Dilettantismus als neue Dialektik bei Paul Bourget Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
Wird die menschliche Tätigkeit als ein kognitiver oder rezeptiver Prozess der Auseinandersetzung mit dem Leben betrachtet, erscheinen die Kunst und die Wissen- schaft als zwei relevante heterogene Funktionsbereiche, in denen die Anforderungen an das Individuum und seinen Modus Operandi, vorausgesetzt, es ist aktiv, am ehesten divergieren. Zu solchen Anforderungen bzw. Kriterien der Tätigkeit eines Individuums gehören unter anderem Dilettantismus und Professionalität, dessen unser gegenwärtiges Verständnis des Sachverhaltes konstituierende Abgrenzungspolarität: negativ – positiv und den Sinnrahmen: Nichtfachmann, Laie – Meister, Könner in Goethes und Schillers „Schemata“ zu einer Programmschrift des deutschen Klassizismus (1789/99) ihren Kulminationspunkt gefunden hatten.
Der Aufsatz von Paul Bourget „Über den Dilettantismus“ als Auszug aus den 1883 in Buchform veröffentlichten, die geistige Situation der Décadence- oder Fin de Siécle – Zeit beleuchtenden kulturkritischen Essays bietet eine andere Auslegung des Phäno- mens des Dilettantismus, deren Auffassung auf den Gegensatz zur Meisterschaft und Professionalität verzichtet und das Phänomen mit psychologischer Sinnerweiterung komplementiert.
Am Beispiel Ernest Renan (1823 – 1892), dem bekannten Religionswissenschaftler und Schriftsteller seiner Zeit, expliziert Bourget neben dem positiven auch den wider- sprüchlichen Charakter des Dilettantismus, wobei die Verlagerung des Kritikschwer- punktes von der qualitativen Inkompetenz in Richtung der „skeptisch – relativistischen
„Alles – Verstehen“ - Disposition[1] auftretender psychologischer Fluktuation hin zu be- obachten ist, welcher dem Leben oder der willensstarken Entscheidung entgegengesetzt wird.
1. Neue Dialektik intellektueller Metamorphose
Als eine neue „Dialektik“ des zum beweglichen und geschmeidigen Denken fähigen Geistes, welche an der unendlichen Reichhaltigkeit der Dinge einen Anteil gewinnt, definiert Bourget das während der Décadence – Zeit zur neuen Blüte gelangte Phäno- men des Dilettantismus. Diese „sehr scharfsinnige und gleichzeitig angenehme Veran- lagung des Geistes...“, was auf ihren intelligiblen Entstehungscharakter hinweist, ver- anlasst uns dazu, uns allen verschiedenen Äußerungen dieser Reichhaltigkeit im Leben
„vorübergehend anzupassen, ohne uns einer einzigen völlig hinzugeben.“ Der Skepti- zismus im philosophischen Sinne, also als Standpunkt des grundsätzlichen Zweifels (und nicht des Zweifels, der durch „die Unmöglichkeit, sich irgendeine Gewissheit zu verschaffen“ hervorgerufen wird) an der Möglichkeit, zu einer absolut sicheren Er- kenntnis der Wahrheit zu gelangen als Gegenteil zum Dogmatismus und zur „pyrrho- nistischen Skepsis“ konstituiert die Grundhaltung des Dilettanten nach Bourget. So eine Position basiert auf dem Verständnis der Relativität gesellschaftlicher Systeme, für wel- che die technische und vor allem naturwissenschaftliche Entwicklung, „die übermäßige Erzeugung der Phänomene“ kausal erscheinen. Infolgedessen kann man nicht in dieser Welt von der absoluten Wahrheit, außer mathematisch beweisbaren im Theoretischen und dem Herkommen im Sozialen ausgehen, weil schon die theoretische Möglichkeit des Vorhandenseins der Antithese den Anspruch auf die absolute Wahrheit der These dementiert. So eine skeptische Haltung, welche gleichzeitig mit dem intellektuellen Kosmopolitismus verglichen werden kann, ermöglicht dem Dilettanten nicht einen fes- ten Standpunkt im Sinne konkreter Überzeugungen oder bestimmter ideologischer An- hänglichkeit zu vertreten. Er akzeptiert sowohl die Mannigfaltigkeit der Positionen als auch den Dissens, hält aber an keiner dogmatisch fest. Aus dieser Dilettantismuskon- zeption wird die positive Einfärbung des Phänomens evident. Diese Art der Denkweise, so Bourget, ermöglicht dem Dilettanten die Universalität und Unkonventionalität seiner Tätigkeit, wobei die Synthese der Kunst und der Wissenschaft, für welche Ernest Renan als Beispiel gilt, als eine der Ausdrucksformen solcher intellektueller Mehrdimensiona- lität gelten kann, welche Bourget mit dem Traum eines Dilettanten „eine Seele mit tau- send Spiegelflächen zu besitzen, um alle Züge der unfassbaren Isis widerzuspiegeln“ vergleicht. Die in der ägyptischen Mythologie in heterogene Bezüge interpretierte Isis wird hier im Sinne der in sich die ganze Götterwelt begreifenden Allgöttin verstanden, was noch einmal die Universalität des Dilettanten unterstreichen soll. Zu den „berühm- ten Dilettanten“ zählt Bourget auch Weibiades, Leonardo da Vinci, Caesar, Montaigne und Shakespeare. Allen war gewisse Universalität eigen, alle beschäftigten sich mit mehreren Wissensbereichen, wobei der Übergang aus einem Bereich in den anderen als eine „sinnreiche intellektuelle Metamorphose“ bezeichnet werden kann. Zur „sentimen- talen Metamorphose“ wird sie dann, wenn die „unsicheren Schwankungen“ des „Ver- ständnisses zu Gunsten der Laune der Einbildungskraft“ ausgenutzt werden. Beide Me- tamorphosen als implizite Bestandteile des Dilettantismus als einer „sinnreichen Wis- senschaft“ werden von der Kunst, „den Skeptizismus in ein Werkzeug des Genusses zu verwandeln“, begleitet. Wie aus dem Kontext der Einleitung zur Ausgabe der „Psycho- logischen Abhandlungen über zeitgenössische Schriftsteller“, zu entnehmen ist, deren Auszug der Aufsatz „Über den Dilettantismus“ ist, versteht Bourget unter dem „Ge- nuss“ den Genuss der Leserschaft, der bei der Rezeption literarischer Werke entsteht. Dabei betrachtet Bourget den Dilettantismus als einen der Gründe, welcher die von ihm im Buch behandelten Schriftsteller, darunter auch Renan, zur „sentimentalen Metamor- phose“ veranlasst. Zu bemerken ist, dass Bourget der Analogie der besonderen Bega- bung nach auch den Dilettantismus für keine natürliche Qualität des Individuums hält und ihren Besitz als Privileg einer kleinen Zahl von Ausnahmemenschen definiert, was, von dem historischen und sozialen Kontext der Fin – de – Siécle – Zeit ausgehend, auf seinen aristokratisch – antidemokratischen Standpunkt hindeutet.
2. Renan`s Dilettantismus im Kontext der Dekadenz - Zeit
Bourget zeigt den heterogenen Charakter des Dilettantismus Renan`s. Einerseits steht er im Zeichen der Renaissance – Tradition und entspricht wegen der Tätigkeit auf meh- reren Wissensgebieten (Theologie, Orientalistik, Geschichte, Philosophie, Literatur) dem Leitbild des universalistischen virtuoso. Andererseits korrespondiert sein Versuch, die Wissenschaft (Theologie) und die Kunst (Literatur) zu synthesieren, mit der kultu- rellen Ideologie der Décadence – Zeit. Als Antwort auf die rasche Entwicklung der Na- turwissenschaften wurde die utopische Idee von einem neuen Menschen entwickelt, der fähig ist Rationalität (hier wäre das die Wissenschaft) und Irrationalität (hier wäre das die Einbildungskraft) den ihnen gebührenden Platz zuzuweisen und sie dadurch harmo- nisch verschmelzen zu können. So sah Bourget am Renan die glückliche, jedoch von den französischen Zeitgenossen nicht erkannte Verbindung romanisch – französischer Einbildungskraft und gründlicher deutscher philosophischer Schulung als hervorragende Voraussetzung seines Schaffens.
Die allgemeine Tendenz der Décadence – Zeit, die im Ästhetischen, besonders in der Kunst, den höchsten aller Werte und das Ziel der Kultur sah, dem sich Religion, Sitt- lichkeit und Wissenschaft unterzuordnen haben, erlaubt uns im Renan`s Werk eine ge- wisse Ästhetisierung der Wissenschaft zu sehen, welche sich in der Darstellung der wis- senschaftlichen Materie unter dem Gesichtswinkel des ästhetischen Geschmacks Re- nan`s geäußert hat und als sinnlich – intellektuelle Geistigkeit bezeichnet werden kann. Auch wegen seiner Vielseitigkeit, so die Meinung von Bourget, liegt der Dilettantismus Renan`s „im Blute“ der Décadence – Zeit. Die Parallelität wird zwischen dem vielseiti- gen Charakter von Renan´s Hauptwerk „Histoire des origines du Christianism“, das eine eklektische Zusammenfassung der Ergebnisse der Leben – Jesu - Forschung aus dem 19. Jh. in romanhafter Form repräsentiert, und der Polyphonie der Phänomene der Jahr- hundertwende gezogen. Zum konstitutiven Merkmal der beiden eruierenden Objekte wird die „friedliche“ Koexistenz häufig widersprüchlicher Bestandteile, welche sich gegenseitig nicht eliminieren und einzeln ihren eigenen universellen Mikrokosmos bil- den, der später in dem makrokosmischen Mosaik vielseitiger Empfindungen unserer Seele reflektiert.
3. Zwiespältigkeit des Dilettantismus
Wie schon in der Einleitung erwähnt wurde, erscheint die Darstellung des Dilettantis- mus bei Bourget nicht nur als eindeutige Affirmation, sondern bekommt auch einen kritischen Charakter, indem die Widersprüchlichkeit und Zwiespältigkeit des Phäno- mens explizit gemacht werden.
Kraft der Koexistenz des hohen Bildungsgrades (Dilettant der Fin – de – Siecle – Zeit war vor allem der gebildete Aristokrat), des analytischen Denkens und der dem Dilettanten immanenten Sensibilität, der Eigenschaft, welche ihn, so Bourget, von den anderen unterscheidet und „welche durch die Menge der Betrachtungen nichts von ihrer Aufnahmefähigkeit verloren hat“, also als „scharfsinnige Veranlagung des Geistes“ er- halten geblieben ist, kann er mit dem auf soziale Prozesse aufmerksam reagierenden empfindlichen Seismographen verglichen werden, der auch fähig ist gesellschaftliche Nuancen, sprich soziale Gefahren, zu erkennen.
Der Vergleich mit dem Fieber verleiht dem Dilettantismus soziale Funktion mit sym- ptomatischem Charakter. Wie das Fieber, das infolge des krankhaften Zustandes eines Körpers erscheint und als Warnsignal die möglichen späteren organischen Veränderun- gen vermeiden lässt, so wird in der krankhaften Gesellschaft der Dilettantismus primär, der auf spätere sekundäre soziale Veränderungen, welche „das Gleichgewicht des gan- zen Lebens zerstören oder erhalten“, hindeutet, bevor diese für die gesamte Gesellschaft evident werden.
Andererseits ist es gerade der für den Dilettanten konstitutiv erscheinende Skeptizismus, die „Unfähigkeit zu bejahen“, der darunter auch durch die „hoch ausgebildete In- telligenz“ verursacht wird, der sich in die psychologische Fluktuation bzw. in die „Un- fähigkeit des Willens“ mit der darauf folgenden Schwächung des gesellschaftlichen Be- wusstseins und Bedrohung des sozialen Konsenses als Folge zu verwandeln droht. Denn „das Heil der Gesellschaft fordert“, schreibt Bourget, „dass ihre Entscheidungen nicht oft geändert werden.“ Offensichtlich erscheint die Entwicklung dieser Position aus der philosophischen Ethik Schopenhauers heraus, der von Bourget als „deutscher Pessi- mist“ bezeichnet wird und der entsprechend allein den Willen des Individuums, das Weltprinzip Wille zum Leben zu berühren beschreibt, ein an sich niemals zu befriedi- gender Drang nach Dasein und Vollkommenheit. Bourget vollzieht aber die Hierarchie- änderung der Schlüsselbegriffe:
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So kann Dilettantismus selbst als „gefährliche Geistesveranlagung“ zur sozialen Gefahr werden und gesellschaftliche Entwicklung in Richtung auf Exitus und nicht den Fort- schritt hin lenken.
4. Charakteristische Züge des Dilettantismus bei Renan
Im Sonderfall Renan, dessen Darstellung über das der Décadence – Zeit hinausgeht, sieht Bourget eine persönliche Heroismuserscheinung des Wissenschaftlers, welche im offenen Zugeständnis eigener Tätigkeit des dilettantischen Charakters ihren Ausdruck findet. „Renan hat seinen Dilettantismus festgestellt und Gefallen daran gefunden.“ Da- durch, meint Bourget, unterscheidet er sich von den anderen zeitgenössischen Gelehr- ten. Nicht der bloße Nihilismus oder der Mangel am Wissen verursachten Renan`s Di- lettantismus, sondern die bewusste Überzeugung von der Unmöglichkeit der Erlangung der absoluten Wahrheit als Ergebnis der jahrelangen religiösen Forschung und des Stu- diums verschiedener wissenschaftlicher Positionen. In allen hat er einen wahren Kern gefunden, weswegen er keine Partei ergriffen hat, da er nicht den „ehrwürdigen Sinn“ der anderen verkennen wollte. Die für den Dilettanten nach Bourget charakteristische Universalität äußerte sich bei Renan in der interdisziplinären Methode seiner Arbeit. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum hatte bei ihm nicht nur einseitigen, streng wissenschaftlichen Charakter, sondern er studierte zu diesem Thema gleichzeitig so- wohl literarische als auch philosophische Quellen, dazu noch „alle möglichen Sitten und Gebräuche.“ In dieser Herangehensweise löste er sich zweimal von seiner Umgebung ab: einmal in der Art und Weise seiner wissenschaftlich – literarischen Arbeit, außer- dem von der „feinen“ Umgebung der Dilettanten seiner Epoche. Seine Ästhetik war nicht nur um der Ästhetik willen, sondern implizierte ein humanistisches Ziel: Erneue- rung des Christentums in Frankreich. Zu diesem Zweck hat er eine nach Bourget selt- same, aber erfolgreiche Methode gewählt, indem er nicht noch eine Position oder einen Forschungszweig festgelegt hatte, sondern gezeigt hat, dass man in jeder Widersprüch- lichkeit einen gesunden Kern finden kann, der die Einsichten vereinen könnte wie der Gott als metaphysischer Haltepunkt unsere Existenz.
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Häufig gestellte Fragen
Was ist das Hauptthema von "Dilettantismus als neue Dialektik bei Paul Bourget"?
Die Arbeit untersucht Paul Bourgets Auffassung von Dilettantismus, insbesondere im Kontext der Décadence-Zeit, und stellt sie als eine neue "Dialektik" dar, die im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen von Meisterschaft und Professionalität steht.
Wie definiert Bourget Dilettantismus?
Bourget definiert Dilettantismus als eine Fähigkeit des Geistes, sich an die Reichhaltigkeit der Dinge anzupassen, ohne sich einer einzigen vollständig hinzugeben. Er verbindet dies mit Skeptizismus und dem Verständnis der Relativität gesellschaftlicher Systeme.
Wer sind einige der von Bourget genannten "berühmten Dilettanten"?
Bourget nennt Alcibiades, Leonardo da Vinci, Caesar, Montaigne und Shakespeare als Beispiele für "berühmte Dilettanten", die sich durch Universalität und Beschäftigung mit mehreren Wissensbereichen auszeichnen.
Welche Rolle spielt Ernest Renan in Bourgets Analyse des Dilettantismus?
Ernest Renan wird als Beispiel für einen Dilettanten genannt, der Wissenschaft und Kunst synthetisiert. Bourget sieht in Renan eine Verbindung von romanisch-französischer Einbildungskraft und gründlicher deutscher philosophischer Schulung.
Inwiefern steht Renans Dilettantismus im Zusammenhang mit der Décadence-Zeit?
Renans Versuch, Wissenschaft und Kunst zu vereinen, korrespondiert mit der kulturellen Ideologie der Décadence-Zeit, die im Ästhetischen den höchsten aller Werte sah und dem sich andere Bereiche unterzuordnen hatten.
Welche Zwiespältigkeit sieht Bourget im Dilettantismus?
Obwohl Bourget den Dilettantismus als positiv hervorhebt, erkennt er auch dessen potenziellen negativen Charakter an. Der Skeptizismus des Dilettanten kann sich in psychologische Fluktuation und Unfähigkeit des Willens verwandeln, was das gesellschaftliche Bewusstsein schwächen und den sozialen Konsens bedrohen kann.
Wie beschreibt Bourget Renans persönliche Erscheinung des Dilettantismus?
Bourget sieht in Renans offener Zugeständnis seines dilettantischen Charakters eine persönliche Heroismuserscheinung des Wissenschaftlers. Renans Dilettantismus beruht nicht auf Nihilismus oder Mangel an Wissen, sondern auf der bewussten Überzeugung von der Unmöglichkeit, die absolute Wahrheit zu erlangen.
Welche Methode verwendete Renan in seinen Forschungen laut Bourget?
Renan verwendete eine interdisziplinäre Methode, indem er sich mit literarischen und philosophischen Quellen sowie mit verschiedenen Sitten und Gebräuchen auseinandersetzte. Er versuchte, in jeder Widersprüchlichkeit einen gesunden Kern zu finden, der die Einsichten vereinen könnte.
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- Funtik Sonntag (Author), 2001, Dilettantismus als neue Dialektik bei Paul Bourget, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103406