Das Todesmotiv in Arthur Schnitzlers "Fräulien Else"


Hausarbeit, 2000

14 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.Das Todesmotiv
2.1. Das Todesmotiv im Zusammenhang mit dem Inneren Monolog
2.2. Der Verlauf des Todesmotivs
2.3. Der Tagtraum
2.4. Die Todesmotivik in der Schlussszene

3.Literaturverzeichnis
3.1. Zitierte Literatur
3.2. Zur Kenntnis genommene Literatur

1.Einleitung

In verschiedenen Erzählungen von Arthur Schnitzler kann man immer wieder den Tod als zentrales Element ausmachen. So tritt beispielsweise in „Sterben“ (1895) der Tod in Form einer Lungentuberkulose auf, oder bei „Leutnant Gustl“ (1900) in Form der Selbstmordge- danken. Auch in der Novelle „Fräulein Else“1 ist der Tod als Leitmotiv, neben diversen ande- ren (Bsp. Spiel-, Spiegelmotiv) zu erkennen und zieht sich demzufolge durch die gesamte Erzählung. So beschreibt Arthur Schnitzler in „Fräulein Else“ die Konfliktsituationen und Gefühle eines jungen Mädchens, das zum Teil sehr unsicher sowie wehmütig ist und sich auf Grund der finanziellen, familiären Lage in einer sehr schwierigen Situation befindet. Meine Darstellung der Todesmotivik soll sich möglichst nahe am Text halten, da meiner Mei- nung nach so auch am besten die wichtigsten, komplexesten Punkte dargestellt werden kön- nen. Es sollen zwar auch folgende Texte mit einbezogen werden „Arthur Schnitzler und der weibliche Diskurs“2, „Selig wer in Träumen stirbt“3 sowie „Die Gespaltenheit der Existenz, Narzißtische und exhibitionistische Züge in „Fräulein Else““4, aber grundsätzlich soll der Text die Basis der folgenden Darstellung sein.

2. Das Todesmotiv

2.1. Das Todesmotiv im Zusammenhang mit dem Inneren Monolog

Bei der Erzählung „Fräulein Else“ handelt es sich um eine Innere-Monolog-Novelle, die nur zum Teil durch Dialoge unterbrochen wird. Der Leser erfährt die Gefühle, Empfindungen, Erinnerungen, Handlungen, wie auch die intimsten Wünsche, Ängste, Phantasien und Träume der Hauptfigur unmittelbar von der weiblichen Protagonistin Else in Form von Assoziations- ketten. Durch diese Erzählform wird auch das Todesmotiv deutlicher dargestellt, weil man unmittelbar alles von Else erfährt, obwohl man dabei auch die Subjektivität nicht vergessen darf. Die Außenwelt wird dem Leser auch nur subjektiv vor Augen geführt, da diese sich in Elses Empfindungen widerspiegelt und nicht konkret von einem außenstehenden Erzähler beschrieben und bewertet wird. Demzufolge kann man nur von dem ausgehen was und wie Else etwas schildert. Durch diese Darstellungsform ist es dem Leser möglich im Laufe der Erzählung mitzuverfolgen, wie Else sich immer mehr dem Tod annähert. Die Präsenz der Todesmotivik wird besonders in den Ängsten von Else deutlich.

Am Ende der Novelle stehen nur noch kurze Assoziationen, die scheinbar ungeordnet und willkürlich von der sterbenden Else aneinander gefügt wurden. Die drei Punkte am Ende zeigen unter anderem auch die Einschränkungen auf, die der innere Monolog mit sich bringt. Das ‚Sterben‘ der Fräulein Else kann nicht weiter verfolgt werden, da ihr Bewusstseinsstrom genau an dieser Stelle endet, und genau dieser Strom hat dem Leser bis dahin alles an Gedanken von Else zukommen lassen. So endet die Novelle mit einem „Schluss“ in doppelter Hinsicht. Zum ersten ist die Erzählung zu ende, und zum anderen bleibt ein gewisser Raum für einen eigen Schluss, in Form einer Schlussfolgerung.

2.2. Der Verlauf des Todesmotivs

Die Erzählung setzt sofort mit einer signifikanten Aussage Elses ein, die sich von Paul verab- schiedet, weil sie ein Tennisspiel mit ihm und Cissy nicht mehr weiter fortsetzen möchte. Sie selbst sagt: „[...], ich kann nicht mehr.“ (S.9), was man in unterschiedlichster Weise deuten kann, beispielsweise sozial. In Bezug auf das Todesmotiv könnte man an dieser Stelle bereits die ersten Anzeichen für eine Lebensermüdung Elses sehen. Ergänzend dazu wäre es denkbar, dass es sich dabei auch um eine Vorausdeutung auf den eventuellen Tod in Form des Selbstmordes Elses handelt.

Als sie sich auf den Weg zum Hotel macht, beginnt sofort der innere Monolog und sie stößt unweigerlich in ihren Gedanken auf den Expressbrief von ihrer Mutter, den sie bereits vor dem Tennisspiel erwartet hatte. Noch bevor sie den Brief erhält, spricht sie von dem Veronal, dass sie auf Grund ihrer Menstruationsbeschwerden an diesem Abend noch nehmen möchte (S.12). Die Wirkung von Veronal als Schmerz-, Beruhigungsmittel ist ihr ebenso bekannt wie die berauschende Wirkung von Wein, Champagner sowie Haschisch. Ihr ist zudem durch die Rauschmittel die Flucht aus der Realität möglich. Im Verlauf der Erzählung tritt das Motiv des Rausches immer wieder im Zusammenhang mit der Todesmotivik auf. In absolut gestei- gerter Form als sie mehrere Pulver Veronal in Wasser aufgelöst zu sich nehmen möchte. Als sie die Mitteilung der Mutter erhalten hat, reflektiert sie schon vor dem Öffnen des Brie- fes über den Tod. Die eigene Frage nach ihrem Leben im Alter von vierzig Jahren beantwortet sie mit einem „Vielleicht schon tot.“ ( S.13). Der Tod ist an dieser Stelle schon ein Teil von Else geworden, und die Angst, die sie vor dem Brief hat, wird dadurch auch deutlich. Selbst spricht sie sich an, fragt sich ob sie den Brief, den sie unbewusst geöffnet hat, nicht endlich lesen möchte. Als sie sich auf das Fensterbrett setzt, assoziiert sie gleich einen Fenstersturz samt ihrer Todesmeldung (S.14). Nach Beginn des Lesens denkt sie als erstes an den Tod ih- rer Eltern. Im Verlauf der Nachricht erfährt sie, dass ihr Vater Schulden in der Höhe von zu- nächst 30.000 Gulden hat, die sich aus veruntreuten Mündelgeldern zusammensetzen, und sich auch auf 50.000 Gulden erhöhen (S.52). Innerhalb von zwei Tagen muss die Familie das Geld bei Doktor Fiala abgegeben haben (S16), da dem Vater ansonsten eine Haftstrafe droht. Weil aber die Familie das Geld nicht beschaffen kann, soll Else einen Freund (Herr von Dors- day) der Familie um das Geld bitten.

Die familiäre Situation ist seit mehreren Jahren zerrüttet, aber die Bitte der Eltern, die auch impliziert, dass sich Else verkaufen soll, wenn nötig, lässt Else vollkommen aus dem Gleich- gewicht geraten. Gänzlich erschüttert scheint ihre kleine Welt. Es wird deutlich, dass sie die gesellschaftlichen, ebenso wie die familiären Wertvorstellungen mit ihren Träumen nicht ver- einbaren kann. In der Außenwelt hat sie keinen Halt mehr. Möglich wäre es aber auch, dass Else den Halt schon viel eher verloren hat. Sie vertritt die Ansicht, dass in ihrer Familie jeder vor dem anderen Angst hat (S.25). Dazu kommt auch, dass sie über nur sehr wenig sinnvolle Lebensvorstellungen verfügt. Else ist geprägt von ihren Träumen, von französischen Gedich- ten und Romanen, die ihre Vorstellungen so beeinflussen, dass sie nicht selber auf einen sinnvollen Gedanken kommt, weil ihr gewünschtes Leben auch eine Selbstillusionierung darstellt. Obwohl sie nach Amerika heiraten möchte, will sie keinen Amerikaner (S.9). Sie ist sich in keiner Sache sicher, was auch zu der instabilen Verfassung beiträgt.

Die Mitteilung der Mutter beinhaltet geschickt eingesetzte Euphemismen wie „[...] lächerliche Summe [...]“ (S.14), oder „[...] dreißig bedeuten für Dorsday auch keinen Betrag. […]“ (S.16), die im Kontrast zum Todesmotiv stehen.

Im Verlauf der Handlung versucht sie Alternativen aufzudecken, die es ihr ermöglichen könn- ten den Weg zu Dorsday zu verhindern. Einerseits denkt sie über ein Gespräch mit Paul nach (S.20, 37), der seinen Vater um Geld bitten soll, weil sich Paul sonst erschießen müsste, oder Paul soll Dorsday erschießen (S.36). Eine weitere Alternative, die sie immer wieder durch- spielt ist die, dass ihr Vater sich umbringen soll (S.33, 36). So umfasst das Motiv des Todes nicht nur Else, sondern auch nahestehende Personen. Den Tod, den sie in wiederholter Weise für sich und andere in Betracht zieht, soll die Konflikte lösen, die sich durch die Nachricht noch zugespitzt haben. Weil dies aber nicht möglich ist, flieht sie oft aus der Realität in Träume, Wünsche und den Tod.

Allein der Gedanke an ein Gespräch mit Herrn von Dorsday, macht ihr so zu schaffen, dass sie überlegen muss, wo das Veronal ist: „[…] Die Schachtel mit dem Veronal hab` ich bei den Hemden.[…]“ (S.23 oder auch S.25).

Als es zu dem Gespräch zwischen Else und Dorsday kommt, Else ihm die Situation erklärt hat, hat sie die klare Einsicht, dass sie gehen sollte und ihr Vater sich umbringen muss (S.33). Dennoch kann sie, so sehr sie sich es auch wünscht, nicht ausbrechen, weil sie nicht in der Lage ist ihre gesellschaftliche Position aufzugeben. Zu dieser Zeit war es Frauen aus der gehobeneren Schicht nicht möglich sich finanziell selbst abzusichern, weil eine Arbeit eine Deklassierung zu Folge gehabt hätte. Das ist auch der Grund, weshalb sie ihren Eltern diese Bitte nicht abschlagen kann. Sie ist gefangen in sozialen Zwängen. Durch diesen Zusammenhang wird in der Novelle, die subjektive Innensicht von einer Person geöffnet, man erhält einen objektiveren Einblick in eine sozialkritische Erzählung.

Else ist sich den Zwängen bewusst, meint dass das Leben eine Schande ist und es „Am besten wär(e)’s, sich dort von dem Felsen hinunterzustürzen […].“ (S.33). Der Ausbruch gelingt ihr nicht, so dass sie sich den Wunsch Dorsdays anhören muss. Er möchte Else in ihrer vollkom- mener Nacktheit sehen, nur „[…] eine Viertelstunde […] in Andacht vor ihrer Schönheit.“ (S.35). Daraufhin fühlt sie sich „gelähmt“ (S.35), ist nicht in der Lage etwas zu sagen. Ob- wohl Dorsday genau das verlangt, was Else aufgrund ihrer exhibitionistischen Neigungen eigentlich möchte, sich zu zeigen, ist sie trotzdem erschüttert. Das liegt sicherlich daran, weil er es verlangt.

Aurnhammer vertritt die Ansicht, dass Else dem Gespräch mit Dorsday nicht gewachsen ist5. An Wortwiederholungen und an Fragen, die sich Else selbst stellt [Bsp. „Wie merkwürdig meine Stimme klingt. Bin das ich, die da redet?“ (S.29)], macht Aurnhammer eine Ich- Dissoziation fest. Dazu kommt, dass man die Perspektivlosigkeit, ihre Flucht in die Phantasie, sowie ihr fehlendes Ich, durch ihre gesellschaftliche Abhängigkeit auch zu der Ich- Dissoziation rechnen kann. Else hat, sofern man von einer eigenen Identität sprechen kann, eine nach außen hingelenkte Identität. Ihr Selbstbild besteht nur daraus, wie sie die anderen sehen, beziehungsweise, was sie glaubt, was die anderen in ihr sehen. Ergänzend dazu wäre es möglich zu sagen, dass sich Else immer mehr von ihrem tatsächlichen, realen Zustand ent- fernt, um so mehr sie träumt, um so intensiver ihre Wünsche und Vorstellungen werden, die jedoch nie Erfüllung finden können, weil sie nicht direkt ihrer Selbst entspringen. Weil sie zu keinem Entschluss fähig ist, muss sie Dorsday so gehen lassen, ist „regungslos“ (S.36), meint dass sie halbtot ist. Die bereits erwähnte Alternative, dass ihr Vater sich um- bringen muss, kann sie nicht in Betracht ziehen, was sie zu weiteren Überlegungen zwingt, denn „Ein Menschenleben steht auf dem Spiel.“ (S.35). Plötzlich ist sie sich sogar sicher, dass sich ihr Vater nicht umbringen würde. Er würde lieber in ein Gefängnis gehen. Aber selbst das kann Else nicht zulassen, weil ihr der gesellschaftliche Abstieg drohe. Es kommt also nichts anderes in Frage, als dass sie sich verkauft. Die Aufforderung von Herrn von Dorsday, ist für sie absolut unerträglich. Sie würde sich lieber vor Paul oder dem Römerkopf nackt zei- gen. Aber in diesem Moment (S.38) scheint ihr dieser Gedanke im Unterbewusstsein auch nicht realisierbar. Sie denkt im nächsten Satz gleich wieder darüber nach, was wäre, wenn sie nachher sterben würde. Diese Äußerung wird ebenso dementiert von ihr, denn es sei nicht notwendig zu sterben.

Wieder und wieder kommt sie auf das Geld zurück, wie auch auf den Tod des Vaters, denn sie kann ihm nicht helfen. Auf der einen Seite will sie, dass er sich umbringt, dann nimmt sie es zurück, oder sie ist sogar der Meinung, dass er es von sich aus macht, was sie aber auch wie- derum bestreitet (S.40). Anhand dieser Kette von Vorstellungen, kann man sehen, dass sich Else in keiner Situation stark genug fühlt, um sich durchzusetzen. Sie steht gleichermaßen in einem zu starken Abhängigkeitsverhältnis zur Gesellschaft und hofft auf Reaktionen von au-ßen. Sie betrachtet allerdings die Gesellschaft oft kritisch, dennoch vermag sie auch nicht aus ihr zu fliehen, wodurch sie den Sprung zum eigenständigen Handeln nicht schafft.

2.3 Der Tagtraum

Ihr Tagtraum (S.42f.) beginnt ebenfalls mit gesellschaftlicher Bestätigung, die sie sich wünscht. Menschen sollen zu ihrem Begräbnis kommen und sie bedauern. So wie sie geweint hat als andere gestorben sind, so sollen andere auch um sie weinen (S.41f.). In ihrem Traum kommen sexuelle Motive ( Schlangen, Dorsday,...) , ebenso wie die Todes- motivik vor. Es kommt auch verstärkt das Wort ‚tot‘ vor und ergänzend dazu könnte man direkt meinen, dass Else ihren eigentlichen Tod voraus träumt. Sie hat sich angeblich mit Ha- schisch vergiftet, was nahe legt, dass man die Haschischvergiftung als Vorausdeutung sehen kann zu der Vergiftung mit Veronal. Herr von Dorsday soll ihr die letzte Ehre erweisen, denn er hat auch über Else die erste Schande gebracht. Diese Äußerungen machen deutlich, wie schwer es Else belastet sich nackt vor Dorsday zu zeigen, was sie schlussendlich in den Tod treibt. Es findet in diesem Traum alles Erwähnung, was sie bedrückt. Sie sieht sich als Tote, die aber scheinbar nackt am Strand ist. Selbst diese Konstellation ist für sie nicht ertragbar, die Rettung erkennt sie nur im Tod. Ihrer Meinung nach darf man Tote nicht so anschauen. Im Verlauf der Erzählung kommt es zu einer steten Steigerung der Gegebenheiten, die letzt- endlich in den Tod zu führen scheinen. Sie kann nicht in ihren Träumen verharren und dort den Tod genießen. Da kommt nur noch die Flucht in den realen Tod in Frage. Am Anfang steht noch ein ziemlich einfaches „Ich kann nicht mehr.“ (S.9). Als der Brief der Mutter angekommen ist, werden die Geldsorgen der Familie noch verstärkt, wobei Else förm- lich verkauft wird. Sie soll das Geld beschaffen.

Daraus wäre es möglich den Schluss zu ziehen, dass der Tod fast eigenständig die Handlung in bestimmte Bahnen lenkt. Der Tod hat von Else gewissermaßen Besitz ergriffen. Sie denkt nicht nur direkt an ihn, sondern sie verwendet den Begriff ‚tot‘ auch wortspielerisch. Der Tod wird in ihren Aussagen sprachlich präsent (Bsp. „[…] zu Tod lachen […]“ (S.56), „Den Tod hätte ich davon haben können.“ (S.52) ). Das zeigt, dass in ihrem Unterbewusstsein der Tod auch fest verankert ist, dass es in ihr eine Todessehnsucht gibt, was auch die Präsenz des To- des in ihrem Traum erklären könnte.

Als sie aufgewacht ist, glaubt sie sich an den geträumten Tod zu erinnern. Sie assoziiert gleich darauf, dass es ihr so besser ginge, denn sie hatte keine Sorgen. Sie sehnt sich an späterer Stelle sogar nach diesen Traum, nach dem toten Zustand (S.46).

2.4.Die Todesmotivik in der Schlussszene

Als sie sich das Gespräch mit Dorsday noch einmal vorstellt und sie ihm die Antwort gibt, ob sie sich nackt vor ihm stelle, spielt sie ebenfalls einige Todessituationen durch. Sie schreibt ihr Testament, bedauert sich, kommt aber wieder sehr schnell zu der Einsicht, dass sie sich nicht umbringen kann, weil sie viel zu feige ist (S.50). Dem gegenüber überlegt sie sich gleich im Anschluss, wieviel Veronal man benötigt, um sich umzubringen. „Wieviel Pulver braucht man denn? Sechs glaube ich. Aber zehn ist sicherer. Ich glaube, es sind noch zehn. Ja, das werden genug sein.“ (S.50). Zunächst glaubt sie sechs werden reichen, eventuell um sicher zu gehen, dass sie doch nicht stirbt. Die Päckchen mit dem Pulver stellen ihre einzige Rettung dar (S.54). Als ihr das bewusst wird, will sie sich diese nur anschauen, schüttet sie dennoch in ein Glas, denn „Es verpflichtet ja zu nichts.“ (S.54). Zur Sicherheit, dass niemand anderes davon trinkt legt sie einen Zettel zum Veronal, auf dem steht, es sei Medizin (S.57). In diesem Moment meint sie, „[…] die frühere Else ist schon gestorben.“ (S.57) und deshalb bräuchte sie dieses Veronal nicht. Das gibt ihr die Möglichkeit der Selbstmordsituation noch einmal aus dem Weg zu gehen. Es scheint, als wenn Else über sich und vor allem ihre Gedanken kei- ne Kontrolle hat. Sie ist sprunghaft, weiß nicht was sie will,... Wenn sie mit einer hartnäcki- gen Beständigkeit ihre Gedanken ‚ausspricht‘, sie im nächsten Augenblick dementiert, dann gleicht das einer Selbstillusionierung, die ihr in keinerlei Hinsicht bewusst zu sein scheint. Sie ist sich sicher, dass sie alles in der Hand hat. Wenn sie sich nicht umbringen möchte, nachdem sie sich entblößt hat und nur schlafen will, kann sie nur eine kleine Menge des Veronals trin- ken. Sie kann machen was ihr „beliebt“ (S.58). Sie verabschiedet sich auch vom Veronal (S.59). Jedoch ist es sicherlich so, dass sie gar nichts mehr in der Hand hat. Wenn dem so wäre, dass sie ihr Leben mit sämtlichen Problemen im Griff hat, dann würde sie nicht ununterbrochen an den Tod denken in irgendeiner Form. Sie würde sich ganz einfach nackt ausziehen, das Veronal wegschütten, ... Oder sie hätte vielleicht alles ganz anders ge- löst. Statt dessen macht sie sich aber auf in die Hotelhalle, denkt an ihren Tod auf dem Cimo- ne (S.61), ... Anhaltend reflektiert sie über den Tod, meint sogar, sie hätte das Veronal schon getrunken. Sie macht generell auch einen sehr abwesenden Eindruck.

Sie steigert sich so in die Situation des Nacktseins herein, dass es im Musiksalon zu ihrer Ent- blößung kommt, statt vor Dorsday allein. Sie fällt in eine Art Ohnmacht, hört aber alles was um sie herum geschieht. Sie selbst glaubt immer noch daran, dass sie schon gestorben sei (S.67), und jetzt nur träumt. Sie ist überzeugt, sich in einem Sterbezimmer zu befinden, weil alle nur flüstern. Die Todeskonstellation verdichtet sich immer weiter, bis sie in ihrem Zim- mer das in Wasser aufgelöste Veronal trinkt. Zunächst scheint es so als würde sie es akzeptie- ren, dass sie sterben wird (S.72), was sich aber gleich wieder ändert. Cissy hat den Namen Dorsday genannt, woraufhin Else in Panik verfällt, weil er nicht zahlen könnte. Sie will des- halb gerettet werden, um alles erklären zu können. Sie bittet um Hilfe, weil aber ihre Zunge vermutlich durch das Veronal bereits gelähmt ist, kann sie nicht sprechen. Ihr kann keine Hil- fe mehr zu Gute kommen.

Obwohl sie in eine Art Ohnmacht gefallen ist, kann sie noch die Energie aufbringen, sich mit dem Veronal zu vergiften. Es macht den Anschein, als würde sie die gesamte Situation voll- kommen überfordern. Dem gegenüber kann man glauben, dass Else sich doch eine gewisse Hoffnung macht gerettet zu werden, was erklären könnte, dass sie die Energie aufbringen konnte. Wenn sie einen schnellen und vor allem endgültigen Tod gewollt hätte, dann hätte sie sich aus ein Fenster stürzen können, aber auch dazu war sie zu feige, weil es die Endgültigkeit gewesen wäre.

Menschen, die sich umbringen möchten, wollen es eigentlich nicht wirklich. Sie möchten auf ihre Probleme aufmerksam machen, und dass sie diese von allein nicht mehr bewältigen kön- nen. Bei Fräulein Else ist es wahrscheinlich auch so. Sie möchte nicht sterben. Vielleicht ist ihr Tod, wenn dem so ist, auch nur ein tragischer Unfall, weil sie ursprünglich ja gerettet wer- den wollte.

Rolf Allerdissen sieht in diesem Selbstmord eine Art „Passivität“, die aber auch ihr Leben bestimmt hat.6 Es fehlt ihr an Energie sich aus dem Fenster zu stürzen. Was Allerdissen aber auch noch meint, ist, dass Dorsday von ihr eine widernatürliche Passivität verlangt, wenn er sie eine Viertelstunde im nackten Zustand beobachten möchte. Diese Passivität treibt sie auch in den Tod. Dieser Tod gibt ihr Sicherheit, weil sie auch mit ihren Träumen nicht für immer fliehen kann.7

Andrerseits kann man vielleicht eher sagen, dass Else sich nicht aus dem Fenster stürzt, weil sie gar nicht sterben möchte, und weil sie für diesen endgültigen Akt zu feige ist.

Den Konflikt, den sie in sich trug, dass sie sich vor Dorsday entkleiden soll, konnte sie auf diese Art der Entblößung nicht lösen. Man gesteht ihr ihre Körperlichkeit in gewisser Art und Weise zu, aber reduziert sie gleichermaßen darauf. Weil sie sich aber entblößen muss, dies jedoch „Moralisch unzulässig [ist] endet Elses erzwungener Exhibitionismus [,der zweifels- frei nachweisbar ist (Spiegel-, Fensterszenen, sowie die Träume in denen sie nackt auf Mar- morstufen liegt)] im Skandal“.8 Ulrike Weinhold nimmt logischer Weise an, dass es deshalb zu Elses Vernichtung kommen muss, weil man ihr ausgerechnet das genommen hat, was man ihr zugestanden hat. Man hat es erzwungen, aber gleichermaßen verurteilt. Sie zerbricht dem- nach an der Doppelmoral der Gesellschaft, sie kann die Erniedrigung, die ihr so entgegen kommt nicht ertragen. Diese Unmoral hat sie selbst aufgedeckt, sogar in Gedanken kritisiert, aber sich dem gefügt. Fräulein Else musste die Rolle, die von ihr verlangt wird, spielen, da wundert es auch nicht, dass sie einen gewissen Hang zur dramatischen Darstellung besitzt. Das Spielmotiv stellt ja auch ein weiteres Motiv dar, wobei man behaupten kann, dass das es an gewissen Stellen in die Todesmotivik greift (Bsp. als sie ihren Tod inszeniert samt Zei- tungsanzeige, wenn sie die Tote spielt, ...). Bis zu dem Punkt, dass sie fliegen möchte, weil sie so allein ist beim Sterben, spielt sie in Gedanken Prozesse durch, z.B. sie und Rudi beim Maskenball. Else kann so nicht zu sich finden, bleibt in ihrer Welt voller Reflexionen gefan- gen. Sie gibt auch allen Menschen in ihrem Leben die Schuld an ihrem Tod (S.72), bezeichnet jeden als „Mörder“, bis auf ihren Vater, der an der Lage den größten Anteil der Schuld hat. Warum ist schwer zu sagen. Man könnte meinen, dass sie ihn trotz alledem liebt, weil es ihr Vater ist, der eine gewisse Vorbildfunktion erfüllen sollte.

Sie träumt, dass sie fliegen kann. Zum Ende hin vermischen sich immer mehr Traum und Wirklichkeit, bis sie nur noch schlafen möchte und scheinbar nicht realisieren kann, dass sie stirbt. Sie erkennt die Unendlichkeit des Todes nicht und will nur noch schlafen, will in ihrer Traumwelt bleiben, nie mehr in die Wirklichkeit zurück, denn sie kann ja fliegen, will nicht mehr geweckt werden.

Traum und Wirklichkeit scheinen auch in der Erzählung ineinander überzugehen („[…]Vermengung von Subjektivität und Objektivität, Traum und Wachen, Literatur und Le- ben, […]“9 ). Selbst in ihren letzten Sätzen zitiert sie Satzfragmente aus zwei romantischen Liedern („Des Knaben Wunderhorn“ sowie ein Schlaflied von Clemens Brentano).10

Am Ende bleiben dennoch Fragen offen, wie die, ob Else nun sterben musste oder nicht. Es ist nicht eindeutig, wieviel Beutelchen Veronal sie in ihr Glas Wasser aufgelöst hat. Sie zählt zunächst sechs Beutelchen (S.54). Als sie es in das Glas schüttet, zählt sie nur bis fünf. In dem Moment in dem sie Hilfe versucht zu rufen, apathisch wirkt, meint sie sogar, es seien „[…], zehn Pulver, hundert.“ (S.73). Ebenfalls kann man nicht genau sagen, ob sie wirklich das gan- ze Glas ausgetrunken hat. Sie möchte „Keinen Tropfen verschütten.“ (S.72), aber das stellt nicht den tatsächlichen Beweis dar. Ebensowenig, dass sie nicht mehr sprechen kann, was auch eine vorübergehende Wirkung sein kann, wie ihre Müdigkeit. Ihre Äußerungen kann man hier auch nicht für ernst nehmen.

Der Arzt, den man gerufen hat, wäre für eine Rettung zu spät gekommen. „Der Direktor sagt, es kann bis zu vier Stunden dauern, bis der Doktor da ist.“ (S.67). Wenn man also davon ausgeht, dass die Dosis an Veronal ausreichend war, ist sie gestorben. Es hätte ihr dann keiner helfen können, weil niemand etwas von dem Veronal wusste. Vielleicht wäre es leichter zu klären, wenn man gewusst hätte, wieviel Veronal bereits in fünf Päckchen Veronal gewesen waren. Dann könnte man die Wirkung abschätzen. Es wäre auch möglich, dass bereits fünf gereicht hätten. Denn diese fünf waren sicher im Glas, was sie zum größten Teil auch sicher ausgetrunken hat, denn sie wollte nichts verschütten.

Mit Gewissheit kann man aber sagen, dass Fräulein Else sich am Ende der Novelle in einem Bewusstseinszustand nahe dem Tode befindet. Ihre letzten Visionen werden dem Leser deut- lich. Die drei Punkte am Ende signalisieren, dass es noch weiter ging. In welcher Hinsicht, bleibt offen. Vielleicht kommen noch einige Assoziationen, die Rettung, ...? Aber auf Grund der Erzählperspektive kann der Tod nicht vollständig dargestellt werden. Es gibt keine Erzählinstanz, die dem Leser mitteilt, dass die Hauptfigur gestorben ist oder erklärt und alles verdeutlicht wie es ausgeht. Die Welt der Fräulein Else erlischt für den Leser. Es bleibt also vermutlich bewusst offen, was passiert, ob es zu einer Rettung kam oder nicht. Wenn es doch zu dem Tod von Else gekommen ist, dann kann ich mich dem Zitat von Aurn- hammer, der einen Vers aus dem Schlaflied von Clemens Brentano zitiert nur anschließen: „Selig, wer in Träumen stirbt.“11

3.Literaturverzeichnis

3.1. Zitierte Literatur

Weinhold, Ulrike: Arthur Schnitzler und der weibliche Diskurs, Zur Problematik des Frauen- bildes der Jahrhundertwende. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik19 (1987), H.1, S.110-145.

Aurnhammer, Achim: Selig wer in Träumen stirbt, Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else. In: Euphorion 77 (1983), S.500-510.

Allerdissen, Rolf: Die Gespaltenheit der Existenz, Narzißtische und exhibitionistische Züge in „Fräulein Else“. In: Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Mora- lismus in seinen Erzählungen. In: Studien zur Literatur der Moderne, Bd.11, Bonn 1985.

3.2. Zur Kenntnis genommene Literatur

Boner, Georgette: Arthur Schnitzlers Frauengestalten, Zürich 1930.

Schmidt-Dengler, Wendelin: Inflation der Werte und Gefühle zu Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik / Reihe A, Bd.13. Akten des Internationalen Symposiums „Arthur Schnitzler und seine Zeit“. Hg. Giuseppe Farese. Beern / Frankfurt am Main / New York, Peter Lang Verlag 1985, S170-180.

[...]


1 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. In: Schnitzler, Arthur: Die Frau des Richters, Frankfurt am Main1990 (Fi- scher Taschenbuch 9409) ( Im Verlauf meiner Darstellung zitiere ich aus dieser Ausgabe). Erstmals wurde diese Novelle in der „Neuen Rundschau“ Nr.35, Heft 10, Oktober 1924 veröffentlicht.

2 Weinhold, Ulrike: Arthur Schnitzler und der weibliche Diskurs, Zur Problematik des Frauenbildes der Jahrhundertwende. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 19 (1987), H.1, S.110-145.

3 Aurnhammer, Achim: Selig wer Träumen stirbt, Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else. In: Euphorion 77 (1983), S.500-510.

4 Allerdissen, Rolf: Die Gespaltenheit der Existenz, Narzißtische und exhibitionistische Züge in „Fräulein Else“. In: Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. In: Studien zur Literatur der Moderne, Bd.11, Bonn 1985.

5 Aurnhammer, Achim: Selig wer in Träumen stirbt, Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else, a.a.O, S.505.

6 Allerdissen, Rolf: Die Gespaltenheit der Existenz, Narzißtische und exhibitionistische Züge in „Fräulein Else“. In: Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen, a.a.O., hier S.35.

7 Allerdissen, Rolf, a.a.O., S.36.

8 Weinhold, Ulrike: Arthur Schnitzler und der weibliche Diskurs, Zur Problematik des Frauenbildes der Jahrhundertwende. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 19 (1987), a.a.O., hier S.123.

9 Aurnhammer, Achim: Selig wer Träumen stirbt, Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else, a.a.O., hier: S.505.

10 Aurnhammer, Achim, a.a.O., S.509.

11 Aurnhammer, Achim, a.a.O., S.510

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Das Todesmotiv in Arthur Schnitzlers "Fräulien Else"
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2
Autor
Jahr
2000
Seiten
14
Katalognummer
V103401
ISBN (eBook)
9783640017799
Dateigröße
356 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es wird dargestellt, wie sich der Tod durch die gesamte Innere-Monolog-Novelle zieht.
Schlagworte
Todesmotiv, Arthur, Schnitzlers, Fräulien, Else
Arbeit zitieren
Nadin Mau (Autor:in), 2000, Das Todesmotiv in Arthur Schnitzlers "Fräulien Else", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103401

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