Das resiliente Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft. Ein Theorienvergleich zwischen Zivilisations- und Diskurstheorie


Masterarbeit, 2020

90 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Gesellschaftliche Einordnung und Relevanz
1.2 Forschungsstand
1.3 Forschungsfragen
1.5 Methodische Vorgehensweise
1.6 Aufbau der Arbeit

2 Resilienz in der Gegenwartsgesellschaft
2.1 Charakteristik der Gegenwartsgesellschaft
2.2 Subj ektivitat
2.3 Identitat im Jugendalter
2.4 Resilienz
2.4.1 Definition des Resilienzbegriffs
2.4.2 Resilienz in Abgrenzung zur Salutogenese
2.4.3 Studien zur Resilienzforschung

3 Resilienz -Ein Vergleich der soziologischen Zugange
3.1 Diskurstheorie in Bezug zur Resilienz
3.2 Zivilisationstheorie in Bezug zur Resilienz
4.3 Konvergenzen und Divergenzen beider Ansatze

4 Resilienz: Vergleich zwischen Zivilisations-und Diskurstheorie
4.1 Widerstandsfahigkeit in der Gegenwartsgesellschaft
4.2 Subjekt
4.3 Identitatskonstruktion im Jugendalter
4.4 Korper und Macht
4.5 Psychologie
4.6 Sozialbeziehungen

5 Methodologische Perspektiven fur die weitere Forschung

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Gesellschaftliche Einordnung und Relevanz

In gegenwartigen wissenschaftlichen Publikationen erfahrt das Phanomen der Resilienz eine besondere Aufmerksamkeit. Der Resilienzbegriff stammt ur- sprunglich aus der Entwicklungspsychologie sowie aus der humanokologischen Forschung. Das Deutsche Resilienz Zentrum geht davon aus, dass Subjekte und Gemeinschaften auf diverse Ressourcen zugreifen, um mit Stress und Belastun- gen umgehen zu konnen (Lieb et al., 2019b, S. o.S.). Solche „Schutz- und Selbst- heilungskrafte“ (Lieb et al., 2019b, S. o.S.) oder „Widerstandsressourcen“ (An­tonovsky, 1997, S. 108) bilden sich im Resilienzkonzept ab. Resilienz zeigt sich, wenn Menschen in herausfordernden Stresssituationen ihre psychische Gesund- heit aufrechterhalten oder diese zugig wiederherstellen konnen (ebd., 2019, S. o. S.). Vor allem die therapeutische Arbeit ist danach bestrebt, diese innere Wider- standkraft beim Menschen praventiv zu fordern, um damit psychische Probleme und belastende Situationen zu reduzieren. Obwohl das Konzept durch hetero­gene Ansatze, wie etwa jene der Vulnerabilitat oder der Stressbewaltigung in globalen Krisen oder Katastrohen, Differenzlinien aufweist, konnen Verbin- dungslinien identifiziert werden. Entsprechend lasst sich das Resilienzkonzept fur die „Analyse von Phanomenen und Prozessen der ,Widerstandigkeit‘ und der ,Widerstandsfahigkeit‘ in verschiedenen Kontexten und Situationen angesichts besonderer Gefahrdungslagen“ nutzen (EndreB & Maurer, 2015, S. 7).

Die vorliegende Masterarbeit soll dazu beitragen, das Thema Resilienz in der Jugendphase als gegenwartsgesellschaftliches und psychologisches Phanomen zu fokussieren. Die Verfasserin strebt an, diese Thematik in die Theorieschulen von Norbert Elias und Michel Foucault einzuordnen und diese durch das Phano- men eines resilienten Subjekts in der Gegenwartsgesellschaft zu erweitern. Ziel ist es, beide Theoriestromungen miteinander zu vergleichen und die Subjektkon- stitution beispielhaft anhand der Identitat des Jugendalters zu fokussieren. Beide Theorierichtungen konnen fur einen Theorievergleich als besonders geeignet be- zeichnet werden, da sie die Perspektive eines Mikro- und Makro-Dualismus uberwinden (Treibel, 1997, S. 176; Witte, 2019, S. 212).

1.2 Forschungsstand

In den aktuellen soziologischen Publikationen wird der Begriff Gegenwartsge- sellschaft vielfach und kontrovers diskutiert (u.a. Beck, 1986; Vormbusch, 2019; Sennett, 1998). In dieser Arbeit dienen die theoretischen und analytischen Po- tentiale der Zivilisationstheorie nach Norbert Elias sowie der Diskurstheorie nach Michel Foucault als Grundlage fur eine Analyse eines resilienten Subjekts in der Gegenwartsgesellschaft. Der Begriff der Subjektivitat wird in soziologi- schen Publikationen haufig rezipiert (u.a. Brocklig, 2013; Dahlmanns, 2008; Emmerich & Scherr, 2016; Reckwitz, 2015), welche fur die vorliegende Arbeit herangezogen werden. Als ein wesentlicher Aspekt der Subjektkonstitution wird beispielhaft die Identitatsentwicklung in der Adoleszenz[I] beleuchtet.

Die beiden Theoriestromungen erweisen sich als besonders fruchtbar, um einer- seits diese zivilisatorischen Veranderungen in der Gegenwartsgesellschaft in den Blick zu nehmen und andererseits ihre diskursive Bedeutung herauszustellen (Blum et al., 2016). Bisherige Studien und Schriften, welche die beiden Autoren Elias und Foucault einem Vergleich unterziehen, thematisieren den Begriff der Subjektivitat und des Korpers (u.a. Dahlmanns, 2008; Willems, 2010), den Machtbegriff (Witte, 2019) sowie die Disziplinierung (u.a. Gugutzer, 2015; Luserke, 1995). Zudem differenzieren diese Arbeiten jeweils unterschiedliche und sehr spezifische Themenfelder. Aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema Resilienz und dessen Entwicklung sind derzeit nur vereinzelnd zu finden und signifikante Aussagen konnen noch nicht getatigt werden (Lindert et al., 2018, S. 760f.). Entsprechend kann im Bezug zur Resilienzforschung eine Forschungs- lucke gefunden werden, die es erlaubt, eine gegenwartsgesellschaftliche Anwen- dung der Diskurs- und Zivilisationstheorie am Beispiel der Resilienz durchzu- fuhren. Aktuell werden Langzeituntersuchungen mit unterschiedlichen Al- terskohorten durch das Deutsche Resilienz Zentrum in Mainz umgesetzt (Lieb et al., 2019a, S. 763f.). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der persona- len Resilienz aus der psychologischen Literatur herangezogen, welcher sich auf das einzelne Subjekt bezieht. Die soziale Resilienz von groBeren Gruppen, Or- ganisationen oder Staaten wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung ebenfalls als wichtig erachtet (EndreB & Maurer, 2015, S. 8), diese ist fur die vorliegende Arbeit nicht vorrangig von Interesse. Entscheidend ist fur eine Aus- einandersetzung mit personaler Resilienz, dass das einzelne resiliente Subjekt stets in einem sozialen Kontext eingebettet ist, objektiv von diesem beeinflusst wird und dass diese Einflusse auf das Subjekt zuruckwirken (Eppel, 2007, S. 117f.). Bedeutend in der Resilienzforschung mit Jugendlichen ist es, ob und wel- che Einflussfaktoren als kausale Risikofaktoren fur das Entstehen einer psycho- pathologischen Auffalligkeit gelten konnen (Ihle et al., 2011, S. 16). Inwieweit unsere heutige Gegenwartsgesellschaft diese risikohaften Einflussfaktoren oder Auswirkungen auf das Subjekt beeinflusst, soll mit dieser Arbeit verfolgt wer- den. Da es sich um eine Theoriearbeit handelt, konnen Kausalzusammenhange nicht im Detail aufgezeigt werden.

1.3 Forschungsfragen

Mit der vorliegenden Masterarbeit mochte die Verfasserin untersuchen, wie eine soziologische Betrachtungsweise eines resilienten Subjekts in der Gegenwarts- gesellschaft verstanden werden kann. Nahezu unzweifelhaft wird vermutet, dass es sich bei dem Konzept der Resilienz um einen dynamischen Prozess handelt, der einen interdisziplinaren Forschungsbedarf notwendig macht (BonB, 2015, S. 27; EndreB & Maurer, 2015, S. 23; Lindert et al., 2018, S. 762f.).

Aus interdisziplinarer Perspektive ist das Konzept der Resilienz wissenschaftlich interessant: Einerseits wird ein diskursanalytischer Blick eingenommen, da be- reits verdeutlicht wurde, dass Resilienz in aktuellen wissenschaftlichen, politi- schen und offentlichen Diskursen eine besondere Relevanz erfahrt, welches eine interdisziplinare Forschung notwendig macht (EndreB & Maurer, 2015, S. 23). Andererseits kann, zivilisationstheoretisch betrachtet, die Zunahme der Kon- trolle von Affekten als ein Ubergang vom Fremd- zum Selbstzwang bezeichnet werden (Elias, 1990, S. 215). Bezogen auf den oben genannten sozialen Wandel durch eine historisch stets komplexer werdende Gesellschaft bedeutet dies, dass die aktuell als zivilisiert geltenden Verhaltensnormen bereits vom Subjekt ver- innerlicht werden, ohne rechtlich sanktioniert werden zu mussen (ebd., S. 255). Nach diesen bisherigen Darlegungen bleiben die Fragen zu klaren, welche Per- spektiven durch die Diskurstheorie und die Zivilisationstheorie fur das resiliente Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft eroffnet werden konnen. Weiterhin bleibt zu diskutieren, wie Resilienz aus diskurs- und zivilisationstheoretischer Perspek- tive im sozialen Wandel der Gegenwartsgesellschaft verstanden werden kann.

Ziel dieser vorliegenden Arbeit wird die Beantwortung der Fragen sein, wie das resiliente Subjekt, bezogen auf die Identitatsentwicklung Jugendlicher, in den sozialen Wandel der Gegenwartsgesellschaft eingeordnet werden kann und wel- che analyserelevanten Aspekte abzuleiten sind. Damit verbunden ist Resilienz prozessual zu konzipieren und insbesondere auf einen nicht-linearen Wandel auszurichten (EndreB & Maurer, 2015, S. 23). Um beide Theorietraditionen mit- einander vergleichen zu konnen, ist es notwendig, nach Inhalten, Konvergenzen und Divergenzen zu fragen, um anschlieBend einen Theorievergleich und eine Analyse in Bezug zum Phanomen der Resilienz durchfuhren zu konnen.

1.5 Methodische Vorgehensweise

Die wissenschaftliche Resilienzforschung beschaftigt sich seit dem Beginn der Forschung mit der Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen. Im Vergleich hierzu sind Forschungsergebnisse zum Thema Resilienz bei Erwachsenen und alteren Menschen kaum auffindbar (Lindert et al., 2018, S. 760ff.). Entsprechend lasst sich ein Forschungsstand fur die letztgenannte Alterskohorte nur unzu- reichend abbilden und ist fur einen thematischen Schwerpunkt in dieser Arbeit weniger geeignet. Als Zielgruppe werden in dieser Arbeit Jugendliche in der Adoleszenz mit einem Alter bis etwa 18 Jahren fokussiert. Entsprechend selten wurde konzeptionell die Frage diskutiert, inwieweit durch einen Strukturwandel die darauf bezogene resiliente Einheit analytisch konzipiert werden kann (End- reB & Rampp, 2014, S. 75). Als „resiliente Einheit“ (ebd.) wird in der vorliegen- den Masterarbeit das resiliente Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft und bei- spielhaft hierfur die Identitat im Jugendalter als eine Perspektive der Subjekt- konstitution thematisiert.

1.6 Aufbau der Arbeit

Mit der vorliegenden Masterarbeit wird eine theoretisch-konzeptionelle Heran- gehensweise verfolgt. In einem einleitenden Kapitel wird die Thematik gesell- schaftlich eingeordnet, der Forschungsstand dargelegt sowie die Forschungs- frage und methodische Vorgehensweise formuliert.

Im Kapitel 2 wird der Frage nachgegangen, wie die Gegenwartsgesellschaft und die Einordnung des Subjekts, insbesondere die Identitatsentwicklung des Ju- gendalters, in diese zu ergrunden sind. Weiterhin gilt es, die analytische Katego- rie der Resilienz zu erfassen sowie die soziologische Relevanz herauszuarbeiten und kritisch in Frage zu stellen. Dabei werden die Bedeutung des sozialen Wan- dels diskutiert sowie Gemeinsamkeiten und AusschlieBungen vorgenommen.

Im Kapitel 3 werden die soziologischen Theorien der Zivilisationstheorie von Norbert Elias und der Diskurstheorie von Michel Foucault vorgestellt sowie Un- terschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, um diese im folgenden Ka- pitel auf das Thema Resilienz beziehen zu konnen.

Fur den Vergleich beider Theorietraditionen in Bezug zum Thema Resilienz werden in Kapitel 4 neben den Primarquellen der Autoren Foucault und Elias zudem Sekundarquellen herangezogen. Dadurch sollen ein tiefergehendes The- orieverstandnis sowie ein analytisches Vorgehen sichergestellt werden. Um ei- nen Theorievergleich und eine prazise Analyse vornehmen zu konnen, wird das Thema Resilienz in sechs Aspekte gegliedert und eingeordnet: Widerstandsfahigkeit in der Gegenwartsgesellschaft (4.1), Subjekt (4.2), Identi- tatskonstruktion im Jugendalter (4.3), Korper und Macht (4.4), Psychologie (4.5) und Sozialbeziehungen (4.6).

AnschlieBend werden im Kapitel 5 die methodologischen Perspektiven beider Theorien fur die weitere Forschung diskutiert.

Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem zusammenfassenden Fazit (6).

2 Resilienz in der Gegenwartsgesellschaft

Durch die einleitend erwahnten auBeren und gesellschaftlichen Einflussfaktoren kann vermutet werden, dass sich diese auf die „innere Widerstandkraft“ (Ols- bock, 2013, S. 103) oder die „individuelle Widerstandsfahigkeit“ (Suss & Gmelch, 2019, S. 4) des Subjekts auswirken konnen. Im folgenden Kapitel wer- den diese Charakteristika bezogen auf das resiliente Subjekt der Gegenwartsge- sellschaft vorgestellt.

2.1 Charakteristik der Gegenwartsgesellschaft

Ab der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts erweisen sich die sozial- und kultur- wissenschaftlichen Zugange zur Gegenwartsgesellschaft als vielfaltig, dennoch stimmen sie trotz radikaler gesellschaftlicher Umbruche im Wesentlichen uber­ein (Stohr et al., 2019, S. 175). Um den Fokus auf den Begriff der Gegenwarts- gesellschaft in Bezug zum Resilienzbegriff scharfen zu konnen, werden im Fol- genden einige soziologische Diagnosen vorgestellt. Diese sollen verdeutlichen, in welchen Formen eine gegenwartsgesellschaftliche Erwartungshaltung von personaler Widerstandfahigkeit an die Subjekte herangetragen werden. Zudem werden Subjektivitat und Identitat in der Adoleszenz auf die Gegenwartsgesell- schaft bezogen, um eine Analyse und die Beantwortung der Forschungsfragen durchfuhren zu konnen. Als definitorische Annaherung des Begriffs der Gegen- wartsgesellschaft kann eine vollig kontrare Denkweise zur damaligen Feudalge- sellschaft bestimmt werden. Letztere wurde bereits ab dem 16. Jahrhundert einer regelmaBigen Kritik unterzogen und mit einer Ablosung durch andere Gesell- schaftsformen konfrontiert (Brock, 2011, S. 21). Die moderne Gegenwartsge- sellschaft entsteht also mit der Emanzipation von feudalen Herrschaftsstruktu- ren, indem diese unter anderem durch den bereits von Karl Marx und Max Weber beschriebenen kapitalistischen Wandel gepragt wurde (Hillebrandt, 2018, S. 22). Weiterhin ist sie durch Begriffe wie „Enttraditionalisierung, Unubersichtlich- keit, Pluralisierung [oder; Anm. d. Verf.] Ambivalenz“ gekennzeichnet (Stohr et al., 2019, S. 175). Diese Darstellung lasst sich sowohl auf der gesellschaftlichen Makroebene ebenso als auch auf der subjektiven Ebene der Identitat rekonstru- ieren (ebd.).

Andreas Reckwitz versteht die Gegenwartsgesellschaft seit ihrer Herausbildung im 19. Jahrhundert als „Moderne“ (Reckwitz, 2016, S. 31) mit einer kurzzeitigen Erscheinung. Reckwitz betont den sozialen Wandel der Gegenwartsgesellschaft hin zu einer „Zukunftsgesellschaft“ (Reckwitz, 2016, S. 31). Ausgangspunkt ist die weiter voranschreitende technologische Entwicklung und die Steigerung des Lebensstandards nach dem zweiten Weltkrieg (ebd.). Der Autor lehnt einen ver- engten Rahmen nach der Frage des Zukunftigen ab und pladiert fur ein ange- messenes Verstandnis einer „Zeitstruktur von Sozialitat“ (ebd., S.32). Reckwitz verweist unter anderem auf Wittgenstein, Bourdieu und Giddens und mochte mit diesen Autoren aufzeigen, dass sich ein praxeologischer Zugang zur Gegen- wartsgesellschaft als fruchtbar erweist (ebd., S. 38). Der Autor nennt als identi- tatsstiftende Beispiele fur Zeitregime die kapitalistische Wirtschaftsordnung in der heutigen Gegenwartsgesellschaft, aus denen Erwartungsenttauschungen ein- zelner Erwerbsbiografien resultieren. Seit den 1980er Jahren entwickeln sich Planungsungewissheiten und Risikokalkulationen fur das einzelne Individuum, die mit multiplen Abhangigkeiten und pluralen Lebenswelten einhergehen und von den neoliberalen politischen Regierungen in der spatkapitalistischen Gegen- wartsgesellschaft gefordert werden. Hier seien zum Beispiel die Veranderungen des Konsumverhaltens, die Transformation des Arbeitsmarktes mit den globalen Folgen wie Finanz- oder Okokatastrophen und Migrationsbewegungen sowie der Ruckbau des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates genannt (ebd., S. 47ff.). An dieser Stelle kann auf das Werk „Uber das Politische“ (2007) von Chantal Mouffe hingewiesen werden. Die Politikwissenschaftlerin betont darin grundsatzlich das Anerkennen und Aushandeln von Antagonismen als einen so- zialitats- und friedenstiftenden Prozess. Entgegen der liberalen Modelle bleiben widerstreitende Positionen als Gegensatze enthalten, die nicht durch pluralisti- sche Ansatze miteinander konkurrieren, aber dennoch in ihren hegemonialen Po- sitionen aufgedeckt werden sollen (Mouffe, 2007, S. 139f).

Diese Flexibilisierungsanforderungen an das Subjekt, die mit digitalen und in- formationstechnischen Erneuerungen in der heutigen Gegenwartsgesellschaft einhergehen, greift auch Richard Sennett (1998) in seinem Werk „Der flexible Mensch“ (im englischsprachigen Original: „The corrision of character“) auf. Das Motto des flexiblen Kapitalismus „Nichts Langfristiges“ (ebd. S. 25) zwingt den Menschen „in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen“ (Sennett, 2000, S. 25). Diese Erwartung an eine Veranderungsbereitschaft beschreibt das Phanomen des Driftens, welches als ein Gegensatz zu den festen Charaktereigenschaften eines Menschen verortet werden kann (ebd. S. 36). Hierzu gehoren die subjektive Angst des Kontrollverlusts und ein Verlust enger Freundschaften, Familienbindung und Freizeitaktivitaten, der zu einem „Zu- stand des Dahintreibens“ fuhrt (ebd. S. 22ff.). Sennet geht von einer „ungedul- digen Gesellschaft“ (ebd., S. 12) aus, die eine permanente berufliche Flexibilitat einfordert. Durch ein permanentes Austangieren zwischen Familie und Beruf entsteht die Gefahr, dass die Kinder zu „Mall-Ratten“ (ebd., S. 24) werden konn- ten. Die Familie, die Charaktereigenschaften wie Stabilitat, Loyalitat oder Ver- trauen einfordert, kommt beim gegenwartigen flexiblen Kapitalismus schneller unter die Rader wie keine andere Institution (ebd. S. 24ff.).

In ahnlicher Weise argumentiert auch Ulrich Brockling in seiner Studie „Das unternehmerische Selbst“ (2013), welche erstmals im Jahr 2007 erschienen ist. Die Menschen sind gesellschaftlich gefordert, ihre Kompetenzen ihr Leben lang permanent zu perfektionieren und sich selbst zu optimieren. Damit geht einher, dass die Individuen flexibel, eigenverantwortlich und mobil sein mussen, indem sie sich in der gegenwartigen kapitalistischen Gesellschaft zum*/zur* eigenen Unternehmer*in erklaren, um den Anforderungen in der gesellschaftlichen Dy- namik gerecht zu werden (ebd., S. 53ff). Das unternehmerische Selbst entstammt aus dem Konstrukt des homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften, wel­ches auf der Modellierung menschlichen Verhaltens aufbaut und sich auf die Gouvernementalitats- und Zivilisationsstudien der Sozialwissenschaften uber- tragen lasst (ebd., S. 12f.). Die negativen Folgen dieser unternehmerischen Selbstoptimierung sind bereits durch eine permanente Angst des Scheiterns und des Nicht-Genugens sowie die Aufforderungen einer Risikobereitschaft vorher nicht abschatzbarer Folgen ersichtlich geworden (ebd., S. 73ff).

Uwe Vormbusch (2019) formuliert den Begriff der „Sozialkalkulation“ (Vorm- busch, 2019, S. 23) als ein wesentliches Phanomen der Gegenwartsgesellschaft. Die einst kapitalistische Produktionsweise bezieht sich demnach nicht mehr aus- schlieBlich auf die objektive Welt eines Waren- und Dienstleistungsangebots, sondern auf die Subjektivitat wie Gefuhle, Wunsche und Erwartungen der Indi- viduen. Diese neuen Bewertungspraxen konnen auch im Sinne alltaglicher und subjektiver Rechtfertigungsordnungen zu Unsicherheiten fuhren. Sie auBern sich unter anderem in einer Bewertung des Selbst und des eigenen okonomischen Wertes (Vormbusch, 2019, S. 24f.). Hierdurch wird deutlich, dass die heutige Gegenwartsgesellschaft nicht ausschlieBlich als kapitalistische Produktions- und Wirtschaftsform beschrieben werden kann und dass sich diese fundamental von der traditionellen Feudalordnung unterscheidet (Hillebrandt, 2018, S. 25).

Auch der Soziologe Jurgen Habermas verdeutlicht in seiner Gegenwartsdiag- nose, dass der Kapitalismus erheblich in die Lebenswelt der Subjekte eingreift. Durch die Ausweitung des Waren-, Geld-, Personen- und Nachrichtenverkehrs wird eine Mobilitat gefordert, welche die Subjekte aus der Eingebundenheit in ihrer Lebenswelt (und damit aus normativen Strukturen, Werten oder Weltbil- dern) freisetzt, um sich „wachsende Optionsspielraume“ (Habermas, 1998, S. 126) zu schaffen. Damit verbunden ist eine Ausdifferenzierung des Gesell- schaftssystems und eine Enttraditionalisierung der Lebenswelt, welche eine Le- gitimationskrise bei den Subjekten hervorrufen kann (Habermas, 1996, S. 14).

In Ulrich Becks‘ Theorie der sozialen und individuellen Verwundbarkeit spricht der Autor von einer „riskanten Modernisierung“. Seit den 1990er Jahren kann die „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986) als eine der prominentesten Gegenwarts- diagnosen in der Soziologie und den Erziehungswissenschaften genannt werden, die „eine neue Art sozialer Verwundbarkeit“ (Stohr et al., 2019, S. 169) hervor- bringt. Die damaligen, durch die soziale Herkunft vorstrukturierten Biografie- muster, haben ihre normative Kraft eingebuBt, wodurch eine Freisetzung der In- dividuen erfolgt. Diese werden „innerhalb und auBerhalb der Familie zum Ak- teur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und ihrer Biographieplanung [sic!] und -organisation“ (Beck, 1986, S. 46). In Becks‘ Risikogesellschaft wer- den subjektive Eigenschaften wie Kreativitat, Flexibilitat oder Risikobereit- schaft zu Schlusselqualifikationen, welche die Subjekte in ihrer eigenen Er- werbsbiografie einsetzen mussen. Dadurch entsteht eine „neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit“ (ebd., S. 118). Gesellschaftliche Probleme werden dem Individuum zugeschrie- ben und die Gefahr der daraus entstehenden subjektiven Probleme durch die ein- geforderten Anpassungs- und Konfliktlosungskompetenzen konnen zu psychi- schen Dispositionen und Unsicherheiten fuhren (Stohr et al., 2019, S. 178f.). Diese Entscheidungsmoglichkeiten sind wiederum im hohen MaBe von den in- dividuell verfugbaren und ungleich verteilten okonomischen Ressourcen abhan- gig (ebd., S. 177).

Gerhard Schulzes Gegenwartsdiagnose der Erlebnisgesellschaft spiegelt ein „Projekt des schonen Lebens“ (Schulze, 2005, S. 35) wider, indem monetare Ressourcen fur Reisen, Freizeitparks, Shopping-Touren oder die voranschreitende Digitalisierung durch Informations- und Kommunikations- technologien und Unterhaltungselektronik voraussetzt werden. Das Motto der Erlebnisgesellschaft lautet: „Jeder ist fur seine Erlebnisse selbst verantwortlich“ (ebd., S. 14). In dieser „Umwelt der ungezahlten kleinen Moglichkeiten“ (ebd., S. 102) nimmt die Konkretisierung von Identitat in Form von Vorlieben, Abnei- gungen oder Interessen eine asthetische Komponente ein (ebd.).

Der Soziologie Wilhelm Heitmeyer verdeutlicht in seiner Gegenwartsdiagnose der gesellschaftlichen Desintegration, dass das gesellschaftliche Leben in Deutschland entscheidend von Krisen beeinflusst wird, welche sich auf die Mik- roebene der Subjekte auswirken. In seiner Reihe „Deutsche Zustande“ betont der Autor, dass sich die Menschen von den okonomischen und gesellschaftlichen Krisen zunehmend bedroht fuhlen, woraus sich Desintegrationsangste entwi- ckeln konnen. Die Menschen haben zunehmend das Vertrauen in die Politik ver- loren, woraus zunehmend ein Ohnmachtsgefuhl resultiert (Heitmeyer & Klein, 2012, S. 87ff.).

Das Forscher*innenteam um Caroline Roth-Ebner formuliert den Begriff der „mediatisierten Gesellschaften“ (Kalina et al., 2018, S. 13). Durch die Jahrtau- sendwende ist eine Epoche angebrochen, die einen gravierenden Wandel neuer Kommunikationstechnologien hervorbringt. Digitale soziale Netzwerke wie Fa­cebook oder Online-Multiplayer-Spiele verandern auch bei Jugendlichen den of- fentlichen, privaten und beruflichen Alltag. Dieser Wandel ruft Perspektiven, wie neue Berufs- und Bildungsmoglichkeiten, jedoch auch subjektive Unsicher- heiten und Risiken hervor (ebd., S. 13ff.).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der Gegenwartsgesell- schaft von einem nicht zu leugnenden gesellschaftlichen Wandel ausgegangen werden kann. Als pragend fur diesen Wandel kann vor allem die kapitalistische und neoliberale Wirtschaftsordnung beschrieben werden, welche die Menschen in Familie, Freizeit und Beruf beeinflusst. Im Folgenden werden die Begriffe der Subjektivitat und der Identitat im Jugendalter in den Kontext der Gegenwartsge- sellschaft eingebunden, um sich der Beantwortung Forschungsfrage (1.3) anzu- nahern.

2.2 Subjektivitat

In den aktuellen Theorien der Sozial- und Kulturwissenschaften ist eine eigen- verantwortliche und selbstbestimmte Lebenspraxis das Fundament einer kriti- schen Reflexion gesellschaftlicher Zwange, Normen und Werte (Emmerich & Scherr, 2016, S. 281; Reckwitz, 2015, S. 13f.). Marcus Emmerich und Albert Scherr beschreiben die Subjektbildung als Prozess, in dem Individuen sich kri- tisch damit beschaftigen, dass nur ein selbstbestimmtes, vernunftorientiertes und moralisch urteilsfahiges Individuum in der Lage ist, die gesellschaftlichen Er- fordernisse zu bestehen (Scherr, 2016, S. 281). Durch die Tradition der Kriti- schen Theorie, die unter anderem durch den Philosophen und Soziologen Theo­dor W. Adorno beeinflusst wurde, erhielten die Begriffe Subjekt und Subjekti- vitat eine pragende Bedeutung. Individuen konnen nach der Abkehr der feudal- gesellschaftlichen Zwange ein kritisches Verhaltnis zu gesellschaftlichen Nor­men und Werten einnehmen. Durch das Postulat der Aufklarung in den Subjekt- theorien wird von nun an von einem nicht deterministischen und kritisch-refle- xiven Individuum ausgegangen, welches eigenstandig zu einer Uberprufung von vorherrschenden Dogmen und Traditionen fahig ist (ebd., S. 282).

Andreas Reckwitz thematisiert in seinem Werk „Subjekt“ (2012) zeitgenossi- sche sozial- und kulturwissenschaftliche Programme der Subjektanalyse der Ge- genwart. Als Subjektivitat definiert der Autor die gesamte kulturelle Form, in welcher das korperliche, geistige und affektive Individuum in bestimmten Prak- tiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird (ebd., S. 17). In seinen Analysen hebt der Autor hervor, dass der Begriff der Subjektivierung auf ein Subjekt verweist, das als „nicht als vorhanden“ (Reckwitz, 2015, S. 10) zu betrachten ist, sondern welches sich stets im Prozess der kulturellen Produktion befindet (ebd.). Dem Subjekt wird eine „Doppeldeutigkeit“ (ebd., S. 14) zuge- schrieben, da sich das vornehmlich autonome und selbstverwirklichende Subjekt gegenuber den kulturell vorgegebenen Normen des Objekts prasentiert. Subjek- tivierung verlauft in einem Wechselspiel zwischen aktiven und passiven Hand- lungen, oder: „ Agency ist nie ohne structure zu denken“ (ebd.). Angelehnt an das Konzept des homo sociologicus wird das Subjekt mit normativen Rollener- wartungen konfrontiert (ebd.). Reckwitz‘ Zugang zum Subjekt thematisiert zu- sammenfassend die Frage, wie eine Selbstreflexivitat entsteht und inwieweit diese der gesellschaftlichen Normativitat des Objekts gegenubersteht (ebd., S. 16). Fur seinen weiteren Zugang zum Subjekt fokussiert der Autor Fragen nach der Korperlichkeit und Psyche, dem individuellen Selbstverstandnis und dem Dualismus von Individuum und Gesellschaft, in dem das Subjekt unter spezifi- schen soziokulturellen Bedingungen durch standige kulturelle Produktion zu ei- nem solchen gemacht wird (ebd., 10f.).

Ein in dieser Arbeit besonders hervorzuhebender Themenbereich ist jener von Subjekt und Macht. Subjektivitat ist durch Machtverhaltnisse gekennzeichnet, indem politische und normative Leitbilder von den Menschen verinnerlicht und diese zum Teil der eigenen Subjektivitat werden (ebd., S. 284; Lemke, 2001, S. 77). Ein wesentliches Mittel der Machtausubung auf das Subjekt, insbesondere in den Texten und Rezensionen Foucaults, ist die Disziplin (Lemke, 2001, S. 77). Disziplin kann als reflektiertes Selbst durch Wahrnehmen, Empfinden und Reagieren auf kulturelle Gebots- und Verbotsnormen wirksam werden: Das Sub- jekt reflektiert, ob die gesellschaftlich legitimierten Normen eingehalten werden (Willems, 2012, S. 179f.). Die Werke von Karl Marx betonen hierbei den Aspekt der Arbeit (Willems, 2012, S. 70, 162), das Erkenntnisinteresse Georg Simmels verweist auf die Spannungen und Konflikte verschiedener (kapitalistischer) Stromungen innerhalb des modernen Welt (Lichtblau, 1997, S. 17f.) und die Theorie Max Webers betont die Pragungen durch den Protestantismus (Weber, 1988). Die Frankfurter Schule knupft subjekttheoretisch und sozialpsycholo- gisch an die Psychoanalyse Freuds mit einem Verstandnis von Subjektivierung als Effekt kultureller Disziplinierung an (Knapp, 2004, S. 177). Die erziehungs- wissenschaftliche Diskursforschung versteht Selbstdisziplin als einen Teilbe- reich der Disziplin, der sich auf die inneren Umstande des Subjekts bezieht und auBere Fremddisziplinierung voraussetzt, um das „Ziel der Erziehung“ (Fegter, 2015, S. 222) zu erreichen. In Bezug auf den zu Erziehenden ist Selbst- und Fremddisziplin mit einer Differenz von Gegenwart und Zukunft verbunden, wodurch Selbstdisziplin als Prozess erfolgt. Eine solche „Einsicht zur Selbstdis- ziplinierung“ (ebd., S. 225) zur Einhaltung von Regeln und Ordnungen lauft dadurch Gefahr, eine auf Furcht und Gewalt aufbauende Disziplin hervorzubrin- gen (ebd., S. 222ff.). An dieser Stelle kann auf Max Webers‘ „economy of soul“ (Van Krieken, 1990, S. 355) Bezug genommen werden, indem die Selbstdis- ziplinierung dazu fuhren kann, dass die innere Wahrnehmung mit der auBeren, burokratisierten und individualisierten Gesellschaft ubereinstimmt. Durch menschliches Machtstreben kann die Selbstkontrolle eine Machtentfaltung her- vorbringen (ebd., 355ff.).

Die Gegenwartsgesellschaft, die im Kapitel 2.1 dieser Arbeit bereits skizziert wurde, kann zusammenfassend als kapitalistisch beschrieben werden. Mit dem Wandel der Gesellschaftsformen andern sich auch die Subjektivierungsprozesse (Scherr, 2016, S. 91). Reckwitz beschreibt in „Die Gesellschaft der Singularita- ten“ (2017) den Wandel von der Industriegesellschaft zur Gegenwartsgesell- schaft als technische Revolution, in der das Singulare hervorgehoben wird. Die Subjekte favorisieren, ahnlich wie es Schulze in seiner Erlebnisgesellschaft (2005) ausfuhrt, das sogenannte „Gute Leben“ (Reckwitz, 2017, S. 308). Als Kennzeichen dienen hierfur vor allem: Ernahrung, Reisen, Korperbewusstsein, Erziehung und der neue Liberalismus (u.a. Sennett, 2000, S. 31ff.; Reckwitz, 2017, S. 308f.). Reckwitz argumentiert, dass sich durch diese Form der Selbstop- timierung ein singularistischer Lebensstil und eine performative Selbstverwirk- lichung entwickeln und sozial konstruieren (Reckwitz, 2017, S. 305ff.).

Ahnlich verweist Brockling in seiner Studie „Das unternehmerische Selbst“ auf die gesellschaftlichen Erwartungen von Flexibilitat und Selbstoptimierung, in­dem sich das Subjekt selbst zum*/zur* Unternehmer*in machen soll. Die Selbst- standigkeit zeigt sich durch das Autonomiestreben als vorteilhaft, um den sub- jektiven Wert in der kapitalistischen Gesellschaft zu steigern (Brockling, 2013, S. 58). Diese gesellschaftliche Haltung ist in den letzten Jahren durch (digitale) Medien in Form von Ratgeberliteratur auf die Subjekte ubertragen worden (ebd., S. 61ff.). Brockling verweist in Anlehnung an George Herbert Mead auf die „Subjektivierung durch Objektivierung“ (Brockling, 2013, S. 19), indem das Subjekt „als eigenstandiges Ich agiert“ (ebd.). Seine Handlungsfahigkeit bezieht es jedoch von jenen Instanzen, gegen die es eine vermeidliche Autonomie be- hauptet. Auch hier macht Brockling auf den Machtaspekt im Subjektivierungs- prozess als ein „Paradox der Subjektivierung“ (ebd.) aufmerksam, denn die „Hervorbringung und seine Unterwerfung fallen zusammen“ (ebd.).

Eine weitere Perspektive des Subjekts in der Gegenwartsgesellschaft zeigt „Das uberforderte Subjekt“ auf, indem die Subjektivierung mit einer Pluralisierung von Lebenslagen einher geht. Durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Mo- dernisierungsprozesse, die von den Menschen beschritten werden mussen, kon- nen sich Abhangigkeiten bei den Subjekten plural entwickeln (Heinze & Thoma, 2018, S. 9f.). Bezogen auf das Phanomen Resilienz konnen sich durch die ver- anderten Anforderungen an die Widerstandsfahigkeit der Menschen „Phano- mene der Uberforderung“ (ebd.) zeigen, mit denen die Individuen entweder selbst konfrontiert werden oder die sie sich selbst auferlegen (ebd.). Fur die Sub- jekte ist es, so die Autoren, charakteristisch, dass sie die von auBen auferlegten Anforderungen haufig internalisieren und diese in ihre eigenen Motivationen umwandeln. Das als autonom und selbstbestimmt definierte Individuum kann vielmehr als „unterworfenes subjekticum“ (ebd.) betrachtet werden. Der einst identitatsstiftende Ort, an dem sich die Subjekte leiblich aufhalten konnten, lost sich, zugunsten der permanenten Beschleunigung von Kommunikation und Konsum auf (ebd., S. 10). An dieser Stelle bekommt das Konzept der Selbstsorge eine besondere Relevanz. Dieses beinhaltet die Notwenigkeit, sich verstarkt um sich selbst zu kummern, um im paradoxen Wandel des Kapitalismus mit seinen zahlreichen Wahlmoglichkeiten bestehen zu konnen (Flick, 2012, S. 368).

In den aufgefuhrten Diagnosen der Gegenwartsgesellschaft bewegen sich die Subjekte vor allem in einer Risikogesellschaft, individualisierten Gesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, Mediengesellschaft oder Wis- sensgesellschaft im vorherrschenden Kapitalismus (ebd., S. 94). Sennett be- schreibt das Subjekt in „Der flexible Mensch“ als flexibles Arbeitssubjekt, wel­ches in unserer neoliberalen Gesellschaft „von Ort zu Ort und von Tatigkeit zu Tatigkeit driftet“ (Sennet, 2000, S. 31). Nach Schulze ist es die Auswahl aus den zahllosen Moglichkeiten fur das einzelne Subjekt, um „sich das Leben schoner zu machen“ (Schulze, 2005, S. 253). Durch die Freisetzung der Individuen aus ihren einst strukturierenden Zwangen, die andererseits den Subjekten eine Si- cherheit in ihrem Lebenslauf aufzeigten, wurde durch die Aspekte der sozialen Freisetzung, kulturellen Entzauberung und gesellschaftlichen (Re-)Integration die individuelle Biografie zur „Bastelbiografie“ (Beck, 1986, S. 205ff.).

Zusammenfassend kann angenommen werden, dass das vermeintlich autonome und selbstbestimmte Subjekt den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unter- worfen ist und subjektive, charakterformende Strukturmerkmale zugunsten einer Anpassungs- und Transformationsbereitschaft an Bedeutung verlieren (Heinze & Thoma, 2018, S. 356ff.). Um diesen Ausfuhrungen weiter zu folgen und den Bezug zur Resilienz im Jugendalter (Adoleszenz) herzustellen, ist es im Folgen- den notwendig, das Konstrukt der Identitat im Jugendalter genauer zu betrach- ten.

2.3 Identitat im Jugendalter

In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird zwischen den Begriffen Subjekti- vitat und Identitat deutlich unterschieden (u.a. Reckwitz, 2015, S. 6ff.; Straub, 2018, S. 175ff.), wobei die Differenzen eher als idealtypisch in Anlehnung an die Idealtypen nach Max Weber (1980, S. 10) verstanden werden konnen. Der Begriff der Identitat stammt aus den westlichen und industrialisierten Gesell- schaften des 19. Jahrhunderts und den darin verorteten subjektiven Lebensent- wurfen durch den gesellschaftlichen Wandel (Giddens, 1993, S. 445ff.).

Nach der Sozialpsychologin Nicola Doring (2003) ist Identitat ein Produkt ver- schiedener Faktoren, die eine Person uber eine bestimmte Zeit und uber be- stimmte Situationen ausmachen. Dabei macht die Individualitat das Individuum einzigartig (Doring, 2003, S. 421f.).

Der Sozialpsychologe Jurgen Straub bezieht den Identitatsbegriff auf Personen, „die sich von sich selbst distanzieren, uber sich reflektieren und sich auf diese Weise selbst ernst nehmen konnen“ (Straub, 2018, S. 175). Identitat ist dem Sub- jekt nicht einfach gegeben, sondern muss von diesem konstruiert werden. Die Struktur der Identitat umfasst, so Straub, „das Selbstgefuhl und Selbstverstand- nis einer Person“ (ebd.). Dabei trennt der Autor die personale und soziale Iden- titat nicht notwendigerweise, sondern begreift die personale Identitat als Einheit einer Person, die an soziale vermittelte, psychische Syntheseleistungen eines Subjekts gebunden ist. Erforderlich ist es, so Straub, dass die Bestandteile dieser Syntheseleistungen differenziert werden mussen. Hierzu ordnet der Autor das Konzept der Identitat strikt entlang der Begriffe Kontinuitat, Konsistenz und Ko- harenz (Straub, 2000, S. 171f.). Kontinuitat gilt nicht als etwas Gegebenes, son- dern muss von Subjekt konstruiert werden und ist an Gegenwartiges und Zu- kunftiges gebunden. Die Identitatsfrage „Wer bin ich (geworden) und wer mochte ich sein?“ (ebd., S. 172) lasst sich auch in Selbsterzahlungen beantwor- ten, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende beinhalten (ebd.) und uber Bruche und ZerreiBproben des Lebens berichten (ebd., S. 127ff.). Unter Konsistenz ver- steht Straub „die logische Vertraglichkeit von Satzen und Satzsystemen“ (ebd., S. 175), wobei die Widerspruchsfreiheit von geordneten Aussagen eher eine un- tergeordnete Rolle spielen, sondern die psychische Einheit des Subjekts in den Vordergrund geruckt wird. Diese sind von der kontextgebundenen Lebensform durch verschiedene Rollen und Situationen abhangig (ebd.). Koharenz und Kon- tinuitat bezeichnen zwar einen „einheitlichen Zusammenhang“ (ebd., S. 175), doch ist Koharenz nicht primar narrativ und nicht widerspruchsfrei konstruier- bar. So konnen moralische und asthetische Maximen sowie soziale Rollen unter dem Fokus der Koharenz betrachtet werden (ebd.). Straub halt fest, dass mit die­sen idealtypischen Begriffen „die fragile Einheit, die zerbrechliche ganzheitliche Struktur“ (ebd.), welche die Identitat ausmacht, naher bestimmbar werden (ebd., S. 175f.).

Das Phanomen der Identitat im Jugendalter wird im Folgenden mit dem resili- enten Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft in Beziehung gesetzt. Wie bereits skizzierend dargelegt, kann der Begriff der Resilienz mit einer individuellen Wi- derstandsfahigkeit beschrieben werden (1.1), wodurch ein „Gedeihen trotz wid- riger Umstande“ (Welter-Enderlin & Hildenbrand, 2016, S. 7) moglich wird. Ju­lia Lipkina versteht Identitat als Widerstandsfahigkeit gegenuber gesellschaftli- chen Verhaltnissen, die ein offenes Menschenbild einfordert und mit den plura- len und undurchsichtigen Umstanden der Gegenwartsgesellschaft einher geht (Lipkina, 2016, S. 71). Die Vergesellschaftungsmechanismen soll der Mensch zwar durchschauen, dennoch soll dieser eine Widerstandfahigkeit entwickeln und zur Emanzipation fahig werden (ebd., S. 266). Im Folgenden geht es darum, dass Jugendliche eine personale Widerstandsfahigkeit gegenuber gesellschaftli- chen Zwangen durch eine „Ich-Starke“ (Lipkina, 2016, S. 10) ausbilden mussen. Wenn sich bei einem Subjekt trotz widriger Umstande ein positiver Entwick- lungsverlauf in seiner Identitat abzeichnen lasst, sind wesentliche Kriterien er- fullt, welche fur das Konzept der Resilienz vorausgesetzt werden (ebd.). Beim Identitatsbegriff sammeln sich die Auswirkungen der Gegenwartsgesellschaft als ein subjektiver, dynamischer Modernisierungsprozess auf individueller Ebene, der als zunehmende Unubersichtlichkeit und Widerspruchlichkeit oder als Prozess der Enttraditionalisierung und Fragmentierung der Lebensverlaufe erlebt wird. Dabei ist zu klaren, welche individuellen Anforderungen von den Subjekten abverlangt werden konnen und wie dadurch eine Verortung der eige- nen Identitat gelingen kann (Ohlbrecht, 2006, S. 7). Vor allem Jugendliche sind von dem Identitatsfindungsprozess betroffen, da die Ausbildung und Selbstfin- dung zu den zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters gehort (Ohl- brecht, 2006, S. 7).

Im Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst werden bestimmte kul- turelle und gesellschaftliche Anforderungen und Erwartungen an die Jugendli­chen definiert. Diese erfassen fur jeden Jugendlichen objektive Handlungserfordernisse in bestimmten Lebenslagen, denen sich die Subjekte stellen mussen und aus denen sich ihre individuelle Identitat entwickelt. Nach Havighurst ist der Lebenslauf eine Folge von Problemen, die das Individuum bewaltigen muss. Es mussen die verschiedenen subjektiven Probleme, welche durch biologische, soziokulturelle und psychologische Einflusse entstehen, in- nerhalb eines Lebensabschnitts bewaltigt werden (Havighurst, 1953, S. 328ff.). Neben Havighurst widmen sich vor allem Erik. H. Erikson und George Herbert Mead hochst produktiv dem Begriff der Identitat und der Identitatsforschung (Straub, 2000, S. 168). Der Soziologe George Herbert Mead beschreibt die Ge­sellschaft als einen Prozess der Kommunikation, indem die Individuen selbstbe- wusst und verantwortlich handeln und sich fortlaufend aktiv integrieren (Mead, 1934, S. 299). Durch den Prozess der wechselseitigen Rollenubernahme ist ein selbstbewusstes Subjekt die Voraussetzung fur Identitat (ebd., S. 183f.). Die Vielzahl an Perspektiven setzt ein spontanes Handeln des Individuums voraus, welches die Perspektiven der generalisierten Anderen stets reflexiv abstimmen muss. Dieses sogenannte „self“ (ebd., S. 245) kann mit dem Begriff der Identitat ubersetzt werden (ebd.).

Erikson folgt seinem Vorganger Jean Jaques Rousseau aus dem 18. Jahrhundert insofern nach, dass er sich zugunsten eines jugendlichen Moratoriums ausspricht (Zinneker, 2003, S. 4. 5). Im Gegensatz zu Sigmund Freud geht Erikson davon aus, dass sich die Identitat in der Adoleszenz entscheidet (Abels & Konig, 2016, S. 98). Erikson versteht die Entwicklung der Identitat als eine Abfolge phasen- spezifischer Krisen, die bewaltigt werden mussen. Zu einer Krise komme es, da das geistige, korperliche und sexuelle Wachstum im Kindes- und Jugendalter mit den Moglichkeiten und Anforderungen der sozialen Umwelt nicht uberein- stimmen (Abels & Konig, 2016, S. 96). Nach Erikson kann ein*e Jugendliche*er eine differenzierte Erwachsenen-Personlichkeit mit einem entfalteten Ich-Ideal erst dann entwickeln, wenn die Person die „Bewahrungsprobe“ (Zinneker, 2003, S. 45) der Identitatskrise erfolgreich bewaltigt hat (Erikson, 1988, S. 216f.). Dadurch erhalt der Begriff „Krise“ (Zinneker, 2003, S. 45) eine positive Wertig- keit zugesprochen (ebd.). Nach Erikson mussen die Grundzuge der Identitat ers- tens aus der „selektiven Anerkennung und Nichtanerkennung des Individuums aus der Kindheit hervorgehen“ (ebd., S. 94f.) und zweitens „aus der Art und Weise, in der der soziale ProzeB [sic!] der erlebten Zeit junge Menschen identi- fiziert [.], die so werden mussten wie sie sind“ (ebd.). Erikson spricht in seinem Modell der psychosozialen Krisen von „Identitat versus Identitatskonfusion“ (Erikson, 1988, S. 94). In dieser Phase des Zweifelns und des Ubergangs stellt sich fur Jugendliche die Frage: „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“. Diese im „psy- chosozialen Moratorium“ (Erikson, 1968/1974, S. 161) des Jugendalters zentrale Identitatsfrage kann wahrend des gesamten Lebenslaufs eines Menschen in un- terschiedlichen Abstanden immer wieder in Erscheinung treten (Abels & Konig, 2016, S. 98). Den Begriff Moratorium definiert Erikson als „eine Periode, die durch selektives Gewahrenlassen seitens der Gesellschaft und durch provokative Verspieltheit seitens der Jugend gekennzeichnet ist.“ (Erikson, 1968/1974, S. 161). Wahrend der Phase der Adoleszenz entscheidet es sich, ob es zu einer stabilen Identitat kommt. Es werden primare Bezugspersonen zugunsten Gleich- altriger aufgegeben, um sich in einer Zeit der Erprobung und des Vergleiches mit anderen neu zu definieren (ebd., S. 98ff.). Eine wesentliche soziale Grund- haltung in dieser Phase ist die Treue als eine feste Verpflichtung auf Ideale oder idealisierte Personlichkeiten, seien es nun der Glaube an Werte und Einstellun- gen oder an konkrete Personen (Abels & Konig, 2016, S. 100). Treue ist „der Eckstein der Identitat“ (Erikson, 1966, S. 255). Nach Erikson sind drei Struktur- merkmale fur eine Umschreibung eines Identitatsgefuhls wesentlich: Gleichheit (Normalitat), Kontinuitat und soziale Wechselseitigkeit. Auf jeder hochst kon- flikthaften Entwicklungsstufe mussen die Subjekte ihre Identitat aufs Neue mit der sozialen Umwelt in Einklang bringen (Conzen, 2010, S. 393). Entsprechend definiert er Identitat als das „angesammelte Vertrauen darauf, dass die Einheit- lichkeit und Kontinuitat, die man in den Augen anderer hat, einer Fahigkeit ent- spricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuitat [...] aufrechtzuerhalten“ (Erikson, 1981, S. 107). Aus heutiger Perspektive kann Eriksons‘ Modell so ein- geordnet werden, dass der Autor in den 1950er Jahren ein „Risikomodell fur die Lebensphase Jugend“ (Zinneker, 2003, S. 56) entworfen hat. Die Abweichungen (Krisen) der Jugendlichen werden als Entwicklungsaufgaben verstanden, erhal- ten aber auch ein Moment des Risikos, des Verfehlens oder Scheiterns (ebd.). Mit der Frage „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“ beziehen sich die Jugendlichen nicht nur auf die personliche, sondern auch auf ihre soziale Identitat. Jugendliche entwerfen unter Einbezug der Peers ihre zukunftigen Konzepte als handelnde Subjekte dieser Gesellschaft im Erwachsenenalter. In diesem oft belastenden Prozess des Suchens verinnerlichen sie bestimmte soziale Erwartungen und wei- sen auf andere zuruck. Dadurch verdichtet sich der Sozialisationsprozess in Richtung einer Identitat, was die Gesellschaft von den Subjekten erwartet und was fur sie moglich ist (Abels & Konig, 2016, S. 100).

Im Folgenden kann mit Eriksons‘ Modell der Identitatsentwicklung die Frage nach der Bedeutung des sozialen Wandels nachgegangen werden, die mit der vorliegenden Arbeit fokussiert wird. Entsprechend erscheint eine Fahigkeit des Subjekts, Gleichheit und Kontinuitat in Phasen wechselnder Belastungen auf- recht zu erhalten, als auBerordentlich wichtig. Das Empfinden des Subjekts, als gleich und konsistent betrachtet zu werden, nennt Erikson die personliche Iden- titat. Die Fahigkeit, diese Attribute auch handelnd auszudrucken, bezeichnet er als Ich-Identitat (Erikson, 1981, S. 32f.). Kritisch lasst sich in Bezug auf das resiliente Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft festhalten, dass die Forderung von Gleichheit jene Subjekte uberfordern konnte, die nicht bereits im Kindesal­ter ein kontinuierliches und stabiles Verhalten zeigen. Zudem denkt das Subjekt eher selten in Form einer „Dauerreflexion“ (Abels & Konig, 2016, S. 104) aktiv daruber nach, was es war, ist und sein mochte, da dies ein spontanes Handeln unmoglich macht (ebd., S. 103f.). Abels und Konig verstehen daher diese Auf- rechterhaltung von Kontinuitat als „unbewusste Praxis andauernder Identitats- arbeit“ (ebd., S. 104) durch ein unbewusstes Abstimmen zwischen Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft. Zudem lasst sich die Frage stellen, ob sich die Identitat in unserer individualisierten und pluralisierten Gegenwartsgesellschaft tatsachlich so kontinuierlich und einheitlich entwickelt, wie es Erikson vertritt (ebd.). In der Gegenwartsdiagnose von Ulrich Beck, die bereits in Kapitel 2.1 skizziert wurde, betont der Autor, dass sich seit den 1950er Jahren ein gesell- schaftlicher Individualisierungsprozess von bisher ungeahnter Reichweite abbil- det (Beck, 1986, S. 42). Dieser habe „die Menschen in einem historischen Kon- tinuitatsbruch aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezugen herausge- lost und auf sich selbst [...] mit allen Risiken, Chancen und Widerspruchen ver- wiesen“ (ebd., S. 40f.). Diese Modernisierungsprozesse haben zu einer dreifa- chen Individualisierung gefuhrt: Herauslosung aus historisch vorgegebenen und traditionellen Herrschafts- und Versorgungszusammenhangen (Freisetzungsdi- mension), Verlust von traditionalen Sicherheiten wie Handlungswissen, Glau- ben und leitenden Normen (Entzauberungsdimension) und eine neue Art der so- zialen Einbindung durch Institutionen und Organisationen (Kontroll- bzw. Rein- tegrationsdimension) (Beck, 1986, S. 206). Nach Becks‘ Individualisierungs- these lasst sich aufzeigen, dass sich die „kulturellen Selbstverstandlichkeiten“ (Abels & Konig, 2016, S. 211) nahezu bis zur Beliebigkeit erweitert haben und eine Wandlungsfahigkeit des Subjekts voraussetzen (ebd.).

Habermas entwickelt ein dreistufiges Konzept der Ich-Identitat, in welches er die Theorie der kognitiven Entwicklung nach Jean Piaget sowie die Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg integriert. Wahrend der dritten Stufe des formal-operationalen Denkens entwickeln Jugendliche die Fahigkeit, „Dis- kurse zu fuhren und hypothetisch zu denken“ (Habermas, 1976, S. 71). Dabei lernt das Subjekt, andere Geltungsanspruche zu prufen und diese mit universel- len ethischen Grundsatzen zu vergleichen. Auf diese Weise entwickelt sich bei gelingender Sozialisation in der Adoleszenz die Identitat, auch „Ich-Identitat“ (ebd.) genannt. In Habermas‘ Gegenwartsdiagnose (2.1) lasst sich in Bezug auf das resiliente Subjekt festhalten, dass die Widerstandsfahigkeit des Subjekts und dessen Lebenswelt unter das Diktat der Zweckrationalitat und Berechenbarkeit geraten konnte (Abels & Konig, 2016, S. 128). Habermas vertritt eine „ kritische Gesellschaftstheorie“ (ebd.) und misst Webers‘ Rationalisierungsthese eine hohe Bedeutung bei. Diese Zweckrationalitat als Handlungsprinzip findet in der ge- genwartigen Gesellschaft einen auffalligen Ausdruck in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, dem Markt und dem Beruf und durchdringt zusatzlich die privaten Lebensbereiche der Subjekte, der Lebenswelt (Habermas, 1981, 520ff.). Burokratisierung und Monetarisierung unterlaufen die zwischenmenschlichen Beziehungen hin zu einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas, 1981, S. 521). Bezogen auf das Konzept der Resilienz als individuelle Widerstandsfa- higkeit betrachtet Habermas die Fahigkeit der Diskursfuhrung der Subjekte als die einzige Moglichkeit, die Freiheit der Individuen zu gewahrleisten und inner- halb der Sozialisation eine Identitat als autonomes Individuum zu entwickeln (Habermas, 1981, S. 1049ff.).

Bezogen auf Brocklings‘ Verstandnis in „Das unternehmerische Selbst“ (2.1) pragen diese Unsicherheiten die Identitatsentwicklung Jugendlicher und gehen mit einer Okonomisierung und Selbstoptimierung von Ausbildung, Beruf, Frei- zeit und Familie einher. Zu dieser Selbstoptimierung gehort es auch, die perso­nale Widerstandsfahigkeit bzw. Resilienz in belastenden Situationen durch ein „resilientes Selbst“ (Brockling, 2017, S. 14) auszubilden, welches „effizient, ei- genverantwortlich, losungsorientiert und zugleich sensibel fur die eigenen Be- durfnisse [...] mit eingebauter Selbstsorge- und Regenerationskompetenz“ ist (Graefe, 2019, S. 26). Das resiliente Selbst zeigt eine widerspruchliche Figur: Einerseits muss es sich einer Welt voller Ungewissheiten stellen, welches von ihm abverlangt, diese unvorhersehbaren Belastungen moglichst unbeschadet zu bewaltigen und stets durch abrufbare Widerstandspotentiale auf diese vorberei- tet zu sein. Diese Situation geht mit permanenten Unsicherheiten bei den Sub- jekten einher (u.a. Sennett, 2001, S. 25; Brockling, 2017, S. 13f.). Zum anderen soll sich das Subjekt nicht permanent in einen Ausnahmezustand begeben, da Ermudung und Apathie unvermeidbar waren. So bewegt sich das resiliente Sub- jekt „im Futur II“ (Brockling, 2017, S. 14), indem es erst im Nachhinein weiB, ob es ausreichend widerstandsfahig gewesen ist (ebd.; Sennet, 2001, S. 31f.).

In den bisherigen Ausfuhrungen dieses Kapitels wurde die Charakteristik der Gegenwartsgesellschaft thematisiert und diese auf die Subjektivitat bezogen. Um die Zielgruppe der vorliegenden Arbeit detaillierter zu thematisieren, wurde auf die Identitat im Jugendalter (Adoleszenz) eingegangen. Es kann bislang fest- gehalten werden, dass die gesellschaftlichen Identitatsanspruche an die Jugend­lichen in der Gegenwartsgesellschaft je nach theoretischer Ausganglange eher als strukturierend und stabilisierend (u.a. Erikson) oder wandlungsfahig und fle- xibel (u.a. Beck) beschrieben werden konnen. In der Theorie des kommunikati- ven Handelns nach Habermas kristallisieren sich „Aspekte das sozialen Wandels erst in der ,Durchknetung‘ des Gesamtansatzes heraus“ (Jager, o. J., S. 160). Im Wesentlichen setzt Habermas‘ Analyse an den Strukturen (System und Lebens- welt) und an Handlungstypen (Arbeit und Interaktion) an, mit deren vorfindba- ren Lagen sich die Akteure arrangieren mussen (ebd., S. 166). „Das unterneh- merische Selbst“ betont die Selbstoptimierungsprozesse der Jugendlichen, um den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden. Das „resiliente Selbst“ beschreibt ein Hin- und Hergerissen sein der Menschen sowie die Widerspruch- lichkeiten und Unsicherheiten, in denen sich ein individueller Erfolg erst im Nachhinein herausstellt.

In der vorliegenden Arbeit wurde bislang lediglich mit einer Kurzdefinition des Resilienzkonzepts gearbeitet. Im Folgenden werden relevante Aspekte um das Thema Resilienz anhand aktueller Studien naher beleuchtet und auf die Identitat des Jugendalters in der Gegenwartsgesellschaft bezogen.

2.4 Resilienz

''Gib nie auf! Vertraue auf dich!! Vertraue auf die Zukunft.'' (Natascha Kampusch (2016), in: 10 Jahre Freiheit, Prolog) Die Geschichte um Natascha Kampusch ist vermutlich eine der weltweit medi- enwirksamsten Entfuhrungsdramen eines Kindes, welches die Gepeinigte als Autorin selbst veroffentlicht hat. Ihre Autobiografie „3096 Tage“ erschien be- reits im Jahr 2010. Das damals zehnjahrige Madchen wurde am 2. Marz 1998 im osterreichischen Strasshof von ihrem Peiniger entfuhrt, der sie im Keller sei­nes Hauses gefangen hielt, einschuchterte und misshandelte. Natascha ver- brachte ihre Kindheit und Jugend unter diesen widrigen Umstanden und erst im August 2006 gelang ihr die Flucht. In ihrem Buch verdeutlicht Kampusch ihre eigene Leidensgeschichte so pragnant und klar und in dem oben zitierten Prolog wird dem*/der* Leser*in eine scheinbar kaum zu erklarende Widerstandfahig- keit und Starke der Autorin vermittelt. Als Antwort auf die Frage, wie es ihr heute gehe, antwortet Kampusch mit Zitaten wie „Immer positiv denken und in die Zukunft schauen“ (Kampusch, 2016, S. 41) oder „Troste dich, es wird alles wieder gut. Sei stark.“ (ebd., S. 3).

Im folgenden Abschnitt wird dem Phanomen nachgegangen, wie im obigen Bei- spiel ein junges Madchen wahrend ihrer Identitatsentwicklung im Jugendalter unter derart widrigen Bedingungen eine solche Widerstandsfahigkeit entwickeln kann, die wissenschaftlich als „Resilienz“ bezeichnet wird.

[...]


[I] In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Adoleszenz und Jugendalter synonym verwen- det.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Das resiliente Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft. Ein Theorienvergleich zwischen Zivilisations- und Diskurstheorie
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
2
Autor
Jahr
2020
Seiten
90
Katalognummer
V1035092
ISBN (eBook)
9783346443465
ISBN (Buch)
9783346443472
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie Theorie Subjekt Diskurs Zivilisation Foucault Elias
Arbeit zitieren
Jessica Hagelüken (Autor:in), 2020, Das resiliente Subjekt in der Gegenwartsgesellschaft. Ein Theorienvergleich zwischen Zivilisations- und Diskurstheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1035092

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