1. Entstehung der Frauengenossenschaft
1.1 Der Gründer
Der Gründer der Vinzentinerinnen bzw. der Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern des hl. Vinzenz von Paul1 ist der Geistliche Vinzenz von Paul (geb. 24.04.1576, gest. 27.09.1660)2. Er legte zusammen mit Luise von Marillac 1634 den Grundstein zu dieser Genossenschaft. Die Anfänge dieser Verbindung gehen auf das Jahr 1617 zurück. Vinzenz war Pfarrer von Châtillon - les - Dombes:
„Eines Sonntags, als ich mich gerade zur hl. Messe ankleidete, kam jemand zu mir und meldete, in einem abge- legenen Haus, etwa eine viertel Stunde von hier, herrsche große Not. Alle darin seien krank, keiner könne dem anderen helfen. Ich kam auch gleich bei der Predigt darauf zu sprechen und empfahl die Leute liebevoll der Gemeinde... Da sah ich Frauen mit Lebensmitteln hingehen, andere kamen zurück Ich mußte mir sagen: Welch große Nächstenliebe! Aber sie ist ungeordnet, haben doch die Armen jetzt zu viel Vorrat auf einmal. Ein Teil davon wird verderben, und bald sind sie der alten Not ausgeliefert. Da brachte mich Gott auf den Gedan- ken: Diese Frauen können sich zusammentun, um aus liebe zu Gott den armen Kranken zu dienen. So schlug ich in einer Versammlung den Frauen vor, jede möge ihren Beitrag leisten und sich einen Tag zur Verfügung stel- len, um das Essen z bereiten, und zwar nicht nur für diesen einen Fall, sondern für alle, die später Hilfe nötig haben werden. Das war der Anfang der Caritasvereine,...“ (Vinzenz von Paul, Worte, S. 63/64)
Am 8. Dez 1617 gründete er schließlich einen Frauenverein, genannt „Confrérie de la charité“. Dieser breitete sich innerhalb weniger Jahre in mehr als 30 Orten aus, so daß Vinzenz auf Hilfe angewiesen war.
1.2 Vinzenz von Pauls Begegnung mit Luise von Marillac
Aufgrund der starken Ausbreitung war Vinzenz nicht mehr in der Lage, allein alle gegründeten Vereine zu beaufsichtigen. 1624 begegnete ihm Louise von Marillac (im weiteren Le Gras ge- nannt). Sie wurde am 12.08.1591 in Paris geboren, verlor sehr früh ihre Mutter, Margareta de Camus, und verbrachte einige Zeit in einer klösterlichen Erziehungsanstalt. Ihre Ausbildung be- endete sie im Hause ihres Vaters, Ludwig von Marillac. Dieser starb, als sie berufstüchtig wurde. Sie hatte den Weg ins Kloster gewählt, wurde aber von Verwandten zur Ehe gedrängt. Im Februar 1613 heiratete sie schließlich Antoine Le Gras, Geheimsekretär der Königin Maria von Medicis.
Als Louise 34 Jahre alt war, starb ihr Mann und ließ sie als alleinerziehende Mutter eines Sohnes zurück. Sie weihte sich daraufhin dem Dienst an den Kranken, obwohl sie selbst von schwacher Gesundheit war.3 Hier begegnete sie Bischof Camus von Belley, der ihr dazu riet, sich Vinzenz zum Beichtvater zu wählen. Er beauftragte sie 1629 mit einigen weiteren Frauen, die verschiede- nen Orte der entstandenen Genossenschaften zu besuchen, um die Mitglieder über die Kranken- pflege zu belehren, Arzneimittel und Leinen zu verteilen und sie zu Arbeitseifer zu ermuntern.
Vinzenz von Paul: „ Die Armen sind unsere Herren, sie sind unsere Könige. Man muß ihnen gehorchen. Es ist keine Übertreibung, sie so zu bezeichnen; denn in den Armen ist unser Herr gegenwärtig.“ (Vinzenz von Paul, Worte, S. 47)
Sie starb am 15.03.1660 in Paris.
1.3 Die Gründung der Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern des hl. Vinzenz von Paul
In Vinzenz reifte der Gedanke, die Frauengenossenschaften umzugestalten. Bisher arbeiteten nur verheiratete Frauen in den Vereinen. Diese hatten sich jedoch zur gleichen Zeit auch um ihre Fa- milien zu kümmern, deshalb fiel es ihnen nicht leicht die Kranken zu pflegen. Zur Zeit von Seu- chen war dies besonders schwierig, da sie sich nicht nur selbst, sondern auch ihre Angehörigen anstecken konnten. Mit der Zeit bestand die Armenpflege, vor allem in den Städten, nur noch aus Almosen, die durch bezahlte Boten, den Armen zukamen. Vinzenz beschloß also, auch auf das Bitten von Louise Le Gras hin, Jungfrauen aufzunehmen. Die Genossenschaft der barmherzigen Schwestern nahm mit einem Hirtenmädchen, mit Namen Margareta Naseau ihren Anfang:
„Marguerite Naseau, aus Suresne, ist die erste Schwester, die das Glück hatte, den anderen den Weg zu zeigen, sowohl die jungen Mädchen zu unterrichten wie den armen Kranken beizustehen, obwohl sie gewissermaßen keinen anderen Lehrmeister und keine andere Lehrmeisterin hatte als Gott. Sie war eine arme Kuhhirtin ohne jeden Unterricht. Durch eine Eingebung des Himmels bewogen, faßte sie den Gedanken die Jugend zu unterrich- ten,... Sah sie jemand vorbeikommen, der so aussah, als ob er lesen könnte, so fragte sie ihn: „Monsieur, wie spricht man dieses Wort aus?“ So lernte sie nach und nach lesen, und dann unterwies sie andere Mädchen ihres Dorfes. Dann beschloß sie in andere Dörfer zu gehen... Manchmal unterrichtet sie Tag und Nacht, nicht nur kleine Mädchen, sondern auch große Leute und das alles nicht aus Eitelkeit oder wegen eines Vorteils für sich, sondern nur um der Ehre Gottes willen, der für ihre gröbsten Bedürfnisse sorgte... Sobald sie erfahren hatte, daß es in Paris ein Liebeswerk für die armen Kranken gäbe, ging sie dorthin von dem Wunsch getrieben dort be- schäftigt zu sein...; und Gott wollte es so, daß sie die erste Barmherzige Schwester und Dienerin der armen Kranken in Paris wurde. Sie zog andere Mädchen dahin, denen sie geholfen hatte... Jeder liebte sie, weil es nichts in ihr gab, was nicht liebenswert gewesen wäre. Ihre Nächstenliebe war so groß, daß sie sich den Tod dadurch holte, daß sie bei einem armen pestkranken Mädchen schlief.“ (Vinzenz von Paul, Leben, S. 14-17.)
Als sich drei weitere Mädchen gemeldete hatten, lud Louise Le Gras sie zu sich ein, um sie in der Krankenpflege zu unterrichten. Am 29.11.1633 wurde die „Schule der Liebe“ in Louises Woh- nung eröffnet. Bald kamen andere Mädchen dazu, die wie die anderen zuvor die Fertigkeiten lern- ten, die für ihr Amt nötig waren. Diese Schwestern waren in allen Pfarreien in der Hauptstadt sehr begehrt.
„ Bräute Christi, Dienerinnen der Armen, Schwestern aller Unglücklichen wurden sie auch die Schutzengel der Kinder, die Mütter der Waisen, die Töchter der Greise, die Lehrerinnen der Jugend, die Beschützerinnen der Irrsinnigen und der Galeerensträflinge: ihr Beruf hat keine andere Grenze als die des menschlichen Elendes. Immer unersättlich folgen sie den Missionären in die entlegensten und wildesten Gegenden, gehen der Pest entgegen und folgen den Soldaten auf die Schlachtfelder.“(aus: J. M. Angéli, Lebensbild, S. 104)
Nun nahm Louise Le Gras ihren alten Plan, Ordensschwester zu werden wieder auf, denn sie hatte ihren Beruf gefunden. Sie wollte sich nun durch ein Gelübde daran binden. Dieses tat sie mit den anderen Frauen am 25.03.1934. Dieser Tag ist für die Barmherzigen Schwestern der Tag der Stiftung und der Tag der Erneuerung des Geistes und des Gelübdes.4 1642 wurde das Mutterhaus aus La Chappelle-St-Denis nach St Lazare, einer Vorstadt von Paris, verlegt. Die Zahl der Schwestern vergrößerte sich und zu den Landmädchen kamen die Töchter vornehmer Familien dazu.
„Vielleicht gibt es nichts Größeres auf Erden, als das Opfer, welches das schwache Geschlecht mit seiner Schönheit, seiner Tugend, ja oft mit seiner hohen Geburt bringt, um in den Spitälern diesen Ausbund alles menschlichen Elends zu lindern, dessen Anblick so demütigend für unseren Stolz und so aufregend für unsere Weichlichkeit ist.“ (Zitat von Voltaire, aus: J. M. Angéli, Lebensbild, S. 104)
Ende 1654 approbierte Papst Innocenz X. die Genossenschaft, nachdem sich Königin Anna (von Österreich), Witwe des Königs Ludwig XIII. dafür bei ihm eingesetzt hatte. Zugleich verfaßte Vinzenz eine Regel, welche den Geist der Liebe, der die Schwestern in ihrem Tun beleben und stärken soll, beinhaltete.5
Vinzenz von Paul:„Eine barmherzige Schwester braucht mehr Tugend als eine Klosterfrau unter der strengsten Regel; in keinem Frauenkloster gibt es soviel Beschäftigungen; denn die Barmherzigen Schwestern haben fast alle Obliegenheiten der verschiedenen Klosterfrauen. ; erstens müssen sie an ihrer eigenen Vollkommenheit arbeiten, wie die Karmeliterinnen und ähnliche Ordensfrauen; zweitens pflegen sie die Kranken, wie die Ordens- schwestern im Hotel Dieu in Paris und anderen Krankenhäusern, drittens unterrichten sie die armen Mädchen wie die Urselinerinnen.“; „Die Barmherzigen Schwestern müssen bedenken, daß sie nicht in einem Kloster sind, da dies sich nicht mit ihren Obliegenheiten verträgt, obschon sie mehr Gefahren ausgesetzt sind als die Kloster- frauen in Klausur; sie haben als Kloster die Krankenhäuser, als Zelle ein armseliges, gemietetes Zimmer, als Kapelle die Pfarrkirche, als Klostergang die Straßen der Stadt, als Klausur den Gehorsam, als Gitter die Furcht Gottes und als Schleier die Sittsamkeit...“ (aus: J. M. Angéli, Lebensbild, S. 105/106)
Dieses Regelwerk besteht sonst zum großen Teil aus allgemeinen Vorschriften, damit sie in den verschiedenen Ländern verschieden angepaßt werden konnte.6 Es wurde zunächst vom Erzbischof de Gondi von Paris und dann 1660 vom päpstlichen Legaten Kardinal von Vendôme approbiert. 1668 wurde sie dann von Papst Clemens IX. bestätigt.
Das General - Mutterhaus hat seinen Sitz in Paris, während die Oberleitung seit dem 18.01.1655 dem Generalsuperior der Lazaristen übertragen war. Das Mutterhaus in Straßburg befolgte eine andere (von Gregor XV. 1835 approbierte) Regel, mit der diese Barmherzigen Schwestern die Gelübde nur auf ein Jahr ablegen, so daß immer am 25.03. eine Gelübde - Erneuerung stattfindet.
Auch die Tracht der Schwestern unterscheidet sich: in Frankreich ist das Kleid grauer; in Deutsch- land schwarzer Farbe; überall dagegen wird die weiße Flügelhaube getragen (Ausnahme: Hildesheim, hier wird der schwarze Schleier getragen.)