miteinander nicht mehr sprechen will, kann oder können will oder wollen kann.“3 In allen Kultursprachen sei eine „Sprachvergröberung, -verarmung und -unlust“4 zu verzeichnen. Der von den elektronischen Medien behandelte Mensch wird infantil, nämlich unmündig und hörig.

Die Welt wird mediengerecht

Die Sprache verkümmert, wo alle hörig werden. Auch eigene Erfahrungen werden kaum noch gemacht. Schließlich kommt die Welt durch die Kluturwasserhähne Radio und Fernsehen ins Haus, weshalb wir nicht mehr eigens zu ihr hinausfahren. Das geht so weit, daß nur das als wirklich gilt, was als Welt auf dem Bildschirm erscheint. Der Schein wird zum Sein, die Welt zum Phantom und zur Matrize. In ihr findet ein Ereignis auf Grund einer mediengerechten Verwertbarkeit statt: Fußballspiele, Politikerreden, Aktionen und Demonstrationen. „Am Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt.“5

Abschied vom Humanismus?

Mit der globalen Bilderflut beginnt für Anders das „postliterarische Analphabetentum.“6 Heute sind freilich die die Analphabeten der Zeit, die den digitalen Code nicht verstehen. Sie sind die antiquierten Geschöpfe in der technischen Welt von heute und damit - aus Sicht der technischen Welt - überflüssig. Soll der Mensch „überflüssig“ und damit human bleiben? Auf die Frage, ob mit dem Titel „Die Antiquiertheit des Menschen“ Anders Motive dafür geben wollte, antiquiert zu bleiben, oder ob der Sachverhalt nur zu beklagen sei, hat er zunächst ausweichend geantwortet: „Weder noch“, um dann für die Rettung des ökologisch gefährdeten und atomar bedrohten Menschen das Wort zu ergreifen.7 Die technischen Revolutionen bringen Anders zufolge aber nicht nur eine Gefährdung der Ökosysteme mit sich, sondern zersetzen im Falle der von ihm kritisierten Medien auch das soziale Zusammenleben der Menschen und stellen das Verhältnis von Sein und Schein auf den Kopf. Dagegen hat Anders in der „Welt als Phantom und Matrize“ angeschrieben. Er empfahl daher auch dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly, mit dem er in den späten 50er/frühen 60er Jahren einen Briefwechsel führte, sein Schicksal in Hollywood nicht verfilmen zu lassen, da es damit zur Matrize für die Produktion von Unterhaltungsware werde. Später meinte Anders aber, Verfilmungen könnten besser sein als nichts - er meinte dabei den Film „Holocaust“, der die Vergangenheit den Zeitgenossen näher gebracht habe8

Volker Kemp f

Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien unter der Ü berschrift „ Das Ende der Humanität “ im Journal „Ö kologiePolitik “ , Heft März 1997, S. 11.

Weitere Texte zur Philosophie von Günther Anders unter: http://www.volker- kempf.de/anders.html

[...]


1 Anders, Günther: Die Welt als Phantom und Matrize, in: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck, 7. Auf. 1992, S. 97-213, hier S. 99.

2 Ebenda, S. 105f, Hervorhebung im Original.

3 Anders, Günther: Ketzereien, München: C. H. Beck, 1982, S. 184.

4 Anders, Günther: Die Welt als Phantom ..., a. a. O., S. 109.

5 Ebenda, S. 191.

6 Ebenda, S. 3.

7 Vgl. das Interview von Matthias Greffrath: Den Tod der Welt vor Augen, in: Schubert, Elke (Hg.): Günther Anders antwortet, Berlin, 1987, S. 65f.

8 Vgl. Anders, Günther: Vorwort, in: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, a. a. O., S. XII-IX; sowie ders.: Besuch im Hades, München: C. H. Beck, 1979, S. 179-217; bzw. Anders, Günther: Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders (1959- 1961), in: Hiroshima ist überall, München: C. H. Beck, 1982, S. 191-361

Ende der Leseprobe aus 3 Seiten

Details

Titel
Der negative Familientisch
Autor
Jahr
1997
Seiten
3
Katalognummer
V103350
ISBN (eBook)
9783640017287
Dateigröße
330 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Durchgesehene und korrigierte Fassung
Schlagworte
Fernsehen, Medienkritik, Günther Anders, Familie
Arbeit zitieren
Volker Kempf (Autor:in), 1997, Der negative Familientisch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103350

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der negative Familientisch



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden