Geschlechtsspezifische Differenzen in der Verarbeitung von psychiatrischen Diagnosen


Bachelorarbeit, 2019

62 Seiten


Leseprobe


I Inhaltsverzeichnis

II Tabellenverzeichnis

III Abbildungsverzeichnis

IV Abkurzungsverzeichnis

V Symbolverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Psychiatrische Diagnosen
2.2 Folgen einer psychiatrischen Diagnose
2.2.1 Selbststigmatisierung
2.2.2 Uberidentifikation
2.2.3 Funktionalisierung
2.2.4 Empowerment
2.2.5 Positive Klarung und Selbstakzeptanz
2.2.6 Sinngebung und inneres Wachstum
2.3 Geschlechtsspezifische Differenzen
2.3.1 Der Ursprung der Geschlechtsunterschiede
2.3.2 Geschlechterdifferenzen in Bezug auf psychische Erkrankungen
2.4 Stand der Forschung
2.5 Hypothesen

3 Methoden
3.1 Stichprobe
3.2 Erhebungsinstrument
3.2.1 HAVD
3.2.2 Bewertung des HAVD
3.3 Durchfuhrung
3.4 Untersuchungsdesign und angewandte statistische Verfahren

4 Ergebnisse
4.1 Deskriptive Datenanalyse
4.2 Testung der Hypothesen

5 Diskussion
5.1 Diskussion der Ergebnisse der Hypothesentestung
5.2 Diskussion des Messinstruments
5.3 Diskussion der Stichprobe
5.4 Limitationen

6 Fazit und Ausblick

VI Literaturverzeichnis

II Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Test der Homogenitat der Varianzen

Tabelle 2: Deskriptive Statistik

Tabelle 3: Einfaktorielle ANOVA

Tabelle 4: Welch-ANOVA

Tabelle 5: Kontrast-Tests

III Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Geschlechterdifferenzen psychischer Erkrankungen

IV Abkurzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„Manner sind Frauen geistig uberlegen, Frauen konnen nicht einparken, Manner konnen nicht zuhoren, Manner konnen sich nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren, Frauen sind geschickter“. (Hausmann, 2007). Solche geschlechtsspezifischen Vorurteile sind in der Gesellschaft tief verwurzelt. Und tatsachlich wurden in einer Vielzahl von Studien Geschlechtsunterschiede beobachtet (Hausmann, 2007; Egloff & Schmukle, 2004; Bradley, Codispoti, Sabatinelli & Lang, 2001). Ob diese Geschlechtsunterschiede auch fur die Verarbeitung von psychiatrischen Diagnosen gelten, soll in der folgenden Arbeit untersucht werden.

Eine psychiatrische Diagnose bedeutet einen nachhaltigen Einschnitt in die Lebensgeschichte des Patienten. Deswegen wurde lange Zeit kontrovers diskutiert, ob Patienten ihre psychiatrische Diagnose mitgeteilt bekommen sollen (Kehring, Morgenroth, Moritz, Wagner & Schnell, 2018). Denn die Mitteilung der psychiatrischen Diagnose hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Zum einen kann die Diagnosemitteilung den Patienten entlasten, indem er sich selbststandig uber die psychische Erkrankung informieren und feststellen kann, dass er nicht allein unter der Symptomatik leidet, sondern auch andere Menschen das gleiche Krankheitsbild aufweisen. Dies kann zu einer Veranderungsmotivation fuhren und so erste Teilerfolge im psychotherapeutischen Prozess nach sich ziehen (Stotz, 1995).

Zum anderen kann bei Patienten mit einem ich - syntonen psychischen Storungsbild die Diagnosemittteilung auf Ablehnung und Reaktanz stoBen. Denn ein ich-syntones Krankheitsbild gibt dem Betroffenen einer psychischen Erkrankung das Gefuhl, seine Verhaltensweisen und Denkmuster seien angemessen und zu sich gehorig. Wahnerkrankungen und Personlichkeitsstorungen werden besonders haufig als ich-synton erlebt. Die Behandlung von Patienten, die ihre psychische Erkrankung als ich-synton erleben, ist wegen der fehlenden Einsicht erschwert (Nonnenmacher, 2019). Ebenso steigt das Risiko der Selbststigmatisierung infolge der Mitteilung einer psychiatrischen Diagnose, genauso wie die Stigmatisierung und Diskriminierung durch soziale Kontakte (Angermeyer, 2003). Die Verarbeitung der psychiatrischen Diagnose kann somit sehr individuell ablaufen und verschiedene Konsequenzen, wie Funktionalisierung oder Uberidentifikation, nach sich ziehen.

In der fortschrittlichen patientenzentrierten Versorgung ist die Diagnosemitteilung jedoch zu einem essentiellen Bestandteil geworden. Die partizipative Entscheidungsfindung knupft an genau diesem Punkt an. Definiert wird Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) als „ein Interaktionsprozess mit dem Ziel, unter gleichberechtigter aktiver Beteiligung von Patient und Arzt auf Basis geteilter Information zu einer gemeinsam verantworteten Ubereinkunft zu kommen“ (Bieber, Geschwendtner, Muller & Eich, 2016, S.195). So entscheiden Arzt und Patient gemeinsam, ob und wie eine mogliche Behandlung erfolgen soll (Kehring et al., 2018).

Ein weiteres Ziel der partizipativen Entscheidungsfindung ist das Empowerment von Patienten. Dabei sollen die Patienten dazu ermutigt werden, ihre Starken und Kompetenzen zur Bewaltigung von schwierigen Lebensphasen zu nutzen und Ressourcen zur Problemlosung zu starken, die ihnen dabei helfen konnen (Kleiber, 1999). Damit dieser Prozess einsetzen kann, ist die Verarbeitung der psychiatrischen Diagnose nach deren Mitteilung ein ausschlaggebender Faktor fur eine positive Entwicklung.

In dieser Arbeit wird sich mit der Thematik auseinandergesetzt, inwieweit sich die beiden Geschlechter, mannlich und weiblich, in der Verarbeitung der psychiatrischen Diagnose unterscheiden. Erste Indizien dazu finden sich zum Beispiel in einer Studie von Grube (2005), die ein hoheres Compliance- und Copingpotenzial bei Frauen als bei Mannern zeigte. Hieraus entwickelt sich die Vermutung, Frauen konnten psychiatrische Diagnosen, beispielsweise fur den Heilungsprozess, besser nutzen als Manner. Allerdings verweisen andere Studien auf vor allem emotionszentrierte und internalisierte Coping-Strategien bei Frauen, wie grubeln und sich Sorgen machen (Moller-Leimkuhler, 2009). Diese Verhaltensweisen konnten sich in der Verarbeitung einer psychiatrischen Diagnose stressverstarkend auswirken. Diese Ergebnisse werden auch von der Neurowissenschaft, welche den Zusammenhang zwischen Emotionsverarbeitung, Kognition und Gedachtnis untersucht, gestutzt. Diese lassen vermuten, dass die Verarbeitung negativer Emotionen, wie Angst, Arger oder Trauer, bei Frauen starker als bei Mannern zu einer hoheren Aktivierung der emotionsrelevanten Hirnareale fuhrt (Koch et al., 2009).

Manner zeigen hingegen eine besondere Vulnerabilitat, also Verletzlichkeit in Beziehung zu ihrem sozialen Status, der durch eine psychiatrische Diagnose gefahrdet werden kann und somit zu starkeren psychobiologischen Stressreaktionen fuhren konnte, als bei Frauen (Moller-Leimkuhler, 2009). Durch das erhohte Aggressionspotenzial bei Mannern und dem mannlichen Geschlechtshormon Testosteron, welches in Konfrontationssituationen ansteigt, in denen es womoglich um den Erhalt oder Erwerb von Macht und Dominanz geht, konnten Manner die psychiatrische Diagnose eher ablehnen und vermehrt mit negativen Emotionen reagieren (Moller-Leimkuhler, 2009).

Sollten Frauen und Manner psychiatrische Diagnosen unterschiedlich verarbeiten, ware dies im Kontext der psychotherapeutischen Arbeit von Bedeutung. In Hinblick auf negative Folgen der Verarbeitung, wie Selbststigmatisierung, Uberidentifikation oder Funktionalisierung der Diagnose, konnte dann beispielsweise praventiv geschlechtsspezifisch interveniert werden.

Um die Frage nach den geschlechtsspezifischen Differenzen der Verarbeitung einer psychiatrischen Diagnose zu untersuchen, wird zunachst der theoretische Hintergrund beleuchtet und der Stand der Forschung zu dieser Thematik (psychiatrische Diagnosen, Folgen einer psychiatrischen Diagnose und bekannte geschlechtsspezifische Differenzen sowie die unterschiedlichen Verarbeitungsmechanismen) naher betrachtet. Darauf aufbauend werden die Hypothesen dieser Arbeit abgeleitet. Im Anschluss daran werden im Methodenteil die Stichprobe, die Erhebungsinstrumente und die Durchfuhrung der Untersuchung genauer beschrieben, um im Ergebnisteil die empirischen Ergebnisse bezuglich der deskriptiven Statistik und der aufgestellten Hypothesen aufzubereiten. Danach folgt der Diskussionsteil, in dem die Ergebnisse interpretiert, diskutiert und in Zusammenhang mit der bisherigen Forschung gebracht werden. AuBerdem erfolgt eine Limitation der Studie. AbschlieBend werden im Fazit und Ausblick alle wichtigen Erkenntnisse der Arbeit zusammengefasst und Anregungen fur eine zukunftige Forschung erlautert.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Psychiatrische Diagnosen

Zum Verstandnis der weiteren Arbeit muss der Begriff der psychiatrischen Diagnose naher erlautert werden. Eine psychiatrische Diagnose ist eine Diagnose, durch die eine psychische Storung erfasst wird (Maser, 2019). Dabei kann die psychiatrische Diagnose als eine diagnostische Einheit fur die krankheitswertige Storung der Psyche in der Diagnostik der Psychiatrie angesehen werden. Die Bestimmung der Diagnose erfolgt durch die psychopathologischen Phanomene, die in einem Klassifikationssystem, wie beispielsweise der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), eingeordnet werden. Demnach umfasst die psychiatrische Diagnose die krankheitswertigen psychischen Symptome und ist somit eine phanomenologische Diagnose (Maser, 2019). Die psychiatrische Diagnose findet ihren Ursprung in den Klassifikationssystemen ICD und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). In Europa wird uberwiegend mit dem ICD gearbeitet, welches kontinuierlich aufgrund des medizinischen Fortschritts aber auch beispielsweise wegen Uneinigkeiten bezuglich der Klassifikation und Bezeichnung der psychischen Storungen uberarbeitet wird (Deutsches Institut fur Medizinische Dokumentation und Information, 2019).

Die kontinuierliche Uberarbeitung der Handbucher mag beruhigend sein - insofern, als sie darauf abzielt, die Praxis weiter zu verbessern - aber sie erinnert uns auch daran, dass diese Diagnosen bestenfalls die Sichtweise der Menschen heute in der gegenwartigen Gesellschaft widerspiegeln. Die Expert*innen andern laufend ihre Meinung, sowohl daruber, welche Formen von Leiden aufgenommen werden sollen, als auch, wie die Unterschiede zwischen Krankheiten zu beschreiben sind. Viele der Diagnosen sind eigentlich moralische Urteile, die eher die Anderungen der gesellschaftlichen Werte und Sorgen als den wissenschaftlichen Fortschritt reflektieren (Murphy, 2019, S. 3).

Dieses Zitat verdeutlicht den Zwiespalt der psychiatrischen Diagnose, denn das eigentliche Hauptziel dieser ist eine verbesserte Kommunikation zwischen den verschiedenen Gesundheitsexperten, wie Arzten, beispielsweise Psychiatern, und Psychotherapeuten. Zudem soll so eine bessere Behandlung, spezifisch angepasst auf die jeweilige Diagnose, erfolgen. Die Realitat zeigt jedoch, dass psychiatrische Diagnosen auch negative Aspekte hervorrufen konnen, wie im nachsten Abschnitt erlautert wird.

2.2 Folgen einer psychiatrischen Diagnose

Das Ziel einer besseren Kommunikation oder eine auf das Krankheitsbild angepasste Behandlung werden nicht immer erfullt. Da Symptome teilweise zu mehreren Storungsbildern passen, konnen Doppeldiagnosen oder Fehldiagnosen die Folge sein, welche fur die Patienten zunachst verwirrend sind, aber auch negative Folgen, wie falsche Behandlungen und Stigmata, nach sich ziehen (Wolf, 2011). Die Stigmatisierung von psychiatrischen Diagnosen ist bis heute groB (Angermeyer, 2004).

Ebenso kommt es nicht selten zu einer Uberidentifikation mit der psychischen Storung. Die Funktionalisierung einer psychiatrischen Diagnose gehort ebenfalls zu den dysfunktionalen Verarbeitungsstilen, mit denen sich in dieser Arbeit auseinandergesetzt wird. Gleichzeitig gilt das Empowerment als eines der Vorteile der partizipativen Entscheidungsfindung (Kehring et al., 2018).

In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen dysfunktionalen und funktionalen Verarbeitungsstile dargestellt, die nach der Stellung einer psychiatrischen Diagnose auftreten konnen.

2.2.1 Selbststigmatisierung

Die Diskriminierung psychisch Kranker in der Gesellschaft ist vielfaltig. Grundsatzlich kann zwischen individueller und struktureller Diskriminierung sowie einer Diskriminierung durch Selbststigmatisierungsprozesse unterschieden werden. Fur diese Arbeit sind besonders die Selbststigmatisierungsprozesse relevant, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

Im Laufe der Sozialisation lernen Individuen, welche Bedeutung eine psychische Erkrankung in der Gesellschaft erfahrt. Dies gilt ebenso fur psychisch erkrankte Menschen selbst. Sie tragen eine Erwartungshaltung mit sich, wie ihr Umfeld auf die Erkrankung reagiert. Umso groBer die Erwartung einer Ablehnung und negativen Reaktion durch das Umfeld ist, umso groBer ist auch die Verunsicherung der Betroffenen und der Wunsch nach sozialem Ruckzug. In einer Studie von Angermeyer (2004) erwarteten die Probanden in fast allen Stigmabereichen, wie Vorurteile, Diskriminierung und Stereotypisierung, mehr Ablehnung als sie tatsachlich erfahren hatten. „Antizipierte wie real erlebte Diskriminierungen konnen bei den Kranken zur Beeintrachtigung des Selbstvertrauens fuhren sowie zu Demoralisierung und Depression. Weitere Diskriminierungsfolgen sind vielfaltige soziale Benachteiligungen wie soziale Isolation, Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit.“ (Angermeyer, 2004, S. 248). Gerade bei psychischen Erkrankungen, wie Suchterkrankungen oder chronischen Storungen, die sich uber einen langen Lebensabschnitt des Patienten erstrecken, besteht die Gefahr der Selbststigmatisierung (Grambal et. al., 2016).

Gesellschaftliche Stigmata werden in diesen Fallen von den Betroffenen auf sich selbst projiziert und fuhren zu Schuld- und Schamgefuhlen, die eine Selbststigmatisierung begunstigen (Schnell, 2019). Dies fuhrt auch zu Benachteiligungen bei der Behandlung sowie der Rehabilitation der psychisch Erkrankten. Durch die Selbststigmatisierung besteht eine Furcht vor Hilfsangeboten, wodurch die Betroffenen zu spat behandelt werden, die Patienten die Behandlung fruhzeitig abbrechen oder uberhaupt keine Hilfe in Anspruch nehmen. „Dies alles kann zu einer Verschlechterung der Krankheitssymptomatik und zur Beeintrachtigung der sozialen Funktionsfahigkeit fuhren, was wiederum, im Sinne eines Circulus vitiosus, das Risiko diskriminiert zu werden erhoht. Das Ergebnis all dieser Prozesse ist der Verlust an Lebensqualitat.“ (Angermeyer, 2004, S. 249).

Ein weiterer dysfunktionaler Verarbeitungsstil, der in Folge oder in Verbindung mit einer Selbststigmatisierung auftreten kann, ist die Uberidentifikation, die nachfolgend erlautert wird.

2.2.2 Uberidentifikation

Eine Uberidentifikation mit der psychiatrischen Diagnose tritt bei Patienten mit einem negativen Selbstkonzept sowie einer unsicheren Identitat, wie es beispielsweise besonders haufig bei der Borderline- Personlichkeitsstorung oder Essstorungen vorkommt, am ehesten auf. Die Belege fur dieses Phanomen sind jedoch sehr begrenzt (Schnell, 2019; Grinberg, 2001). Typische Beispiele einer Uberidentifikation mit der Diagnose sind eine starkere Auspragung der Symptomatik oder eine Ubernahme der Symptome von Mitpatienten (Konig & Kreische, 2001). Die Uberidentifikation dient damit als eine Kompromisslosung der Betroffenen, da die Identifikation mit einer psychischen Storung als eigene Identitat besser ist, als gar keine Identitat (Grinberg, 2001).

Die Problematik der Uberidentifikation mit der psychiatrischen Diagnose ist die fehlende Veranderungsmotivation, die zu einer Stagnation in der Behandlung fuhrt.

Auch der folgende dysfunktionale Verarbeitungsmechanismus „Funktionalisierung“ kann fur die psychotherapeutische Arbeit problematisch sein.

2.2.3 Funktionalisierung

Die Funktionalisierung einer psychiatrischen Diagnose kann zu einem Krankheitsgewinn fuhren, wenn psychisch erkrankte Menschen ihre Diagnose als Rechtfertigung nutzen. Dies kann exemplarisch in besonders stressigen Situationen, in denen die Betroffenen unter einer groBen Belastung stehen, der Fall sein. Zudem konnen durch die Funktionalisierung auch Vorteile fur die Betroffenen entstehen, indem sie mehr Aufmerksamkeit, Zuneigung oder Unterstutzung von ihrem Gegenuber erhalten. Zu diesem Zweck verstarken die Betroffenen teilweise ihre Symptomatik (Kehring et al., 2018).

Zusammenfassend wird die „Verantwortung fur das eigene Leben [...] unter Bezugnahme auf die Diagnose abgegeben, Berentungen werden angestrebt und nicht zuletzt ist aus Perspektive der sozialen Interaktion der sekundare Krankheitsgewinn ein bekanntes Phanomen“. (Schnell, 2019, S. 13).

Besonders haufig neigen Menschen mit Depressionen oder somatoformen Storungen dazu ihre psychische Erkrankung zu funktionalisieren (Van Praag, 2001).

Eine psychiatrische Diagnose muss jedoch nicht immer mit negativen Aspekten oder dysfunktionalen Verarbeitungsmechanismen im Zusammenhang stehen. Dies zeigen auch die folgenden funktionalen Verarbeitungsstile.

2.2.4 Empowerment

Der Begriff Empowerment stammt ursprunglich aus der Gemeindepsychologie und bedeutet so viel wie Selbstbefahigung oder Ermachtigung (Kleiber, 1999). DefinitionsgemaB zielt Empowerment darauf ab, dass Menschen ihr Leben aktiv selbst gestalten und diese Aufgabe nicht anderen Menschen uberlassen (Kleiber, 1999).

Besonders die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung fur die soziale Lebenswelt stehen dabei im Vordergrund. Durch die Forderung der Betroffenen sollen so diskriminierende Lebensbedingungen uberwunden werden. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Auflosung von Ohnmacht und ein gestarktes Selbstbewusstsein der Betroffenen. Die Grundlage des Empowerments lieferten einige wissenschaftliche Studien, die einen Zusammenhang zwischen physischem und psychischem Wohlbefinden sowie der Fahigkeit und den Moglichkeiten eines Menschen, sein Leben selbst zu kontrollieren, fanden (Stark, 2014).

In Bezug zu der Thematik dieser Arbeit, soll Empowerment als funktionaler Verarbeitungsstil einer psychiatrischen Diagnose im Rahmen der partizipativen Entscheidungsfindung gefordert werden. Empowerment soll insofern von Patienten im Sinne einer Befahigung genutzt werden, aktiv und gleichberechtigt an verschiedenen Phasen der Behandlung zu partizipieren (Schnell, 2019; Hamann, Holzhuter, Stecher & Heres, 2017).

Ein weiterer Ansatz der partizipativen Entscheidungsfindung ist die positive Klarung und Selbstakzeptanz, die nachfolgend analysiert wird.

2.2.5 Positive Klarung und Selbstakzeptanz

Der Verarbeitungsmechanismus „Klarung und Selbstakzeptanz“ entspricht der PEF. Demnach kann die Diagnose das Selbstwertgefuhl der Patienten steigern und ihnen die Kraft geben, es adaptiv zu verarbeiten (Craddock & Mynorss-Wallis, 2004). Es ist bekannt, dass PEF die Behandlungszufriedenheit der Patienten beeinflusst, die Veranderungsmotivation wahrend der Therapie positiv bestarkt und mit weniger Therapieabbruchen einhergeht (Joosten et al., 2008).

In der Literatur finden sich dementsprechend Zusammenhange zwischen der positiven Klarung und Selbstakzeptanz und einigen allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie, wie der Selbstwirksamkeitserwartung oder der Besserungserwartung (Knuf, Osterfeld & Seibert, 2014). Diese Wirkfaktoren, die alle Therapieschulen gemeinsam haben, werden als therapeutische „change agents“ definiert (Kehring et al., 2018).

Des Weiteren besteht eine Verbindung zwischen der Dimension „Klarung und Selbstakzeptanz“ zum Faktor der motivationalen Klarung nach Grawe (1995) und der kognitiven Bewaltigung nach Karasu (1986). Daruber hinaus ist eine positive Klarung mit dem von Jorgensen (2004) definierten gemeinsamen Faktor Mentalisierung verbunden, der ein besseres Selbstverstandnis impliziert.

Dementsprechend beschreiben die positive Klarung und Selbstakzeptanz relevante Ablaufe im Hinblick auf eine erfolgreiche Veranderung in der Psychotherapie (Kehring et al., 2018).

Nachfolgend wird der dritte funktionale Verarbeitungsmechanismus „Sinngebung und inneres Wachstum“ beschrieben.

2.2.6 Sinngebung und inneres Wachstum

In Bezug auf die Sinngebung und das innere Wachstum wird die Diagnose als eine Krise vom Patienten erlebt, die zu einem Prozess des Umgangs mit sich selbst und der Erfahrung des inneren Wachstums fuhrt. Es existieren nur begrenzte Belege fur das innere Wachstum als Reaktion auf die Diagnose einer psychischen Storung.

Laut Mazor, Gelkopf und Roe (2018) hangt die Diagnosestellung einer psychischen Erkrankung mit Erfahrungen zusammen, die als extrem traumatisch empfunden werden konnen. Laut den Autoren scheinen einige Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen, die in ihrer Vergangenheit traumatisches erlebt haben, ein posttraumatisches Wachstum zu erleben.

Ferner besteht eine Verbindung zwischen der Sinngebung sowie dem inneren Wachstum und dem von Jorgensen (2004) definierten Faktor Selbstnarration. Er schlug vor, dass eine Neuerzahlung der eigenen Lebensgeschichte zu einer erfolgreicheren Psychotherapie beitragen konnte, inklusive einer Versohnung der Vergangenheit und der Gegenwart. Zudem besteht so fur die Patienten die Moglichkeit zur Weiterentwicklung des ins Stocken geratenen Lebens (Kick, 2010).

Nachdem die verschiedenen Verarbeitungsmechanismen erlautert wurden, soll in den folgenden Abschnitten auf die spezifischen Differenzen der Geschlechter eingegangen werden.

2.3 Geschlechtsspezifische Differenzen

In Bezug auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Verarbeitung von psychiatrischen Diagnosen ist empirisch belegt, dass Frauen im alltaglichen Leben haufiger und intensiver Angst erleben (Egloff & Schmukle, 2004).

Zudem wirken Bedrohungsreize in Experimenten negativer und erregender auf weibliche als auf mannliche Probanden. Ebenso wird von Frauen haufiger geschildert niedergeschlagen zu sein, was durch Studien mit verschiedenen Reizvorlagen, die bei Frauen intensiver Gefuhle auslosten als bei Mannern, gezeigt werden konnte (Bradley, Codispoti, Sabatinelli & Lang, 2001).

Frauen zeigen zudem eine zeitlich stabilere Neigung dazu, mit Abscheu und Widerwillen zu reagieren (Schienle et al., 2002).

Auch in Bezug zur Wahl der Therapieform sind geschlechtsspezifische Differenzen bekannt. Manner praferieren eher informelle Gruppen, in denen sie Ratschlage erhalten aber auch erteilen konnen. Frauen hingegen bevorzugen ein psychodynamisches Setting, in dem sie ihre Gefuhle erortern und uber Erlebtes sprechen konnen (Barry, Holloway & Liddon, 2017).

Auch zur Bewaltigung von Problemen setzen Frauen andere MaBnahmen ein als Manner. Frauen kompensieren demnach ihre Gefuhle eher mit Frustessen, Manner nutzen hingegen eher Sex oder Pornografie (Barry et al., 2017). Und obwohl, oder gerade weil, Manner ein wesentlich hoheres Suizidrisiko aufweisen als Frauen, suchen sie weniger psychotherapeutische Hilfe auf (Barry et al., 2017). Zudem fanden in der Studie viele Manner, im Vergleich zu Frauen, es gabe zu wenig mannerfreundliche Therapien.

Nachdem nun einige Geschlechtsdifferenzen genannt wurden, soll im Folgenden der Ursprung dieser erlautert werden.

2.3.1 Der Ursprung der Geschlechtsunterschiede

Die meisten Menschen gehen wohl davon aus, dass es zwei Geschlechter gibt, Mann und Frau, wie zwei Dichotome. Dies ist bei genauer Betrachtung jedoch nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Wahrend biologisch die Abgrenzung zwischen Mann und Frau, besonders in Bezug auf korperliche Reproduktionsmerkmale, deutlich ist, scheint dies in Bezug auf das Sozialverhalten nicht zuzutreffen. Eine klare Abgrenzung zwischen mannlich und weiblich ist nicht offensichtlich. Vielmehr scheint es so, als beherberge jede Person maskuline und feminine Merkmale, die verschieden stark ausgepragt sind. Allgemein gultig ist die Annahme, dass sich Geschlechtsunterschiede dann entwickeln, wenn sie beiden Geschlechtern einen evolutionaren Vorteil bringen (Arnold, 2007). Beispielsweise sind bestimmte Gehirnregionen, wie das praoptische Areal des Hypothalamus, bei Mannern anders strukturiert, als bei Frauen. Diese bestimmte Struktur ist beim mannlichen Lebewesen fur das Werbeverhalten und die Kopulation verantwortlich, die erforderlich ist, um sich erfolgreich fortzupflanzen. Demnach sind Manner mit dieser Struktur evolutionar bevorteilt, gegenuber Mannern die diese bestimmte Struktur nicht ausweisen (Arnold, 2007). Wiederum sind Frauen, die eine mannliche Gehirnorganisation besitzen, evolutionar benachteiligt, denn diese interferiert mit der weiblichen Rolle im Fortpflanzungsprozess (Arnold, 2007).

Aus biologischer Sicht konnen Geschlechtsunterschiede aus funf verschiedenen Ursachen resultieren. Drei von ihnen betreffen die Wirkung der Geschlechtschromosomen, zwei die Wirkung der gonadalen Hormone. Der erste Unterschied bezieht sich auf die Y-Chromosomen. Diese sind nur in mannlichen Lebewesen vorhanden und verursachen demnach Unterschiede zur Frau. Der zweite Unterschied bezieht sich auf die Gendosierung der X-Chromosomen. Da im Genom von Frauen doppelt so viele X-Gene wie bei mannlichen Artgenossen existieren, findet bei ihnen eine X-Inaktivierung statt. Dabei wird ein X- Chromosom abgeschaltet, jedoch lauft diese Inaktivierung unvollstandig, weswegen einige X-Gene im weiblichen Korper auf einem hoheren Niveau exprimiert, also zum Ausdruck kommen und in Erscheinung treten konnen. Drittens ist eine der Ursachen die genomische X-Pragung. Wahrend Manner alle X-Gene von der Mutter beziehen, erhalten Frauen jeweils die Halfte der X-Gene von der Mutter und die andere Halfte vom Vater. Dies fuhrt zu einer langfristigen Steigerung oder Verringerung in der Expression von spezifischen Genen, welche beispielsweise zu unterschiedlichen Verlaufen einer Krankheit bei Mannern und Frauen fuhren konnen (Grath & Parsch, 2019). Der vierte Unterschied bezieht sich auf die differenzierende Wirkung gonadaler Sekretionen. Die Effekte der gonadalen Steroidhormone werden in dieser Kategorie eingeordnet. Die letzte Ursache biologischer Geschlechtsunterschiede ist die Wirkung gonadaler Sekretion uber die Lebenszeit, denn die unterschiedlichen Steroidhormone haben verschiedene geschlechtsspezifische Wirkungen. Wahrend sich bei Frauen das Ostrogen- und Progestinniveau in verschiedenen Zyklen verandert (Menstruation, Schwangerschaft etc.), werden Manner durch ihr Testosteronniveau beeinflusst, welches mit zunehmenden Alter sinkt (Arnold, 2007).

Nachdem nun die biologischen Geschlechtsunterschiede erlautert wurden, wird im Folgenden auf die kognitiven Geschlechtsunterschiede eingegangen.

In einer Vielzahl von Studien wurden kognitive Geschlechtsunterschiede beobachtet. Jedoch muss betont werden, dass es sich hierbei nicht um absolute, sondern um relative Leistungsunterschiede handelt, denn die Unterschiede in einer Geschlechtergruppe, beispielsweise zwischen Mannern, sind deutlich groBer, als die Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern. Als Wirkfaktoren fur die Geschlechterunterschiede gelten zum einen die biologischen Ursachen und zum anderen die soziokulturellen Einflusse. Die Geschlechterrollen sowie die Geschlechterstereotype gehoren zu den soziokulturellen Einflussen, die auch kulturubergreifend gelten (Hausmann, 2007). Hier zeigte sich beispielsweise in Studien, dass Frauen in Aufgaben zum raumlichen Vorstellungsvermogen schlechter abschnitten als Manner. Manner zeigten hingegen durchschnittlich schlechtere Leistungen bei Aufgaben, die das manuelle Geschick sowie die Wahrnehmungsgeschwindigkeit betrafen (Hausmann, 2007).

Geschlechterdifferenzen sind auch in Bezug auf psychische Erkrankungen bekannt, welche im Folgenden vorgestellt werden.

2.3.2 Geschlechterdifferenzen in Bezug auf psychische Erkrankungen

Seit Langem sind diverse Unterschiede zwischen Mannern und Frauen bezuglich der Haufigkeit an verschiedenen psychischen Storungen zu erkranken bekannt. Wittchen und Jacobi stellten 2005 in einer Ubersichtsarbeit zur Pravalenz psychischer Storungen in Europa die Ergebnisse von 27 Studien aus 16 europaischen Landern vor (siehe Abbildung 1). Insgesamt wurden die Daten von 150.000 Erwachsenen zwischen 18 und 65 Jahren in der Arbeit ausgewertet. Abbildung 1 zeigt die Pravalenzraten von Frauen und Mannern fur Essstorungen, psychotische Storungen, Storungen durch Substanzmissbrauch, affektive Storungen, wie Depressionen, somatoforme Storungen, also unklare korperliche Beschwerden, die durch eine psychische Erkrankung ausgelost werden und Angststorungen. Frauen erkranken demnach deutlich ofter an Essstorungen, affektiven Storungen, somatoformen Storungen und Angststorungen, wahrend Manner haufiger an Substanzmissbrauch leiden. Des Weiteren wiesen 33.2 % der Frauen und 21.7 % der Manner im Jahr 2006 mindestens eine Storung auf (Ihle, Laucht, Schmidt & Esser, 2007).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Geschlechtsspezifische 12-Monats-Pravalenzraten psychischer Storungen im Erwachsenenalter (18-65 Jahre; N = 150.000). (nach Wittchen & Jacobi, 2005; Ihle et al., 2007)

2.4 Stand der Forschung

Da derzeit keine aktuellen Forschungsarbeiten existieren, in denen sich mit der potenziellen Bandbreite an Verarbeitungsprozessen von psychiatrischen Diagnosen auseinandergesetzt wird, entwickelten Kehring, Morgenroth und Schnell (2018) einen Fragebogen zur Aufklarungssituation und Verarbeitung psychiatrischer Diagnosen.

Um eine Forschung zu diesem Themengebiet zu inspirieren, integrierten sie die drei funktionalen Verarbeitungsformen sowie die drei dysfunktionalen Verarbeitungsformen im Hamburger Fragebogen zur Aufklarungssituation und Verarbeitung psychiatrischer Diagnosen (HAVD). Das Ziel des Fragebogens ist es, Verarbeitungsprozesse bei Patienten sowie Auswirkungen auf die therapeutischen Wirkfaktoren zu untersuchen. In der dazugehorigen Evaluationsstudie wird die Vorgehensweise beschrieben.

[...]

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Details

Titel
Geschlechtsspezifische Differenzen in der Verarbeitung von psychiatrischen Diagnosen
Hochschule
Medical School Hamburg
Autor
Jahr
2019
Seiten
62
Katalognummer
V1034927
ISBN (eBook)
9783346442963
ISBN (Buch)
9783346442970
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlechtsspezifische, differenzen, verarbeitung, diagnosen
Arbeit zitieren
Nele Bielenberg (Autor:in), 2019, Geschlechtsspezifische Differenzen in der Verarbeitung von psychiatrischen Diagnosen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1034927

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