1. Einleitung
Die Fülle von Erfindungen im technisch-industriellen Bereich sowie neue einschneidende Erkenntnisse in den Geistes- und Naturwissenschaften läuteten das 20. Jahrhundert ein. Einsteins Relativitätstheorie, Freuds Entwicklung der Psychoanalyse, die Entdeckung des Röntgenstrahls oder auch die erste Kernspaltung verlangten vom Menschen jetzt andere, abstraktere Denkweisen. Die Erkenntnisse der Zeit hatten deutlich gemacht, daß Wirklichkeit weit mehr als das unmittelbar Sichtbare bedeutete. Der Glaube an die umfassende Wahrnehmungsfähigkeit des Auges war einer neuen Sichtweise gewichen. Hatten die Impressionisten noch darauf vertraut, die Welt in einem einzigen Augenblick erfassen zu können, so wurde ihr Oberflächenrealismus nun von einer jungen Künstlergeneration heftig kritisiert. Die Jungen wollten der Wirklichkeit den Schleier der sichtbaren Erscheinung entreißen und, wie sie es nannten, hinter den Schein der Dinge schauen, um so ein wahrhaftiges Bild der Welt zu zeichnen. Diese inhaltliche Abgrenzung der Expressionisten von den Impressionisten wird zeitlich zwischen 1905 und 1945 angesiedelt.
Der Expressionismus ist jedoch ein in jeder Hinsicht vielschichtiger und offener, kaum präzise festzulegenden Begriff, der in erster Linie durch seine Abgrenzung zu anderen Stilrichtungen definiert werden kann. Doch auch wenn man heute mit der nötigen historischen Distanz gerade die Künstler der Malerei in ihrer Stilvielfalt und Unterschiedlichkeit unschwer unterscheiden kann, herrscht doch weiterhin Unklarheit über die Zuordnung einiger Künstler zu dieser Epoche.
Sicher ist jedoch, daß die umwälzenden Entwicklungen nach 1900 von der jüngeren Künstlergeneration in der Malerei weit weniger euphorisch begrüßt wurden als noch 30 Jahre zuvor von den Impressionisten die Neuerungen ihrer Tage.
Die Kehrseite der Modernisierung, wie Entfremdung und Entindividualisierung, war vor allem in den Metropolen nicht länger zu übersehen. Das zerrissene Lebensgefühl einer Generation, die nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch für die Kunst neue Werte suchte, äußerte sich gleichermaßen in pessimistischer Weltuntergangsstimmung und utopischen Visionen von einer neuen Welt. Emotionsgeladene Bilder sollten die Menschen bei ihren innersten Empfindungen packen. Die leidenschaftlich bunte Malerei der Expressionisten entsprach dem
Wunsch, der Farbe sowohl eine neue emotionale als auch eine neue kompositorische, das heißt allein unter innerbildlich ästhetischen Aspekten relevante Bedeutung zu geben und somit die Bilder teilweise ganz aus reiner Farbe und Form aufbauen zu können.
Im Gegensatz zur Malerei, erreichte die expressionistische Lyrik ihren Höhepunkt bereits in der Frühzeit der Epoche, gefolgt vom Drama, das zu seiner Darstellung den expressionistisch veränderten Bühnenstil brauchte. Nur zögernd setzte sich der Expressionismus auch in größeren Prosaformen durch; das bekannteste Beispiel, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz erschien erst in der späten, abstrakteren Phase des Expressionismus, 1929.
Gerade in der Lyrik spiegelten sich die aus dem ersten Weltkrieg gesammelten Erfahrungen wieder, in dem viele der jungen Dichter starben. Um so deutlicher erscheint in der Lyrik der Expressionismus als Aufbruchs - und Protestbewegung. Der Protest richtete sich unter anderem gegen die Stimmungsmalerei des Fin de Siècle und die nach Schönheit strebende Sprachkunst eines Stefan George und Hugo von Hoffmannsthal.
Etwa zeitgleich mit dem Expressionismus entstanden in fast allen europäischen Zentren von Paris bis Petersburg ähnliche Bewegungen wie Fauvismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus oder Surrealismus um nur die bekanntesten Namen und Programme dieser Avantgarde zu nennen. Sie entwickelten sich zunächst in der Exklusivität literarischer Zirkel, in Kabaretts und Ateliers, traten aber bald untereinander in Verbindung.
Der Expressionismus ist mehr als eine Episode der Kunst- und Literaturgeschichte. Er ist ein Teil der europäischen Moderne geworden und kann als der deutsche Weg in die Moderne des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Meine Aufgabe wird im folgenden darin bestehen, die Thematik der expressionistischen Periode nachzuzeichnen und anhand von Georg Heyms Gedicht „Der Krieg“ (1911) und Max Beckmanns Gemälde „Die Nacht“ (1918) die besondere Problematik der Gewaltdarstellung in ihren Werken zu vertiefen. Zur Verdeutlichung dieser Thematik wird desweiteren Picassos „Guernica“ (1937) herangezogen und auf Ludwig Meidners „Brennende Stadt“ (1913) verwiesen. Die Analyse meiner Arbeit bezieht sich auf die frühe Periode des Expressionismus und läßt deshalb den Aspekt der Gewaltdarstellung im Faschismus außen vor.
2. Darstellung von Gewalt
2.1 Max Beckmann: „Die Nacht“
Max Beckmann (1884-1950) war seit 1906 Mitglied des Künstlerbundes „Berliner Secission“. Seine Entwicklung zu einem der erfolgreichsten Expressionisten nachzuzeichnen soll an dieser Stelle ausgespart bleiben. Entscheidend ist Beckmanns Neuorientierung nach seinen Erlebnissen im ersten Weltkrieg. Beckmann ist 1914 und 1915 an der Westfront als Sanitäter stationiert und kehrt als ein anderer Mensch zurück. Seine Technik erfährt eine grundlegende, sowohl formal-technische wie ikonographische Neuorientierung.
Beckmann begrüßte den Krieg zunächst und meldete sich freiwillig.
Wir werden einig, daß es für unsere heutige ziemlich demoralisierte Kultur gar nicht so schlecht wäre, wenn die Instinkte und Triebe alle wieder mal an ein Interesse gefesselt würden.1
Sein Ziel war es im Krieg als Beobachter und Chronist aufzutreten und so seine idealisierte Vorstellung in einer Atmosphäre des Weltuntergangs an dem heroisch-pathetischen Überlebenskampf der Menschen teilzuhaben. „Für mich ist der Krieg ein Wunder, wenn auch ein ziemlich unbequemes. Meine Kunst kriegt hier zu fressen.“2 Seine früheren Werke wie „Der Untergang der Titanic“ waren für ihn von mangelhafter Qualität, die er darauf zurückführte, daß er nicht selbst dabei sein konnte und sich auf Berichte Dritter verlassen mußte. Nach seiner Rückkehr von der Front finden wir jedoch einen Beckmann vor, dessen Hoffnungen einen heroischen Kampf zu erleben enttäuscht wurden. In seinen Skizzen, die er während seiner Stationierung anfertigte, wird deutlich, daß das Massensterben in den Schützengräben nicht mit seinen naiven Vorstellungen zu Kriegsbeginn übereinstimmt.
In seine Bilder geht nicht der Kampf zur Bewahrung und Rettung der Kultur ein, sondern die blanke Gewalt. Beckmann scheint fortan von einem inneren Zwang getrieben, seine Erlebnisse, die erfahrene Gewalt zu verarbeiten. Die Greuel des Krieges steht nun im Mittelpunkt seines Schaffens. Er bildet jedoch nicht das Massensterben ab, sondern widmet sich dem Individuum, das in einer von Gewalt erfüllten Welt lebt. Beckmann sieht nun im Krieg den Höhepunkt jeglicher Formen von Gewalt und kann sich nicht mehr von dieser lösen. Es scheint, als wäre aus dem Chronisten ein Voyeurist geworden, der die Bedrohung des Individuums in seinem Lebensraum hervorhebt.
Betrachtet man sein Werk „Die Nacht“, so wird deutlich, daß Beckmann den Einzelnen bedroht sieht. Bedroht durch die Aggression und daraus resultierende Gewalt der Menschen und ihrer Kultur. Das vorwiegend düstere und überladene Gemälde verdeutlicht die Ohnmacht des Individuums. Eine Familie wird gefoltert, mißbraucht und getötet von stilisierten Tätern, die nicht klar einer Gruppe zuzuordnen sind. Beckmann erzeugt eine exemplarische Wirkung, denn sowohl die Täter als auch die Opfer sind austauschbar und vermitteln, daß es jeden treffen kann und daß in jedem das Böse lauert.
Deutlich verwandelt Beckmann die Dachkammer in eine Bühne, auf der sich die Ereignisse, die Gewalt und das Leid, die in die Familie getragen werden, stellvertretend für das Mysterium der gesamten Menschheit darstellen. Durch einen Verweis auf Sofsky wird deutlich, daß Beckmann auf der Suche nach einer heroisch-moralischen Kultur philosophische Tendenzen zeigt, an deren Grenzen er stößt.
Die Gewalt ist selbst ein Erzeugnis der menschlichen Kultur, ein Ergebnis des Kulturexperiments. Sie wird vollstreckt auf dem jeweiligen Stand der Dekonstruktivkräfte [...] Von jeher aber zerstören und morden Menschen gerne und wie selbstverständlich. Ihre Kultur verhilft ihnen dazu, dieser Potenz Form und Gestalt zu geben. Nicht in der Kluft zwischen den dunklen Triebkräften und den Verheißungen der Kulturwelt liegt das Problem, sondern in der Korrespondenz von Gewalt und Kultur.3
Wenn also Kultur und Gewalt einander bedingen, so zeigt Beckmann dies besonders deutlich. Er thematisiert nicht nur die Gewalt an sich, sondern zeichnet sie von ihren Ursprüngen her nach, wenn er die Problematik der Gesellschaft in der Großstadt hinzuzieht. Das Grauen und die Brutalität der Straße dringen in „Die Nacht“ in die Häuser ein. Die Großstadt, als Artefakt der Kultur, verursacht Gewalt, vor der sich der Einzelne nicht mehr schützen kann. Nach Georg Simmel sind es die Menschenmassen, die rasche Abfolge von ununterbrochen wechselnden Eindrücken und die permanenten schockartig eindringenden
Impressionen, die zur Reizüberflutung des Großstädters führen. Diese Steigerung des Nervenlebens kann zu erhöhter Gewaltbereitschaft führen. Desweiteren birgt die Größe einer Metropole das Problem der Unkontrollierbarkeit, die dazu führt, daß der Einzelne unerkannt und anonym bleibt. Ein durch die Industrialisierung präsentes Problem für die Expressionisten.
So zeichnet es Beckmann nach. Die anonyme Familie wird unerkannt drangsaliert, ist in ihrer Dachkammer der Gewalt ausgeliefert, ohne Hilfe von Nachbarn oder Polizei. Beckmann verleiht dem Bild Endgültigkeit: der Vater ist bereits tot, die Mutter schon vergewaltigt und die Täter wenden sich nun dem Kind zu. Das Treiben scheint schon unerkannt eine Weile vor sich zu gehen, Rettung ist nicht in Sicht.
Der Betrachter ist also nicht nur mit exemplarisch schockierender Brutalität konfrontiert, sondern auch mit der Tatsache des Unausweichlichen. Die Heftigkeit der Szenerie schockiert und fesselt zugleich.
Trotz des exemplarischen Charakters hat Beckmann das Bild genau datiert: August 1918 - März 1919. Die Figuren sind zwar stilisiert, aber sie könnten doch auf zeitparallele Ereignisse verweisen. Wollte der Chronist in Beckmann auf das Grauen der Novemberrevolution verweisen? Vielleicht ist jedoch die Datierung eine Art Rechtfertigung von Beckmann für die von ihm dargestellte Brutalität? Jürgen Nieraad verweist in seinem Essay „Das Schöne und das Schreckliche“ auf das Legitimationsbedürfnis der Kunst bei ihrer Darstellung von Gewalt:
Gewalt gehört nämlich zum Bereich des Schrecklichen, Abstoßenden, Bösen, „Häßlichen“ und damit zu dem, was nach dem Begriff einer „schönen Kunst“ als rechtfertigungsbedürftiges Korrelat des ontologisch vorgeordneten Schönen und Guten und damit als Grenzphänomen des Ästhetischen schlechthin aufgefaßt wurde.4
Gerade der Expressionismus hat sich von der Darstellung des Schönen abgewandt und sich der Ausdruckskunst verschrieben. Beckmann brachte das zum Ausdruck, was er für darstellungswürdig hielt. Seine künstlerische Fertigkeit war schon zuvor in seinen Portraits und Landschaften hoch gelobt und ausgezeichnet worden. Es stand also außer Frage, ihn als fähigen Artisten zu bezeichnen. Sein Wandel hin zur Abbildung von Grauen und Gewalt wurde einer Phase seines Lebens, der Verarbeitung des Krieges, zugeschrieben. Unter diesem
Gesichtspunkt könnte man seine expressionistischen Werke in den Kanon der Entwicklung eines großen Künstlers einordene. Daß diese Bilder jedoch posthum zu seinen geschätztesten und charakteristischen Arbeiten gezählt werden, widerspricht der Auffassung, Kunst solle das Schöne darstellen und dem Menschen ein „interessenloses Wohlgefallen“ verschaffe, wie es Kant beschreibt. Beckmanns „Die Nacht“ besticht durch seine Farbwahl, den Pinselduktus und die Gesamtkomposition. Trotz oder gerade wegen der Gewaltdarstellung ist das Bild von hohem ästhetischen Wert und erlangt somit, entgegen der archaischen Kunstauffassung, die Legitimation als Kunstwerk angesehen zu werden.
Der exemplarische Charakter führt zu der Frage, ob Beckmann eine apokalyptische Metapher zum Ausdruck bringen wollte. Bezweckte er die Menschen aufzurütteln, sie vor einem weiteren Krieg und den Abgründen der menschlichen Seele zu warnen? Bezweckte er überhaupt etwas oder ist „Die Nacht“ aus seinem inneren Drang, Erlebtes in Bildern zu verarbeiten entstanden? Geht man davon aus, daß Kunst als Spiegel der Zeit fungiert, so wollte Beckmann offensichtlich auf die präsente Gewalt hinweisen und den Zweck der Warnung verfolgen. Dazu würde die genaue Datierung der Arbeit passen. Ausgehend von der bloßen künstlerischen Problemverarbeitung betrachtet, bezweckte Beckmann rein gar nichts mit seinem Bild und zielte folglich auch nicht auf eine festgelegte Wirkung ab. Schopenhauer spricht generell davon, daß „die Kunst in der von der Kausalität beherrschten Ordnung dieser Welt rein gar nichts bewirken kann“5. Dennoch sollte die Wirkung gerade expressionistischer Bilder, beabsichtigt oder nicht, nicht unterschätze werden. Es ist sicherlich richtig, daß nach der Ausstellung Beckmanns „Die Nacht“ niemand auf die Straße zog um gegen Gewalt und Aggression zu demonstrieren. Andererseits haben dieses und andere Bilder bewirkt, daß Rezipienten aus heutiger Sicht Einblicke in die Geschehnisse dieser Zeit bekommen, die nicht in Geschichtsbüchern manifestiert sind. Also ist „Die Nacht“ ein Spiegel der Zeit ihrer Entstehung und die Initiative des Künstlers sekundär.
Benjamins Thematik der Aura in Kunstwerken und deren Verfall unter der Bedingungen der modernen Massenkultur betont in diesem Zusammenhang, daß die Einsicht in das Werk die Einsicht in die Zeit, in der das Werk eingebettet ist, produziert. Durch die Singularität wird dem Werk ein einmaliges Dasein gegeben und das Original wird, nach Benjamin, so zum Gegenstand der Wertschätzung und zum Träger einer einmaligen Geschichte. „An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen ist.“6
Wenn Beckmann in die „Die Nacht“ das von Gewalt bedrohte Individuum darstellt, so verwirklicht er das Programm des Expressionsimus explizit. Max Pechstein (1881 - 1955) äußerte sich in seiner Rede über den Expressionismus diesbezüglich:
In der Welt steht der Mensch, Mann, Weib - alles um sie bedroht sie und sie selbst bekämpfen sich, schaffen sie dabei doch Neues. So stehen wir im Kampf mit der Welt und schaffen sie neu, fühlen die geheimen Beben des Lebens und erschauernd sucht unsere Hand ihre Gestaltung.7
Das Erschauern bei der Gestaltung der Bilder überträgt sich letztendlich auf den Betrachter, der sich mit dem Schrecklichen, dem Gewaltigen konfrontiert sieht. Das beschriebene Erschauern bei Gewaltrezeptionen ist ein häufig untersuchtes Phänomen in der Literatur - und Kunsttheorie. Schiller brachte in Zusammenhang mit seinen Studien zur Dramentheorie zum Ausdruck:
Es ist eine allgemeine Erscheinung in unserer Natur, daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, daß wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen.8
Zu betonen ist, daß Schiller von Inszenierung von Gewalt spricht, was die reale Gewalt ausklammert. Wirkliche Gewalt wurde von je her negativ beurteilt, besonders deutlich nachzuvollziehen am Beispiel der um 1580 entstanden Spanish Tragedy.
Die blutige Komödie löste nur solange Begeisterung im Publikum aus bis deutlich wurde, daß der Tod auf der Bühne nicht inszeniert, sondern real war. Erst nach der Erkenntnis, daß keiner der Schauspieler seinen Tod mimte, schlug die Begeisterung für die vermeintlich hohe Schauspielkunst in blankes Entsetzen um.
Die Darstellung von Gewalt zeigte und diente früher vornehmlich der Märtyrisierung von Kriegshelden, der Lobpreisung der Feldherren und der Machtoffenbarung des Landes. Hingegen wurde der apokalyptische Charakter des Krieges erst im Laufe der Neuzeit in Literatur und Kunst manifestiert und im Expressionismus fester Bestandteil programmatischer Darstellungsform. Ludwig Meidners „Brennende Stadt“ fungiert als Beispiel für die Venichtungsphantasien der Künstler. Die moderne Großstadt als Moloch, als üble, eigenständige Kreatur unterliegt in Meidners Bild der Zerstörung durch Menschenhand. Die Stadt fällt im Krieg und mit ihr all die kriminellen Machenschaften, gewalttätigen Menschen und liederlichen Verlockungen. Großstadterfahrung war nicht nur zentrales Thema in der Malerei, sondern auch in der Literatur, wie Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) oder auch John Dos Passos Manhattan Transfer (1925) zeigen. Betrachtet man die Zerstörung der Großstadt als Metapher für eine verfallene Gesellschaft, wird die Sehnsucht der Künstler nach der Zertrümmerung des Alten und der Hoffnung dadurch eine neue „bessere“ Welt zu erschaffen, deutlich. Die Vision vom Untergang der Städte öffnete sich zu einer Vision vom Untergang der Welt, an dessen Anfang der Krieg als ultimative Form der Gewalt steht.
2.2 Georg Heym „Der Krieg“
Über runder Mauern blauem Flammenschwall Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschwall. Über Toren, wo die Wächter liegen quer, Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.9
Auch Georg Heym (1887-1912) beschreibt hier die Zustände in der Stadt, über welche die Gewalt des Krieges hereingebrochen ist. Allerdings bezieht er sich nicht explizit auf die Stadt der Moderne, sondern wählt stellvertretend die mittelalterliche Stadt, gekennzeichnet durch die Beschreibung „Über Toren, wo die Wächter...“. Die Zustände im Mittelalter sind deutlich durchzogen von grausamer Gewalt zahlloser Hinrichtungen, Morde und Vergewaltigungen, die willkürlich von der Obrigkeit ausgeführt wurden. Für Heym fungiert dieser Bezug als ideale Metapher für die Ohnmacht der Opfer, die schutzlos ausgeliefert waren und kann somit auch auf die Großstadt der Moderne übertragen werden. Obwohl Heym „Der Krieg“ schon 1911 verfaßte, erscheint es als beschreibe er die Situation während des ersten Weltkrieges. In Bezug auf die von den Expressionisten häufig verwendete Beschreibung der Apokalypse, läßt sich an Georg Heym nachzeichnen, mit welcher Intensität er jenes Programm verfolgte. Er beschildert zerstörte Städte, ermordete Menschen und mit Gewalt Vertriebene, die sich nicht retten können und metaphorisch für den Untergang der Menschheit stehen.
Nicht die Heroisierung der Kriegsschlacht steht in „Der Krieg“ im Vordergrund, sondern die Wirklichkeit des Kampfes, die unumstößlich ihren Lauf nimmt und nicht aufgehalten werden kann. Insofern wäre es sicher fälschlich, Heym als prophetischen Moralisten zu bezeichnen.
Heyms Allegorie, die Personifikation des Krieges unterstreicht, daß es sich hier nicht um ein künstliches Objekt handelt, das aus dem Nichts plötzlich auftaucht, sondern daß der Krieg von Menschen gemacht wird. Die Gewalt und das Leiden stammen von Menschenhand. Das Böse, Gewalttätige und Aggressive im Menschen, seine dunkle Seite kehrt sich nach außen („Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief.“) und bricht mit Gewalt über die Menschen herein.
Schildert Heym zunächst die Angst vor der bevorstehenden Katastrophe („Ein Gesicht erbleicht.“), so steigert sich die Darstellung der Gewalt von Strophe zu Strophe. Die Klimax der Gewalt zur Wiedergabe des Monströsen findet ihren Höhepunkt im ausklingenden Tag:
Einem Turm gleich tritt er aus der letzten Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut. Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt, Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.
und mit Eintreten der Nacht, welche die letzten Überlebenden verschlingt:
In der Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt, Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.
Die Farbmetaphorik trägt deutlich zur Beschreibung des Horrorszenarios bei. Er ist das Böse und wird durch die Farbe schwarz charakterisiert, die als Symbol des Bösen und Dunklen steht. Bevor der Kampf ausbricht bleibt die Landschaft in Nuancen von schwarz, weiß und grau, metaphorisch durch Worte wie „Frost“, „Schatten“ und „Eis“. Nur er ist zu sehen mit schwarzer Hand. Im Verlauf des Gefechts tritt die Farbe rot in den Vordergrund. Das Feuer, die auflodernden Flammen und das fließende Blut werden in ihrer Grausamkeit durch die Signalfarbe unterstrichen. Das Rot geht über in gelb, als der Kampf seinen Höhepunkt erreicht und das rote Feuer, getrieben vom brutalen Köhlerknecht, sich in ein gelbes Inferno verwandelt, dem alles zum Opfer fällt, was lebt.
Am Ende greift Heym wieder auf die Beschreibung der Stadt zurück und macht durch den Tempuswechsel deutlich, daß das Grauen für den Moment vorbei ist, die Gewalt in Form der Personifikation hat allerdings überlebt:
Über sturmzerfetzter Wolken Wiederschein,
In des toten Dunkels kalte Wüstenein, Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr, Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.
Durch die Verwendung von „Gomorrh“ lassen sich Vergleiche zwischen der Vernichtung dieser exemplarisch gewählten Stadt und des Untergangs von Sodom und Gomorrha ziehen. In der Bibel werden diese Städte aufgrund ihrer Sündhaftigkeit zerstört, indem Gott Schwefel und Feuer auf sie herabregnen läßt. Dieser biblische Bezug legt die Deutung nahe, daß der Krieg als göttliches Strafgericht fungiert. Allerdings wird in „Der Krieg“ ein Gott negiert, denn „Über sturmzerfetzter Wolken“ existiert nur „des toten Dunkels kalte Wüstenein“.
So wird erneut deutlich, daß Heym die Gewalt von Menschen an Menschen darstellt und seine Vernichtungsphantasien auf den Untergang der Welt hinweisen, der von einer maroden Gesellschaft forciert wird.
Durch seine Gewaltdarstellung und die apokalyptische Komponente, deren Folge eine neu erschaffene, bessere Welt sein soll, erzielt Georg Heym eine besondere Reaktion beim Leser. Klaus Vondung beschreibt diese spezielle Ästhetik in seinem Aufsatz „Überall stinkt es nach Leichen“ wie folgt:
Im Rahmen der spezifischen Ästhetik der Apokalypse vermag ein Stilmittel Lust zu erzeugen, das für die Apokalypse charakteristisch ist: das Stilmittel des Grotesken. Die erzeugte Lust ist von besonderer Art; sie ist Ausdruck der Funktion, die das Groteske im apokalyptischen Szenario besitzt. Diese Lust ist ambivalent und verweist auf die grundsätzliche Ambivalenz der Ästhetisierung apokalyptischer Untergangsvisionen.10
Das Groteske in „Der Krieg“ ist das Monströse, Dämonische, Abartige der Allegorie, das in seiner Übersteigerung hart an die Grenze zum Lächerlichen stößt („Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand“ ; „Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut“). Seine Größe sprengt jedes realistische Maß und wird durch Attribute des Grauens und durch die Farbmetaphorik manieristisch übersteigert.
Er ist der Krieg in Menschengestalt mit „Haupt“ und „Hand“. Heym beschreibt den Krieg als übermächtig gewordene destruktive Natur des Menschen, der die Opfer ausgeliefert sind, weil sie mit etwas konfrontiert werden, daß zwar in ihnen schlummert, jedoch nicht in ihr Bewußtsein getreten ist. So wird verständlich, was Heym ausdrücken will, wenn er schreibt:
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.
In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
Das erbleichte Gesicht mag demjenigen gehören, der die nahende Gewalt erkennt. Vielleicht ein Veteran vergangener Kriege. Das Erbleichen vor Angst suggeriert die reale Gefahr, das Entsetzen vor dem Krieg, der hier erneut in keiner Weise heroisierend verklärt betrachtet, sondern als wirkliche Bedrohung dargestellt wird.
3. Rezeption von Gewalt bei Beckmann und Heym
Platons Forderung, die Dichtung habe, als Mimesis des Redens und Handelns, nur das Gute und Schöne, das heißt für ihn das Wahre, darzustellen wird im Expressionismus verworfen beziehungsweise angepaßt. Angepaßt an reale Bedingungen und Umstände, die keine Vertiefung in romantische Vorstellungen von reiner Schönheit zulassen. Platons Ideal sittlicher Reinheit ist für die Expressionisten in ihrer Kunst nicht realisierbar und haltbar, da ihr Bestreben, „hinter den Schein der Dinge zu blicken“ sie auf eine Welt blicken ließ, deren Realität bestimmt wurde von Gewalt.
Sowohl Max Beckmann als auch Georg Heym sahen sich nicht nur konfrontiert mit Kriegsgreuel und Gewaltverarbeitung, sondern auch mit der Zensur. Die Expressionisten durchliefen verschiedene Stadien der Bedrohung durch die Obrigkeit, deren Ziel es war, diese „Wilden“ zu bezähmen und ihre Arbeiten zu verbieten.
Das Phänomen der Zensur ist sicherlich ein bekanntes, wurden Künstler doch von je her verfolgt und sogar ermordet.
Jürgen Nieraad begründet die Zensur von gewaltausdrückender Literatur:
In der literarischen Gewaltimagination sieht sich die Macht mit sich selbst konfrontiert, sie erblickt da - wie immer codiert und verschoben - ihre eigene, zur Kenntlichkeit entstellte Fratze. So wird sie alles daran setzen, die Symbolik der Gewaltdarstellung zu kontrollieren und zu zensieren.11
Während die Gewaltimagination bei Heym und Beckmann einerseits als Ausdruck der realen Bedrohung kenntlich gemacht wird, löst sie beim Betrachter doch nicht zwingend Denkanstöße und ein „in sich gehen“ aus. Vielmehr schafft sich der Betrachter/Leser eine Art der Befriedigung bei der Rezeption von Gewalt. Er kann durch Literatur und Malerei risikofrei das Böse und Dunkle betrachten, ohne selbst physischen Gefahren ausgesetzt zu sein. Kant verdeutlicht in seinem Buch Kritik der Urteilskraft, die Natur als dynamisch-erhaben und beschreibt die Macht, die sie auf den Menschen ausübt. Wesentlich ist die Vorstellung, daß das Individuum sich bei der Betrachtung der gewaltigen Natur zwar fürchtet, sich ihrer aber annehmen und eine gewisse Überlegenheit hervorbringen kann.
Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl. Machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anzeihender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden;12
Schönheit und Schrecken (Heidelberg, 1990), S. 135.
Wie bereits erwähnt, wird nur die Inszenierung von Gewalt als angenehm empfunden. Richard Alewyn schreibt dem Menschen ein Bedürfnis nach Angst zu, deren Inszenierung zu einem Schreckensersatzmittel wird. Er spricht hier von einer Art “delightful horror“13, der die Angstlust befriedigt. Bezieht man Alewyn auf Kant, ergibt sich daraus ein Zusammenhang. Während die Menschen früher der gewaltigen Natur fast schonungslos ausgesetzt waren, hat sich ihr Lebensraum, besonders durch die Industrialisierung doch wesentlich verändert. Der Mensch muß die Natur nicht mehr grundsätzlich fürchten, denn er hat es geschafft, sie zu überwinden und sich vor ihr zu schützen. Es besteht kaum noch die Gefahr, von wilden Tieren gefressen zu werden oder schutzlos tosenden Stürmen ausgeliefert zu sein. Folglich wird die vorhandene Angstlust durch Medien wie Literatur oder Bildende Kunst befriedigt.
Sigmund Freud beschrieb diese Problematik 1917 in seinem Werk Zeitgemäßes über Krieg und Tod von einer weiteren Perspektive aus:
Unsere Gefühlsbindungen, die unerträgliche Intensität unserer Trauer, machen uns abgeneigt, für uns und die unsrigen Gefahren aufzusuchen. Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl Unternehmungen in Betracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich sind wie Flugversuche, Expeditionen (...). Uns lähmt dabei das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein Unglück geschieht. (...) Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten.14
Der Mensch wurde quasi „domestiziert“ und hat seine ihm angeborene Abenteuerlust und Sehnsucht nach Gefahren im Laufe des Zivilisationsprozesses unterdrückt. An die Stelle des Gefühls der ersehnten Angst vor Gefahren trat die Angst vor Trauer und Verlust.
Sicherlich sind im Laufe des Zivilisationsprozesses einige grundlegenden Ängste verschwunden, allerdings brachte er auch eine Reihe neuer Ängste hervor. Carsten Zelle schreibt in seinem Essay „Über den Grund des Vergnügens“:
Nun erledige die Zivilisation zwar mancherlei Ängste, sie bringe freilich auch immer neue Realängste hervor. Naturbeherrschung und Technik erledigten Nacht-, Gewitter- und Gebirgsängste, der technische Fortschritt, insbesondere die Waffen- und Kerntechnik brächten aber gerade heute auch neue Ängste hervor.15
Durch die Inszenierung von Gewalt, sei es nun in Form von Drama, Prosa, Lyrik oder Bildender Kunst, durchlebt der Rezipient die Ängste zwar aus der sicheren Position des Betrachters heraus, aber er befaßt sich mit der Form der Angst. So kann die Inszenierung dazu beitragen, einige Ängste auszulöschen oder zumindest zu minimieren.
Jürgen Habermas nimmt als Beispiel den Schauerroman und bezeichnet ihn und ähnliche Formen der Gewaltdarstellung als „Substitutionen, mit denen jeweils andere Stufen realer Ängste (...) innerlich überwunden, indem sie in zeremonialer Form noch einmal wiederholt würden.“16
Die oben erwähnten Realängste, die durch den Zivilisationsprozeß entstanden, sind zentrales Thema der Expressionisten, die nicht nur Kritik an der oberflächlichen Gesellschaft übten, sondern die Problematik der durch die Technisierung hervorgerufenen Einflüsse auf das Individuum aufzeigten. Die Angst vor Krieg, die Angst vor Einsamkeit und auch die Angst vor dem Mitmenschen spiegeln sich in expressionistischen Ausdrucksformen wieder. Heym beschreibt die totalitäre Form der Apokalypse, hervorgerufen durch den zerstörungswütigen, machtbesessenen Menschen, Beckmann skizziert Szenarien der rohen Gewalt, die sich die Menschen gegenseitig antun.
Ein bisher noch nicht erwähnter Aspekt bei der Auseinandersetzung mit Gewaltdarstellung, ist der Aspekt der bild- bzw. textimmanenten Gewalt. Boris Groys formuliert in seinem Essay „Die Gewalt der Bilder. Die historische Avantgarde als Formung des Neuen Menschen“ provokant:
Das avantgardistische Bild inszeniert nämlich seine eigene Zerstörung, sein eigenes Martyrium. So entsteht der Eindruck, daß die Bilder der Avantgarde selbst durch die Gewalt zerstört werden, die sie darstellen.17
Dieser Aspekt der Gewaltinterpretation wird besonders deutlich, betrachtet man Pablo Picassos Werk „Guernica“ (1937). Picasso bekam den Auftrag von der spanischen Volksfrontregierung ein Bild für die Weltausstellung in Paris anzufertigen. Er wählte die Zerstörung der Kleinstadt Guernica als Thema, um die Selbstdarstellung des republikanischen Spaniens in seiner existentiellen Bedrohung zu verkörpern. So wurde Guernica, das zeitgeschichtliche Symbol des Kriegsterrors, Anlaß für eine allegorische Komposition. Das Bild mißt 349,3 auf 776,6 cm und ist allein seiner Größe wegen ein überwältigender Anblick. Die Farbwahl vermittelt dunkle, grausige Impressionen, die bedrückend und unheilvoll auf den Betrachter wirken.
Zwar war die Intention des Künstlers eindeutig, den Terror von Gewalt und Krieg darzustellen, allerdings bedient sich Picasso, wie auch Max Beckmann, dem Stilmittel der Verallgemeinerung. Alle Figuren sind stilisiert wiedergegeben und wirken durch ihren zeichenartigen Schematismus ebenso archaisch wie allgemein verständlich. Auf eine umfangreiche Tiefenanalyse des Bildes soll an dieser Stelle verzichtet werden, wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht die Gewalt, die das Bild darstellt, sondern die Gewalt, die dem Bild angetan wurde, die Gewalt, die dem Bild innewohnt.
Picasso wählte Öl als Farbe und trug diese stellenweise besonders pastös auf, was dazu führte, daß der Farbauftrag an einigen Stellen wie aufgeplatzte Narben wirkt. Es scheint, als würden diese Stellen bald abbröckeln. Ebenso verletzt sieht die Leinwand an manchen Stellen aus, an denen Picasso immer wieder Farbe auftrug und reduzierte, besonders deutlich am rechten unteren Bildrand. Insgesamt wirkt das Bild beschmutzt und beschädigt und verweist auf das avantgardistische Programm, daß das Bild nicht länger bloße Darstellung der Welt, sondern zugleich ein Teil dieser Welt ist, die leidet und zerstört wird.
Geht man noch einen Schritt weiter zurück, so gelangt man zum Schaffensprozeß des Künstlers, der häufig selbst als Gewaltakt bezeichnet wird. Sowohl Beckmann, als auch Picasso sahen sich im Laufe ihres Selbstfindungsprozesses mit eigenen Werken konfrontiert, die sie so, wie sie vor ihnen standen nicht mehr billigten. Die Folge war entweder eine totale Neubearbeitung oder die Zerstörung des Bildes. Resultierend aus dem Gewaltakt der Zerstörung ergaben sich neue Perspektiven, Destruktion verwandelte sich in Konstruktion. Jürgen Wertheimer sieht darin sogar einen essentiellen Nutzen für das Dasein eines Werkes überhaupt: „Das Artefakt bezieht seine existentielle Präsenz, sein „Leben“ aus dem destruktiven Verhalten seiner Figuren bzw. ihres Autors.“18 Die Legitimation des destruktiven Charakters kann als Bruch mit jeglicher künstlerischen Tradition gesehen werden. Das expressionistische Werk ist gekennzeichnet durch die Ambivalenz der Kunstqualität an sich. Einerseits bemühten sich die Maler mit neuen Arbeitsweisen den Bildern neue Form und Qualität in Bezug auf die Technik selbst zu verleihen, um sich so vom Bisherigen abzuheben. Andererseits widmeten sie sich Darstellungen, die mit der traditionellen Abbildung brachen. Die Gewalt wurde nicht länger naturalistisch und detailgetreu abgebildet, sondern bekam eine neue Form. Diese Neuerung, der Bruch mit der Tradition, wirkte auf den Betrachter/Rezipienten stark anziehend. Beckmann und Heym verliehen ihren Werken Kraft und Ausdruck durch neue Formen und stellten zugleich das Altbekannte, die Gewalt in neuer Präsentationsform dar. Ihre Kunst grenzte sich ab von klassischer Gewaltdarstellung, die explizit den Gewaltakt in den Vordergrund stellt und diesen detailgetreu abbildete. Sowohl Heym, als auch Beckmann „überfordern“ den Rezipienten nicht, mit totaler Konfrontation die ihn verschreckt. Beide zeigen zwar deutlich, daß ihr Programm die Darstellung der Gewalt ist, allerdings ziehen sie den Rezipienten trotz der eher abschreckenden Thematik an, überzeugen durch ihre „handwerklichen Fähigkeiten“. Nicht die Provokation stand im Vordergrund, sondern die Auseinandersetzung und Umsetzung mit dem Thema Gewalt. Beide Artisten haben es geschafft, trotz all ihrer avandgardistischen Ansätze, nicht mit der Problematik der Antikunst in Verbindung gebracht zu werden. Kurt Schwitters (1887-1949), dessen Werke ein absolutes Auflehnen gegen jegliche künstlerische Tradition beinhalteten, schloß sich der Gruppe der Dadaisten an, die betonten, sie wollen nichts mit dem zu tun haben, was man allgemein unter Kunst verstehe. Ihre sogenannte Antikunst entwickelte sich zu einer Kunst des tiefsinnigen Unsinns, die sich zwar schnell verbreitete, jedoch allgemein vom Menschen“, in: Rolf Grimminger (Hg.), Kunst Macht Gewalt (München, 2000), S.63.
Betrachter primär abgelehnt wurde. Die Menschen beklagten sich über die Schamlosigkeit, mit der die Dadaisten alles bisher Gültige ad absurdum führten und der Kunst die Ernsthaftigkeit nahmen. Die Allgemeinheit konnte sich nicht mit einer Form der Kunst identifizieren, die den Eindruck bloßer Konfrontation und Provokation vermittelte. Erst im Verlauf der dadaistischen Bewegung empfanden die Betrachter einen gewissen Reiz an der Oberflächlichkeit der Gemälde, allerdings erst, als sich Dadaisten wie Andy Warhol und Roy Lichtenstein der plakativen Oberflächenästhetik widmeten. Die schönen bunten Bilder verfolgten einzig und allein den Zweck der Dekoration, was beim Rezipienten auf Sympathie stieß. Der Kunst wurde eine, sicherlich beschnittene, Funktion zugeordnet, die sie schon früher, beispielsweise zu Zeiten der Naturalisten, innehatte: Kunst sollte dem Wohlgefallen des Betrachters dienen und sich jeglicher Kommentierung der Zeit enthalten.
Doch im Grunde ist genau diese Enthaltung unmöglich. Jedes Kunstwerk verweist auf die Zeit, in der es entsteht und bezieht sich auf die Kultur, für die es geschaffen wird. Jürgen Wertheimer betont diesen Zusammenhang zwischen Werk, Rezipient und Kultur:
Der Dialog zwischen Werkerfahrung und Welterfahrung mündet in ein - einigendes oder spaltendes, stabilisierendes oder destabilisierendes - Urteil über die eigene Kultur.19
So wird deutlich, welchen Prozeß ein Rezipient bei der Lektüre oder Betrachtung gewaltbeschreibender Kunst durchläuft. Sowohl die Malerei, wie auch die Lyrik lassen also ein Urteil über die Kultur zu. Wie bereits erwähnt, kann Kunst helfen, Geschichte leichter zu verstehen, was gerade bei Heym und Beckmann dazu führen kann, daß unser Urteil über die eigene Kultur in Ablehnung und Entsetzen mündet. Nun stellt sich die Frage, ob die Werke der beiden Künstler Kompensation oder Potenzierung der Gewalt beim Betrachter auslösen?
Würde man Rezipienten von Heyms „Der Krieg“ unmittelbar nach der Lektüre nach ihrem Empfinden fragen, so würden sie sicherlich ihre Entrüstung über die Grausamkeit eines Krieges zum Ausdruck bringen. Und sicherlich sind viele der Meinung, daß Bilder wie „Die Nacht“ als abschreckendes Beispiel für menschliche Grausamkeit dazu beitragen können, die Gewaltbereitschaft zu reduzieren, was jedoch eine äußerst oberflächliche Betrachtung des Problems ist.
Wichtig sind die Konsequenzen, die durch die Rezeption hervorgerufen werden, denn die ästhetische Konsequenz der Darstellung von Gewalt kann eine positive Beeinflussung des Rezipienten hervorrufen, besonders deutlich erkennbar in der Form der Tragödie und des Trauerspiels. Der Zuschauer versetzt sich in die Rolle des Opfers, dem Gewalt angetan wird und identifiziert sich mit ihm. Arnd Beise formuliert diesen Zustand in seinem Essay „Gewalt im Trauerspiel“ folgendermaßen:
Am auffälligsten mag sein, daß die negativ beurteilte Gewalt für den Zuschauer positive Folgen haben könnte. Ihre Darstellung dient jetzt nicht mehr nur der Erregung von Abscheu, sondern soll die Affekte des Zuschauers positiv beeinflussen; und zwar über die Einfühlung oder gar Identifikation mit dem Opfer der Gewalt.20
Insofern spräche vieles dafür, die Wirkung der Werke als heilsame Kompensation von Gewalt zu bezeichnen. Allerdings bleibt zu beachten, daß Künstler wie Beckmann und Heym keine unmittelbar erlebten Ereignisse schildern, sondern Gewalt inszenieren. Sie schaffen eine Wirklichkeit, die sich parallel zur realen Geschichte bewegt und eigene Akzente setzt. Dem Rezipienten wird nicht eine umfangreiche Beschreibung von Ereignissen geboten, sondern eine ausschnitthafte Darstellung von Geschehenem präsentiert. Diese Ausschnitte schaffen eine gezielte Perspektivierung und somit eine Beeinflussung des Rezipienten.
Während im Theater oder im Film die Möglichkeit der Entwicklung von Handlungssträngen geboten wird, die den Zuschauer zu einer gezielten Gemütsregung bringen, sieht sich derjenige, der vor Beckmanns Gemälden steht direkt und unmittelbar mit der Darstellung konfrontiert. Der Kontakt mir der Gewalt in Bildern verzichtet auf eine Vorbereitung und Lenkung des Betrachters. Die Wirkung ist primär Schockierung, Angst und Ablehnung. Erst in einem weiteren Prozeß, in dem der Betrachter sich mit dem Bild auseinandersetzt, es erst einmal an sich heran läßt, besteht die Möglichkeit, der Darstellung von Gewalt ästhetische Eigenschaften zuzuschreiben.
„Die Nacht“ fungiert als Ausschnitt, denn die bühnenhafte Komposition der Dachkammer zeigt das Geschehen in einem einzigen Moment und zeigt es nicht in ihrem Verlauf. Diese Ambivalenz des „Zeigens und Verschweigens“ in der Darstellung von Gewalt wird wiederum als ästhetisch empfunden und führt zum bereits beschriebenen “delightful horror“, dem wohligen Erschauern. Insofern ist es wohl richtig, wenn man behauptet, daß diese Art der Gewaltdarstellung kompensatorische Funktion trägt.
Schwieriger wird es bei der Rezepition von Lyrik. Auch hier liegt, im Gegensatz zum Roman, ein Ausschnitt vor. Hinzu tritt die Problematik der inneren Visualisierung, die weder bei Theater und Film, noch bei der Bildenden Kunst zu finden ist. Der Rezipient formt während der Lektüre sein individuelles inneres Bild der Geschehnisse, welches nicht beeinflußbar und der subjektiven Imagination des Einzelnen überlassen bleibt. Wir können nicht direkt nachvollziehen, wie sich andere das Szenario in „Der Krieg“ vorstellen und folglich auch keinen Einfluß darauf nehmen. Die innere Visualisierung bietet die Möglichkeit, das Gedicht im Kopf in ein Bild zu verwandeln, das sich zwar am Gerüst der Worte entlanghangelt, im Detail allerdings völlig frei ausgearbeitet werden kann. Insofern kann hier nicht von eindeutiger Kompensation von Gewalt gesprochen werden, denn in der persönlichen Imagination läuft der Verstand schneller Gefahr, das Gelesene zur Potenzierung der Gewalt zu verarbeiten.
4. Schlußbemerkung
Der Expressionismus hat mit dem Programm, der Wirklichkeit den Schleier zu entreißen, den Weg für eine freie, moderne Kunst geebnet, die sich nicht auf naturalistisch getreue Abbilder der Natur versteifte. Seither wurde in der literarischen und bildenden Kunst mit allen Tabus gebrochen. Die Thematik der Gewaltdarstellung ist heute allgegenwärtig und besonders verbreitet durch das Medium Film. Kaum eine Produktion kommt noch ohne die Darstellung von Gewalt aus, will sie ganz oben auf der Filmliste stehen. Es ist nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches mehr, wenn wir im Kino oder Fernsehen Gewaltszenen sehen, sind wir doch daran gewöhnt die Leichen zu zählen.
Zwar war Gewalt schon immer präsent, noch nie wurde sie allerdings so sehr enttabuisiert wie heute. Schon die Jüngsten werden mit ihr konfrontiert, indem sie elektronische Gegner auf ihren Computern töten oder verletzten um dafür mit Punkten belohnt zu werden. Auseinandersetzung mit Gewalt findet nicht mehr in der Form statt, in der sich die Expressionisten darum bemühten. Ihr Programm, hinter den Schein der Dinge zu blicken und das aufzudecken, was lange verborgen blieb, steht in keinem Verhältnis mehr zu dem, was die Wirkung von Gewalt heute auslöst. Längst hat man sich daran gewöhnt, Bilder von verstümmelten Kindern, niedergemetzelten Menschen und Tieren in fotonaturalistischen Ausstellungen zu betrachten, ohne dabei sofort in Tränen auszubrechen. Die täglich auf uns einprasselnden Impressionen und Bilder von Gewalt haben dazu geführt, daß die Wahrnehmung und Vertiefung in einen Augenblick von unserem Verstand nicht mehr recht zugelassen werden. Der von Simmel und Hellpach beschriebene Reizschutz des Großstädters scheint heute bestens zu funktionieren. Was die permanente Rezeption von Gewalt jedoch in unserem Unterbewußtsein auslösen kann, ist ein bisher nicht vollständig erforschtes Phänomen, das sicherlich ein wichtiger Forschungszweig der Wissenschaft werden muß, betrachtet man die Präsenz von Gewalt in unserem Leben.
Während die Expressionisten die Darstellung von Gewalt als Bruch mit jeglicher künstlerischen Tradition nutzten, kann man heute beobachten, daß diese Form der Abbildung zwar nicht aus der Stimmung des Umbruchs entsteht, in den Grundzügen jedoch ähnlich geblieben ist. Durch die Umsetzung gewaltbehafteter Szenarien kommt weiterhin die destruktive Natur des Menschen zum Vorschein, das Verborgene, „Aufgestanden unten aus Gewölben tief“, was die Rezipienten heute wie gestern einfängt und ihre Schreckenslust weckt.
5. Bibliographie
• Benjamin, Walter. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998.
• Beise, Arnd. „Gewalt im Trauerspiel.“ In: Markus Meumann und Dirk Niefang (Hg.). Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 1997.
- Elger, Dietmar. Expressionismus. Köln: Benedikt Taschen, 1991.
- Groys, Boris. „Die Gewalt der Bilder. Die historische Avantgarde als Formung des Neuen Menschen.“ In: Rolf Grimminger (Hg.). Kunst Macht Gewalt. München: Wilhelm Fink, 2000.
- Heym, Georg. „Der Krieg.“ In: Gottfried Benn (Hg.). Die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Wiesbaden: Limes, 1955.
- Kant, Immanuel. Kritik der Urteilskraft. Analytik des Erhabenen. Vorlage: Seminarkopie.
- Nieraad, Jürgen. Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie. Lüneburg: zu Klampen, 1994.
- Schiller, Friedrich. Über die tragische Kunst. Weimar: Böhlau, 1943.
- Sofsky, Wolfgang. Traktat über die Gewalt. Frankfurt/Main: Fischer, 1997.
- Vondung, Klaus. „Überall stinkt es nach Leichen.“ In: Peter Gendolla und Cartsen Zelle (Hg.). Schönheit und Schrecken. Heidelberg: Winter, 1990.
- Wertheimer, Jürgen. Ästhetik der Gewalt: Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Frankfurt/Main: Athenäum, 1986.
- Zelle, Carsten. „Über den Grund des Vergnügens.“ In: Peter Gendolla und Cartsen Zelle (Hg.). Schönheit und Schrecken. Heidelberg: Winter, 1990.
Internetadressen:
- www.kunstforum.de
- www.moments-of-history.ibb.bw.schule.de
6. Anhang
[...]
1 Dietmar Elger, Expressionismus (Köln, 1991), S. 208.
2 Ebd., S. 208.
3 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt (Frankfurt, 1997), S. 230.
4 Jürgen Nieraad, Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie (Lüneburg, 1994), S. 25.
5 Vgl. www.kunstforum.de
6 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Frankfurt 1977), S.475.
7 Vgl. www.moments-of-history.ibb.bw.schule.de
8 Friedrich Schiller, Über die tragische Kunst (Weimar, 1943), S. 148.
9 Georg Heym, „Der Krieg“, in: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (Wiesbaden, 1955), S. 69.
10 Klaus Vondung, „Überall stinkt es nach Leichen“, in: Peter Gendolla und Carsten Zelle (Hg.),
11 Jürgen Nieraad, Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie (Lüneburg, 1994), S. 22.
12 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Analytik des Erhabenen. S. 348.
13 Vgl. Peter Gendolla und Carsten Zelle (Hg.), Schönheit und Schrecken (Heidelberg, 1990), S.61.
14 Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, zitiert aus: Jürgen Wertheimer (Hg.), Ästhetik der Gewalt: Ihre Darstellung in Literatur und Kunst (Frankfurt, 1986), S. 326.
15 Carsten Zelle, „Über den Grund des Vergnügens“, in: Peter Gendolla und Carsten Zelle (Hg.), Schönheit und Schrecken (Heidelberg, 1990), S. 63.
16 Carsten Zelle, „Über den Grund des Vergnügens“, in: Peter Gendolla und Carsten Zelle (Hg.), Schönheit und Schrecken (Heidelberg, 1990), S.64.
17 Boris Groys, „Die Gewalt der Bilder. Die historische Avantgarde als Formung des Neuen
18 Jürgen Wertheimer, Ästhetik der Gewalt: Ihre Darstellung in Literatur und Kunst (Frankfurt, 1986), S. 10.
19 Jürgen Wertheimer, Ästhetik der Gewalt: Ihre Darstellung in Literatur und Kunst (Frankfurt, 1986), S. 10.
20 Arnd Beise, „Gewalt im Trauerspiel“, in: Markus Meumann und Dirk Niefanger (Hg.), Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert (Göttingen, 1997), S. 111.
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2000, Untersuchungen zur Wiederkehr von Gewaltdarstellung im Zeitalter des frühen Expressionismus am Beispiel von Georg Heym und Max Beckmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103754
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