Auf Anhieb faszinierte mich die von der Systemtheorie von sich selbst behauptete Möglichkeit, jenseits von rückwärtig konstruierten Kausalzusammenhängen, aus ihrer Beobachtungs- und Beschreibungsperspektive zweiter Ordnung, gesellschaftliche und politische Ereignisse der Zukunft prognostizieren zu können1. Hinter diesem Anspruch sowie hinter dem gesamten systemtheoretischen Politikverständnis steht ein fundamentaler Wechsel des Betreibens der politischen Theorie.
So stehen nicht mehr Personen in der Luhmannschen Theorie, die Gesellschaft universal beschreiben will, im Mittelpunkt, sondern Kommunikation. Es handelt sich um eine Dekonstruktion des Menschen, der Mensch wird von deren Zentrum in die Umwelt der Gesellschaft versetzt, was der Aufgabe einer antropozentrischen Sichtweise von Mensch und Gesellschaft entspricht. Gesellschaft wird somit nicht mehr als Produkt von Personen aufgefaßt, sondern Personen als Produkt der Gesellschaft. Wo bei Machiavelli, Hobbes und Hegel normative Kategorien wie Tugend, Macht und Sittlichkeit im Zentrum ihrer politischen Theorien stehen, verspricht der Luhmannsche Ansatz, der Gesellschaft als Kommunikationen und Politik als eines neben gleichwertigen anderen gesellschaftlichen Subsystemen beschreibt, einen Zugang zur auch politischen Gesellschaft jenseits jeder normativen Idee. Die Theorie hält sich selbst2 dementsprechend für nicht mehr ontologisch, sondern konstruktivistisch. Die Unterscheidung zwischen kommunikativen und psychischen Systemen eben löst die "Einheit Mensch in die Einheit der Differenz von organischem und psychischem System und der Emergenz des sozialen"3 auf. Der Gesellschaftsbegriff Luhmanns beinhaltet die kommunikativen Systeme mit ihren unterschiedlichen ausdifferenzierten sozialen Systemen und die kommunikativen Wirklichkeiten. Konstitutives Element eines jeden sozialen Systems ist Kommunikation. Kommunikationen sind die kleinsten Elemente dieser Kommunikationstheorie. Kommunikation ist definiert als die dreifach-selektive Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen4.
Diese konstruktivistischen und kommunikationstheoretischen Voraussetzungen erfordern eine neue, erweiterte Perspektive auf Gesellschaft und Politik, ist es doch Anspruch der Theorie, Gesellschaft nicht mehr mit gesellschaftlichen Begriffen zu erklären.5 Jedoch tritt natürlich auch der systemtheoretische Beobachter in Gesellschaft auf, will heißen, kann Gesellschaft nur in Gesellschaft und aus ihr heraus beobachten [...]
Inhaltsverzeichnis
- 0. Einleitung
- 0.1 Systemtheoretische Grundvoraussetzungen
- 0.2 Interesse, Aufbau und Ziel der Arbeit.
- 0.3 Literatur
- 1. Systemgedächtnistheorie
- 1.1 Grundannahmen des Systemgdedächtnis.
- 1.2 Funktionen des Systemgedächtnis.
- 1.3 Rolle von Vergangenheit und Zukunft.
- 1.4 Einordnung der Gedächtnistheorie in Luhmanns Theorie sozialer Systeme
- 2. Das politische Gedächtnis
- 2.1 Funktionen.
- 2.2 Verortung und Form
- 2.3 Funktionsweise.
- 3. Schluss: Vergleich des Luhmannschen und Halbwachsschen Gedächtnisbegriff
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit Niklas Luhmanns Konstruktion des politischen Gedächtnisses und setzt diese in Abgrenzung zum kollektiven Gedächtnis von Maurice Halbwachs. Ziel ist es, Luhmanns Theorie des politischen Gedächtnisses im Kontext seiner Systemtheorie zu analysieren und dessen Besonderheiten und Abgrenzungen zu anderen Gedächtnisbegriffen herauszuarbeiten.
- Das Systemgedächtnis und dessen Funktionen
- Die Rolle von Vergangenheit und Zukunft in der Systemgedächtnistheorie
- Die Funktionsweise des politischen Gedächtnisses
- Die Verortung und Form des politischen Gedächtnisses innerhalb des Systems
- Der Vergleich des Luhmannschen Gedächtnisbegriffs mit dem kollektiven Gedächtnis von Halbwachs
Zusammenfassung der Kapitel
0. Einleitung
Die Einleitung führt in die systemtheoretischen Grundvoraussetzungen von Niklas Luhmann ein und erläutert das Interesse, den Aufbau und das Ziel der Arbeit. Sie hebt die zentrale Rolle von Kommunikation in Luhmanns Theorie hervor und verdeutlicht den Wechsel vom anthropozentrischen zum systemtheoretischen Ansatz.
1. Systemgedächtnistheorie
Dieses Kapitel befasst sich mit den Grundannahmen und Funktionen des Systemgedächtnisses in Luhmanns Theorie. Es beleuchtet die Rolle von Vergangenheit und Zukunft im Systemgedächtnis und ordnet die Gedächtnistheorie in den Gesamtkontext von Luhmanns Theorie sozialer Systeme ein.
2. Das politische Gedächtnis
Das zweite Kapitel analysiert die Funktionen, die Verortung und Form sowie die Funktionsweise des politischen Gedächtnisses. Es geht auf die spezifischen Merkmale des politischen Gedächtnisses im Vergleich zum allgemeinen Systemgedächtnis ein.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Schlüsselbegriffen der Systemtheorie, des politischen Gedächtnisses, der Kommunikation, des kollektiven Gedächtnisses, der Vergangenheit und Zukunft sowie der Abgrenzung von Luhmanns Theorie zu anderen Gedächtniskonzepten.
- Quote paper
- Dominik Sommer (Author), 2001, Niklas Luhmann - Das politische Gedächtnis: Luhmanns Konstruktion des politischen Gedächtnis in Abgrenzung zum kollektiven Gedächtnis Maurice Halbwachs, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10377