Die Darstellung der Natur als Spiegel der Seele? Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werther"


Essay, 2020

12 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


FAU Erlangen-Nurnberg

DepartmentGermanistikund Komparatistik Lehrstuhlfur Neuere deutsche Literaturwissenschaft Basismodul

Wintersemester 2019/2020

Die Darstellung der Natur als Spiegel der Seele?
Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werther

Wie fur die Epoche des Sturm und Drang charakteristisch, „idealisieren Autoren wie [.] Goethe die unberuhrte Natur, wahrend sie den zivilisatorischen Fortschritt als unumkehrbares Zerstorungswerk interpretieren“1. Stadtische Spezifika sind den Sturmern und Drangern zuwider. Inspirierende und schopferische Natursehnsucht gilt dagegen gleichermaften der umgebenden Landschaft und der Natur des menschlichen Korpers2.

Auch in Goethes beruhmten Werk „Die Leiden des jungen Werther“ nimmt die Natur eine bedeutende Rolle ein. Auch hier meidet und verachtet die Hauptfigur Werther die Stadt und gibt sich der Natur in all ihren Facetten und Erscheinungen hin.

Werther scheint einen stark emotionalen Bezug zur Natur zu haben, was im Werk wiederholt zum Ausdruck gebracht wird.

Kann man so weit gehen und sagen, die Natur sei ein Spiegel von Werthers Seele? Oder erscheint die Natur vielmehr „als vorweggenommene Projektion“3 der von Werther begehrten Lotte oder des Handlungsverlaufs? Oder mag das alles uberspitzt sein und die Natur ist lediglich, wie fur den Sturm und Drang typisch, ein alltaglicher, idealisierter Begleiter des Lebens? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, sofern sich Antworten auf all diese Aspekte finden lassen. Romane, wie die des bekannten Dichters Johann Wolfgang von Goethe, sind komplexer, undurchdringlicher und auch heute noch interessanter, als sie auf den ersten Blick erscheinen mogen.

Die Naturdarstellung und das Verhaltnis Werthers zur Natur stehen in enger Verbindung mit der stark ausgepragten Ich-Bezogenheit der Hauptfigur, weshalb auf letzteres kurz eingegangen werden soll.

Werthers Subjektivismus auftert sich in vielerlei Arten, durchzogen durch das gesamte Werk. Zu nennen ist hier beispielsweise die extrem haufige Verwendung des Personalpronomens „ich“, WerthersErhabenheit gegenuber der niederen Bevolkerung und die Tatsache, dass er sein Handeln ausschlieftlich nach seinen eigenen Befindlichkeiten und Ansichten ausrichtet. Letzteres auftert sich bereits in einem der ersten Briefe, indem Werther schreibt: „Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet“ (S.9).

Passend zu der Emotionalitat und dem Subjektivismus der Hauptfigur liegt mit Ausnahme der Anfangs- und Schlusspartie, in der ein nullfokalisierter, heterodiegetischer Erzahler das Wort ergreift, ein „konsequenter Verzicht auf einen auktorialen Erzahler“4 vor. Der Erzahler ist autodiegetisch, wobei ein extrem kurzer Abstand zwischen erlebendem und erzahlendem Ich vorliegt. Zudem handelt es sich bei Goethes bedeutendem Werk um einen Briefroman, in dem „die von Personen der Romanwelt verfassten Briefe unkommentiert aufeinanderfolgen“5. Durch diese genannten Techniken „entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit und Authentizitat“6. Man spricht auch von fingierter Authentizitat, diehierdurch Johann Wolfgang Goethe erschaffen wird.

„Besonders deutlich manifestiert sich Werthers Subjektivismus [jedoch] in seinem eigentumlichen Naturverhaltnis“7.

Gleich zu Beginn des Werkes, das in medias res beginnt, wird die extreme Nahe und Liebe Werthers zur Natur sichtbar. Im ersten Brief anseinen Freund Wilhelm beschreibt Werther die „paradiesische Gegend“ (S.6), in der er sich zu diesem Zeitpunkt allein aufhalt. Am liebsten wurde er eins mit der Natur und „zum Maienkafer werden“(S.6).Er hasst die Stadt, aber liebt die Freiheit, fern von gesellschaftlichen Zwangen,ebenso wie die Einsamkeit, die „[seinem] Herzen kostlicher Balsam“ (S.6) ist.Dieemotionaleund auftergewohnliche Beziehung Werthers zur Natur kommt hier klar zur Geltung, welche im Folgenden noch deutlicher wird.

In mancher Hinsichtkann mandie Naturdarstellungen als einen alltaglichen, geliebten Begleiter der Figuren, speziell des Werther, sehen: Vergleiche („mit ihr herumzufliegen wie Wetter“ (S.27); „ich glaube zu versinken wie vom Wetter geruhrt“ (S.44)) und Naturbeschreibungen („schone[..] Sonne“ (S.46); „Es ist ein herrlicher Sommer“ (S.65); „[.] als der Mond hinter dem buschigen Hugel aufging“ (S.67f.); „Die Sonne geht herrlich unter uber der schneeglanzenden Gegend“ (S.79)) durchziehen den gesamten Roman. Auch Werthers Liebe und Engagement wird deutlich, als er beispielsweise auf die Abholzung der Nussbaume im Pfarrhof mit Mordgedanken reagierte: „[.] ich konnte den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat.“(S.98)

Doch meist scheinen die Beschreibungen der Natur weit mehr zu sein als einfache Komponenten der Erzahlung.Die Naturdarstellungen wirken auf den ersten Blickahnlich wie andere des Sturm und Drang, doch „[n]euist die Bedeutung, die Goethe diesem uberlieferten Landschaftsmaterial gibt“8.Es lasstteilwiese groften Interpretationsspielraum. Dies wird bereits daran deutlich, dass sich Autoren, die sich mit ebendiesem Phanomen befasst haben, uneinig sind. Stimmig ist der Ausgangspunkt des Zusammenhangs zwischen Subjektivismus und Naturdarstellung. Wahrend jedochThorsten Valkvon der Natur als Spiegel der Seele Werthers ausgeht,9 betrachtet Matthias Luserke die Natur „als vorweggenommene Projektion Lottes“10. Fur beide Thesen finden sich zahlreiche Belege.

„Die von Werther beschriebene Natur ist ein Widerschein seiner seelischen Disposition, ein Spiegel seines inneren Zustands“11, so Valk.Es ist durchaus auffallig, dass die Naturbeschreibungen bzw. -wahrnehmungen durch Werther sehr haufig mit seiner momentanen Gefuhlslage ubereinstimmen. Ist Werther glucklich, erlebt er die Natur als wunderschon, paradiesischund vollkommen.Erfahrt er einen negativen Stimmungsumschwung,verandern sich wiederumdieNaturerscheinungen und werden „zu einem unertraglichen Peiniger, zu einem qualenden Geist“(S.60).

Bereits in seinem zweiten Brief vom 10. Mai beschreibt Werther seinen Gluckszustand aufgrund der Einsamkeit in einer schonen Gegend, die er vollkommen genieftt: „Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den suften Fruhlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen geniefte“ (S.7). Dies scheint unabhangig von der Liebe zu Lotte zu sein, da er sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal kennt.Andererseits wird im selben Brief die Naturbeschreibung mit der „Gestalt einer Geliebten“ (S.7) verglichen.

Seine aufgeheiterte Stimmungslage konnte somit auf die Vorahnung einer baldigen Begegnung mit Lotte zuruckzufuhren sein.

Eine bezeichnende Szene fur die „vorweggenommene Projektion Lottes“12 bzw. des Handlungsverlaufs ist die erste Begegnung zwischen Werther und Lotte. Bereits bei Ankunft am Hofe kommt die Befurchtung eines baldigen Gewitters auf. Schon kurz vor dem Treffen ahnt Werther, die „Lustbarkeit werde einen StoR leiden“ (S.22). Nachdem sich Lotte und Werther dann kennenlernen und Werther bereits an diesem ersten Tag Gefuhle fur sie entwickelt, kommt es tatsachlich zu dem befurchteten Gewitter, bei dem die Blitze „viel starker zu werden [anfangen], und der Donner die Musik uberstimmt“ (S.28). Dies ist eine klare Vorausschau auf das tragische Ende der Geschichte, bei dem sich Werther aufgrund der unerwiderten Liebe zu Lotte das Leben nimmt. Er selbst sagt schon hier (bezogen auf das Gewitter), dass „wenn uns ein Ungluck, oder etwas Schreckliches im Vergnugen uberrascht, dass es starkere Eindrucke auf uns macht als sonst [...], weil unsere Sinne einmal der Fuhlbarkeit geoffnet sind und also desto schneller einen Eindruck annehmen“ (S.28). So geschieht es auch im Laufe des Romans: Werther offnet sein ganzes Herz fur die Liebe zu Lotte. Er idealisiert und vergottert die scheinbar selbstlose Lotte, mit der er seine Naturverbundenheit und auch die Vorliebe zur Lyrik teilen kann, was sich beispielsweise in der Szene auftert als sie beide die gleiche Ode von Klopstock mit einer Naturerscheinung assoziieren (S.30). Werther empfindet Lotte als Seelenverwandte. Umso harter trifft es ihn, als sie ihn mit Nachdruck bittet, sich endlich von ihr fernzuhalten.

Gleichzeitig bringt das Gewitter Werther und Lotte naher zusammen. Man konnte sogar meinen, durch das Gewitter fanden sie erst richtig zueinander und lernten sich daraufhin kennen. Hier beeinflusst die Natur sichtlich die Handlung. Werther und Lotte stehen beisammen am Fenster und weinen (S.30), wobei eine besondere Stimmungslandschaft erzeugt wird. Das Innenleben der Figuren spiegelt sich in der Natur wider. Werther sieht jedoch den Regen nicht als etwas Trauriges oder Storendes an. Im Gegenteil schreibt er vom „herrliche[n] Regen“ (S.30), da dieser unter anderem den Kontakt zu Lotte herbeifuhrt.

Oft steht Werthers Gefuhlszustand naturlich in engem Zusammenhang mit Lotte. In Vorfreude, sie zu sehen, blickt er „mit aller Heiterkeit der schonen

Sonne entgegen[...]“ (S.46). In Zeiten voller Hoffnung und Liebestrunkenheit empfindet er die Natur intensiver und schoner: „Noch nie war ich glucklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Graschen herunter, voller und inniger“ (S.47).

Als Werther den Verlobten Lottes kennenlernt, schwinden einige dieser positiven Gefuhle. Werthers Ahnung, Lotte verlieren zu konnen, auftert sich sogleich in einer Naturmetapher: „Ich gehe so neben ihm hin und pflucke Blumen am Wege, fuge sie sehr sorgfaltig in einen Strauft und - werfe sie in den voruberflieftenden Strom, und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen“ (S.52). Die Blumen symbolisieren die Liebe zu Lotte, einhergehend mit der Muhe, die sich Werther macht, um Lotte naher zu kommen und sie fur sich zu gewinnen. Die Sorgfaltigkeit und Pflege endet jedoch damit, sie ziehen lassen zu mussen, wahrend er ihr voller Sehnsucht und Trauer nachblickt. Man kann hier wieder eindeutig von einer Vorausschau des Handlungsverlaufs durch naturelle Darstellungen sprechen. Die Blumen als Symbol der Liebe zu Lotte finden sich kurz vor Werthers Suizid wieder, als er selbst in einem Brief an sie schreibt, dass die Blumen, die Lotte heimlich an Werther schickt, ihre Liebe „versiegelten“ (S.144).

Auch der erste stark depressive Zustand Werthers wird durch die Anwesenheit Alberts hervorgerufen. Dies zeigt sich in einer wichtigen Schlusselszene der Handlung, sowie der Landschaftsbeschreibung: im Inhalt des Briefes vom 18. August. Auffallig erscheint, dass dieser Brief die mit Abstand ausgedehnteste Landschaftsbeschreibung des gesamten Werkes enthalt. Aufterdem wird die Natur hier aus zwei gegensatzlichen Blickpunkten dargestellt:dem der Vergangenheit und dem der Gegenwart. An die Stelle des „volle[n] warme[n] Gefuhl[s] [s]eines Herzens an der lebendigen Natur“ (S.60) tritt die Natur als „qualende[r] Geist“ (S.60), als „ein ewig verschlingendes, ewig widerkauendes Ungeheuer“ (S.62). Ebenso wie das Auftauchen seines Konkurrenten wird die Natur nunals Bedrohung empfunden: „Ungeheure Berge umgaben mich, Abgrunde lagen vor mir, und Wetterbache sturzten herunter, die Flusse stromten unter mir [.]“ (S.61).

Der Brief vom 18. August an Wilhelm stellt auch den Wendepunkt der Geschichte dar. Diese Landschaftsbeschreibung „steht [also] an zentraler Stelle des Romans“13. Denn nun wird Werther die Aussichtslosigkeit seiner Liebe zu Lotte bewusster denn je zuvor. Dies schlagt sich sichtbar auf sein seelisches Befinden und somit seine Naturwahrnehmung nieder. Hervorzuheben ist hierbei gleich der erste Satz des Briefes vom 18. August, in dem es heiftt: „Musste denn das so sein, dass das, was des Menschen Gluckseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes wurde?“ (S.60) Hieran ist deutlich erkennbar, dass die plotzlich veranderte Landschaftswahrnehmung nicht auf eine Veranderung der Natur zuruckzufuhren ist, sondern auf einen Bewusstseinswandel im Betrachter. Die Spiegelung der Seele Werthers istoffensichtlich, wahrend ebenso der Bezug zu Lotte wahrscheinlich ist. Wenn man diesen Brief als „Kulminationspunkt in Werthers psychischer Entwicklung“14 sieht, der aufgrund der Ankunft von Lottes Verlobtem gesetzt wird, ist die Liebe zu Lotte hier der entscheidende Ausloser. Als Werthernoch unbeschwert mit ihr umgehen konnteund Hoffnung in ihreLiebesbeziehung setzte, nahm eralles durch eine rosarote Brille wahr. Jetzt sieht er die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Seine scheinbar positive Lebenseinstellung und Gluckseligkeit weicht einem stark ausgepragten Pessimismus und sogar der Todessehnsucht: „[D]er Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich [...] in den Abgrund des ewig offenen Grabs“ (S.62).

Am 22. August sagt Werther sogar, er „habe [.] kein Gefuhl [mehr] an der Natur“ und gleich daraufhin: „Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles“ (S.63). Dies zeigt, dass er sich vollkommen verloren und verlassen fuhlt. Es gelingt ihm nicht einmal mehr, sich „an die Natur zu halten“ (S.15). Was bleibt ihmdannnoch? Ihm scheint nun jeglicher Halt zu fehlen.

AlssichWerther sicher ist, dass er gerade zum letzten Mal die Sonne „uber dem lieblichen Tale, uber dem sanften Fluss“ (S.67) untergehen sieht, weift er, dieser Welt entfliehen zu mussen. Er trifft nochmals auf seine Geliebte wahrend „der Mond hinter dem buschigen Hugel“ (S.68) aufgeht. Die Anwesenheit des Mondes wird durch Lotte assoziiert mit dem „Gefuhl von Tod“ (S.68). Lotte und Werther stellen sogar Uberlegungen an, ob sie sich im Jenseits wiedersehen werden. Hier drangt sich beim Leser die Vermutung auf, dass Lotte zu diesem Zeitpunkt schon von Werthers bevorstehendem Suizid

[...]


1 Valk, Thorsten: Der junge Goethe. Epoche -Werk - Wirkung. Munchen 2012, S.25.

2 Ebd.

3 Luserke, Matthias: Der junge Goethe. Ich weis nicht warum ich Narr so viel schreibe. Gottingen 1999, S.117.

4 Valk, T., S.193.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Ebd., S.196.

8 Herrmann, Hans Peter: Landschaft in Goethes ,Werther‘ . In: Hans Peter Herrmann (Hg.): Goethes ,Werther‘. Kritik und Forschung. Darmstadt 1994, S.366.

9 Valk, T., S.196.

10 Luserke, M., S.117.

11 Valk, T., S.196.

12 Luserke, M., S.117.

13 Herrmann, Hans Peter, S.360.

14 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung der Natur als Spiegel der Seele? Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werther"
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Note
1,7
Jahr
2020
Seiten
12
Katalognummer
V1035699
ISBN (eBook)
9783346443205
Sprache
Deutsch
Schlagworte
darstellung, natur, spiegel, seele, johann, wolfgang, goethes, leiden, werther
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Die Darstellung der Natur als Spiegel der Seele? Johann Wolfgang von Goethes "Die Leiden des jungen Werther", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1035699

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