1789, 1917 und die Reaktion deutscher Schriftsteller


Diskussionsbeitrag / Streitschrift, 2021

27 Seiten


Leseprobe


1789, 1917 und die Reaktion deutscher Schriftsteller

Die Zeit, die der französischen Revolution vorausging, war kulturgeschichtlich als Reflex des Widerspruchs von alten feudalen Produktionsverhältnissen und im Schoß von diesen ausgebrüteten neuen, bürgerlichen Produktivkräften, eine äußerst aufregende. In ihr wurde der Bogen geschlagen von der Philosophie als Magd der Theologie zur Philosophie als Tochter der Materie. In der französischen Aufklärung setzte sich die Materie über den Geist, jene war der Grund von diesem; in Deutschland aber setzte der Idealismus ein, der den Gegensatz von Geist und Materie von Kant über Schelling und Fichte bis Hegel durchkomponierte und der in der Einflussnahme auf das politische Geschehen stagnierte, denn in diesem unterliegt der Geist immer handfesten ökonomischen Interessen. Die negativ zu bewertende Stagnation im Verhältnis von philosophischer Theorie und politischer Praxis hatte aber Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland die positive Seite, zu einem Stau zu führen, durch den es zu einer Theoriedichte kam, aus der heraus Hegel eine Dialektik entfaltete, freilich eine idealistisch zugeschnittene.

Das Bild des Menschen änderte sich, aus einem Ebenbild Gottes wurde in Frankreich durch La Mettrie in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, ein homme machine, die denken und deren Denken nicht von der Materie getrennt werden kann, die denkt. La Mettrie, bar eines zeitgeläufig grassierenden Naturkultes à la Rousseau, unternimmt den Versuch, fällt dieser auch noch einseitig verzerrt mechanistisch aus, alle Eigenschaften, die die klassische Metaphysik der Seele zugesprochen hatte, nicht der Natur, sondern einer allumfassenden, universalen Materie zu vindizieren, mit dem Resultat, philosophiegeschichtlich einen strengen monolithischen Atheismus zu vertreten. Descartes sah bereits die Tiere als Maschinen an, nahm aber den Menschen noch aus, La Mettrie schloss die Lücke, schließlich führte die Dampf maschine eine Umwälzung ohnegleichen herbei, die der Welt ein neues Gesicht gab. Jeder dieser Fortschritte wird begleitet von einer tieferen Einsicht in die Haltlosigkeit der Metaphysik und in die rein säkulare Fähigkeit, den Gesamtzusammenhang der Welt und diese als Werk menschlicher Arbeit wissenschaftlich aus dieser selbst herzustellen und zu erklären. Immer klarer erwies sich die Metaphysik als Pseudowissenschaft einer vom Produktionsprozess freigestellten Intellektuellenclique.

Der französische Materialismus ist u. a. deshalb ein spezifischer, weil er auf Grund seiner eindeutigen Position in der Grundfrage der Philosophie: Ist die Welt idealistisch oder materialistisch zu erklären, den Atheismus in sich birgt. Nicht umsonst hat Lenin nach der Oktoberrevolution einen Gedanken von Engels aufgegriffen und darauf gedrängt, wesentliche atheistische Texte der französischen Aufklärung zu übersetzen, um sie in Russland zu verbreiten. 1.

Der französische Materialismus beweist, dass die Materie durch sich selbst ist, dass es kein Wesen (hinter) der Materie gibt und dass ein metaphysischer Ansatz folglich in die Irre führt. Die Geschichte der Materie ist eine fortgesetzt Maschinen produzierende Maschine; die Geschichte kann nicht Gotteswerk wie für Hegel sein, gerade mit diesem Gedanken, Geschichte als Gotteswerk, finalisiert Hegel seine Philosophie der Geschichte. In seiner Philosophie der Religion redet der Idealist noch klarer Text: Die Philosophen bilden einen isolierten Priesterstand, der nicht mit der Welt zusammengehen dürfe; wie diese ihre Widersprüche löse, sei ihr zu überlassen. Die Geschichte verhält sich für ihn zur Philosophie wie Gotteswerk zu Gottesdienst. Gerade auf diesen Gedanken reagierten Marx und Engels in der ‘Deutschen Ideologie‘ recht bissig: Die Philosophie verhalte sich zur Wirklichkeit wie die Onanie zum Geschlechtsverkehr.

Schälte sich bei den fortgeschrittensten französischen Ideologen, insbesondere bei Fourier, die Tendenz heraus, gesellschaftliche Zustände herbeizuführen, in denen alltägliche Arbeit aus einer Last in eine Lust verwandelt werden könnte, so stand Hegel im Bann der leibfeindlichen platonisch-christlichen Vergangenheit und versteifte sich auf abstrakt geistige Arbeit. Diese wird mit schwergewichtigen Worten belegt: sie erfordere Ernst, Schmerz, Geduld und die Arbeit des Negativen. 2. Das sind die Voraussetzungen, um philosophisch zum absoluten Wissen zu gelangen - oder sind es schmerzhafte Blutstropfen aus dem Leib Jesu Christie?

Es schien mir sinnvoll, diese sehr knappe Skizze mit den hoffentlich der Materie gemäß zutreffend ausgewählten Antipoden La Mettrie und Hegel vorauszuschicken, um vor diesem Hintergrund das Verhältnis der deutschen Schriftsteller zur klassischen bürgerlichen Revolution prägnanter fassen zu können. So erst können wir auf das politische Geschehen zu sprechen kommen.

Am 22. Mai 1790 erklärte die Nationalversammlung in Paris den Verzicht Frankreichs auf zukünftige Eroberungskriege und die Achtung der Freiheit der Völker. Das schworen auch die Bolschewiki für Russland nach der Oktoberrevolution. 1917 scheint auf den ersten Blick eine Fortführung von 1789 zu sein. Sind doch aus der französischen Revolution die Worte Robespierres überliefert, dass es mit Personen, denen es nur um die Ausplünderung des Volkes gehe, keinen Waffenstillstand geben könne. Die Gefahr einer Gleichsetzung ist also gegeben. Nebenbei, es ist heute kaum noch bekannt, dass nach der Oktoberrevolution in Moskau ein Denkmal für Robespierre errichtet worden war. Als ich 1985 eine sehr gut deutschsprechende Stadtführerin nach diesem Denkmal fragte, war das eine Neuigkeit für sie. Geht man dem Verhältnis zwischen 1789 und 1917 aber weiter auf den Grund, wird man den qualitativ tiefen Bruch zwischen beiden feststellen können. Vom sozialen Gehalt her gibt es zwei unvereinbare Gewichtungen. Bürgerliche Revolutionen verkürzen sich von der Ideologie her auf eine nur politische und juristische Gleichstellung, während proletarische den sozialen Gehalt des Umbruchs richtig widerspiegeln und verkünden, den die bürgerliche Ideologie aus Gründen der Verhinderung ihres Weitertreibens von der politischen Revolution zur welterlösenden sozialen, das Privateigentum angreifenden tabuisieren muss. Kurz: Bürgerliche Ideologen dürfen sich nicht so tief in die Materie versenken, dass die bürgerliche Revolution über sie hinaustreibende soziale Ursachen habe und dürfen im sozialen Elend nicht mehr sehen als nur das (schicksalshafte) Elend. Allerdings hatte schon Rousseau 1762 in seinem ‘Gesellschaftsvertrag‘ unterstrichen, dass die Gesetze den Reichen entgegenkommen und sich volksschädlich gegen die Habenichtse wenden. So weit war also die intellektuelle Elite Frankreichs 1789 schon: In naturwissenschaftlicher Hinsicht das Primat des Materialismus, in gesellschaftswissenschaftlicher das Primat der Eigentumsfrage zu setzen.

Aber was schreib denn ich, wenden wir uns lieber dem Urklassiker zu, dem es gelang, u. a. durch Berücksichtigung und Korrektur des einseitigen französischen Materialismus und der verkehrten, kopfgestellten deutschen Dialektik, seine materialistische Dialektik auch auf die Geschichte der Gesellschaft und gerade auf die gegenwärtige anzuwenden.

Uns liegt durch Karl Marx ein glanzvoller Vergleich zwischen einer bürgerlichen und einer proletarischen Revolution vor, und zwar führt er diesen aus im 18. Brumaire des Louis Bonaparte und es ist unumgänglich, ihn hier in seiner ganzen Länge wiederzugeben: “ Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze“ 3. Engels rät uns, die Epochen der deutschen Geschichte immer mit den entsprechenden Frankreichs zu vergleichen, “weil dort das gerade Gegenteil von dem geschieht, als bei uns“. 2. Eben: dort Revolution, hier Konterrevolution. Die Eliten Deutschlands sind Jahrhunderte lang an denselben politischen Aufgaben gescheitert, die die französischen progressiv zu lösen verstanden. Die französischen Klassenkampfverhältnisse sind daher den deutschen immer wenigstens einen Schritt voraus, was zu zeigen sein wird.

Obwohl die Nachrichtenwege 1789 länger waren als 1917, wurden namhafte deutsche Schriftteller rasch von der Begeisterung für den Sturm auf die Bastille, der sich am 14. Juli ereignete, erfasst, zu nennen sind hier vor allem Hölderlin, Klopstock, Wieland, Campe, Schubart, Herder und Schiller. Das Echo aus dem Nachbarland war lauter als das aus der amerikanischen Unabhängigkeitsrevolution. Hölderlin hatte ein Gedicht über Rousseau geschrieben, Klopstock feierte das Ereignis als “des Jahrhunderts edelste Tat“, Wieland beurteilte die Pariser Ereignisse in seinen Göttergesprächen (1789 bis 1793) positiv und Schiller, deutete den Einriss der Bastille als Schleifung eines Monuments des Despotismus. In seinen Räubern, durch die er Ehrenbürger Frankreichs wurde, lesen wir den Satz: ‘Das Gesetz hat zu Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre‘. Dieser schmeichelt Auge und Ohr des Revolutionärs und ist ihm willkommen. Er, der mit ‘Kabale und Liebe‘, uraufgeführt am 13. April 1784 in Frankfurt am Main, das “erste deutsche politische Tendenzdrama“ (Engels an Minna Kautsky) schrieb, das mit dem Tod der beiden Helden endet. Schiller, Klopstock (und Pestalozzi) wurden in Paris von der Nationalversammlung zu Ehrenbürger der französischen Republik ernannt wie auch George Washington und Jeremy Bentham …u.a. Von Gentz sprach vom Praktisch-Werden der Philosophie, Matthias Claudius vom “Vernunftregiment“. Klopstock, der wie Rousseau und Schiller das Gefühl als Quelle von Kreativität gegenüber dem Versand favorisierte 5., klagte Mitte 1790 in seiner Elegie ‘Sie und nicht Wir An La Rochefoucault!‘ über die deutschen Verhältnisse und über Irrgänge, die im Vergleich zur Freiheit Galliens die Deutschen zu ertragen hatten und haben.

Wie Kant verschlang er alles Gedruckte über die Vorgänge in Frankreich. Am 30. März 1790 schreibt Stolberg an seinen Bruder, dass er nicht begreife, dass Klopstock so viel von dem, was über die französischen Angelegenheiten gedruckt wird, lesen kann. Durch die Revolution stieg die Bedeutung der Zeitungspublizistik 6. und demgemäß die des oft politisch gefärbten Zeitgedichtes. Als Klopstock im Dezember 1788 die Nachricht erhielt, dass nach 175 Jahren Pause die Generalstände zusammentreten sollten, verfasste er in republikanischer Begeisterung das Gedicht ‘Die Etats generaux‘. Er setzte ihre Zusammenkunft einem Sonnenaufgang gleich. 7. Der Überschwang aber erwies sich bald als ein Strohfeuer und vor dem Himmel der Wahrheit zogen rasch Wolken des Irrtums auf. Die deutschen Theoretiker der Schriftsetzerei verstanden und vertrugen die Periode der Jakobinerdiktatur und den ihr immanenten Kollektivterror nicht und wandten sich ab 1792 deprimiert ab. Sie begriffen ihn nicht als unausbleiblichen, gesetzmäßigen Höhepunkt der Entwicklung, um die Errungenschaften durch kollektiven Terror zu sichern. Klopstock sprach jetzt vom französischen Henkerstaat, Schiller von Schindersknechten. 8. Von Gentz treibt es am weitesten, auf dem Wiener Kongress tritt er als Interessenvertreter der Reaktion auf. 9.

Die französische Revolution war ab dem 14. Juli ohne Zweifel eine in aufsteigender Linie, diese erreichen in ihrer Entwicklung immer einen Punkt, der bei Gemäßigten und Mitläufern einen Schock auslöst, an dem sich selbst ein Citoyen francais wie Schiller in die Ästhetik, in den Pazifismus und zu Kant und dessen Imperativ flüchtet. 1795 pointiert er in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, die zur Gewaltfreiheit anhalten soll, dass Politik sich vor dem Richterstuhl reiner Vernunft zu begeben habe. Das war für ihn die Schwalbe des Sommers. Der Pazifist lebt in dem guten, aber naiven Glauben, durch Darstellung von Kriegsgräueln zu entmilitarisieren und den Krieg, auch den revolutionären Bürgerkrieg unattraktiv machen zu können. Das Köpfen des Bourbonen Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 war binnenpolitisch bereits eine lapidare Sache geworden, insbesondere, nachdem Robespierre in einer Rede am 3. Dezember 1792 seine maßgebliche Auffassung vertrat, dass es sich im Verfahren gegen den Bürger Capet nicht um einen juristischen Prozess, sondern um eine Maßnahme der öffentlichen Wohlfahrt handele. Dieser König, erfasst als außerhalb des Gesellschaftsvertrages stehend, hieß ja ab 1792 bereits Louis Capet und Hegel bezeichnete dessen Tod als einen platten und als den kältesten, “ohne mehr Bedeutung als das Durschlagen eines Kohlhauptes oder eines Schluck Wassers“. 10. Historisch, außenpolitisch und kulturgeschichtlich hatte dieser Tötungsakt aber eine starke Symbolkraft. Die Mehrzahl der europäischen Intellektuellen fiel jetzt um.

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Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
1789, 1917 und die Reaktion deutscher Schriftsteller
Autor
Jahr
2021
Seiten
27
Katalognummer
V1037214
ISBN (eBook)
9783346461094
ISBN (Buch)
9783346461100
Sprache
Deutsch
Schlagworte
reaktion, schriftsteller
Arbeit zitieren
Heinz Ahlreip (Autor:in), 2021, 1789, 1917 und die Reaktion deutscher Schriftsteller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1037214

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