Diagnostisches Verfahren zur Erfassung von ADHS im Erwachsenenalter

Ein Überblick


Akademische Arbeit, 2021

34 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen

Zusammenfassung

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Klinisches Störungsbild
2.2 Diagnose der adulten ADHS nach ICD-10
2.3 Diagnose der adulten ADHS nach DSM-5
2.4 Wender-Utah-Kriterien
2.5 Diagnose der adulten ADHS nach ICD-11 in der Zukunft
2.6 Diagnostischer Ansatz: RDoC-Initiative (Research Domain Criteria)

3 Methodisches Vorgehen

4 Diagnoseverfahren – multimodal
4.1 Selbsturteil
4.1.1 ADHS-SB
4.1.2 ASRS-v1.1-Screener und ASRS-v1.1 erweiterte Symptom-Checkliste
4.1.3 ADHS-E und ADHS-LE
4.1.4 CAARS-S
4.1.5 WURS-k
4.2 Klinisches Urteil
4.2.1 ADHS-DC und ADHS-DC-Q
4.2.2 WRI und WRI-V
4.2.3 DIVA 2.0
4.2.4 CAARS-O
4.2.5 EIS-B
4.3 Testbatterien im Überblick
4.3.1 HASE
4.3.2 KATE
4.3.3 IDA-R
4.4 Neurodiagnostik
4.4.1 Qb-Test plus
4.4.2 EEG-Daten

5 Diskussion

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

Anhang
A1: `Diagnostischer Entscheidungsbaum für HKS nach ICD-10 und ADHS nach DSM-5´ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., 2017)
A2: ADHS- Selbstbeurteilungsskala (ADHS-SB) (Rösler et al., 2004)
A3: Symptomcheckliste mit Selbstberichtskala für Erwachsene mit ADHS (ASRS-v1.1) (“National Comorbidity Survey,” 2021)
A4: Screening-Test mit Selbstbeurteilungsskala für Erwachsenen mit ADHS (ASRS-v1.1) (“National Comorbidity Survey,” 2021)
A5: Wender-Utah-Rating-Skala (WURS-k) (Hinrichsen, 2017)
A6: Weder-Reimherr-Interview (WRI) (Hinrichsen, 2017)
A7: Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen (DIVA 2.0) (https://www.divacenter.eu/Content/VertalingPDFs/German%20DIVA%202.0_FORM.pdf)
A8: Essener Interview zur schulzeitbezogenen Biographie bei adulter ADHS (EIS-B) (Grabemann, 2016)
A9: Diagnoseschritte nach Integrierter Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter (IDA-R) (“Medikinet® adult - ADHS erkennen und richtig behandeln,” 2021)

Abkürzungen

ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung

ADHS-SB ADHS-Selbstbeurteilungsbogen

ADHS-DC ADHS-Diagnosecheckliste

ADHS-E ADHS-Screening für Erwachsene

ASRS ADHS Self-Report Scale v1.1

CAARS-S Conners' Adult ADHD Rating Scales-Selbstbericht

CAARS-O Conners' Adult ADHD Rating Scales–Observer Report

DIVA 2.0 Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen

DSM-IV / -5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Version IV / 5

ENAA European Network Adult ADHD

EEG Elektroenzephalogramm

EIS-B Essener Interview zur schulzeitbezogenen Biographie bei adulter ADHS

HASE Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene

HKS Hyperkinetische Störung

ICD-10 / 11 International Statistical Classification of Diseases and Related Health

Problems, Version 10 / 11

IDA-R Integrierte Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter-Rev.Fassung

KATE Kölner ADHS-Test für Erwachsene

NICE National Institute for Health and Care Excellence

WHO World Health Organization / Weltgesundheitsorganisation

WRI Wender-Reimherr-Interview

WR-SB Wender-Reimherr-Selbstbeurteilungsfragebogen zur adulten ADHS

WURS-k Wender-Utah-Rating-Skala Kurzform

Qb-Test Quantified Behavior Test

Zusammenfassung

Die Vielfalt der Verfahren zur Erfassung von ADHS im Erwachsenenalter hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Leitlinien wie die NICE-guideline und im deutschsprachigen Raum die S3-Leitlinien geben eine ständig aktualisierte Orientierung für den Diagnostiker. In der vorliegenden Arbeit wird ein Überblick über die wichtigsten aktuellen Verfahren gegeben und erläutert, worin sie sich unterscheiden. Zunächst wird gezeigt, wie sich die Diagnose in den unterschiedlichen Klassifikationssystemen, dem ´International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems´ (ICD-10) (Dilling & Freyberger, 2019), dem `Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders´ (DSM-5) (Falkai, P. et al., 2014), den eigens für ADHS im Erwachsenenalter konzipierten Wender-Utah-Kriterien und dem zukünftigen ICD-11-Klassifikationssystem (“ICD-11,” 2021) darstellt, sowie der alternative, noch nicht etablierte Ansatz des Diagnosesystems `Research Domain Criteria´ (RDoC) (Akram & Giordano, 2017), vorgestellt. Verfügbare deutschsprachige Instrumente werden aufgeführt, die jeweiligen Inhalte, aktuelle Befundlage bezüglich der Validität und der Reliabilität einschließlich möglicher Limitationen dargestellt. Es stehen zur Erfassung der aktuellen und retrospektiven Symptomatik der adulten ADHS eine Reihe reliabler und valider Screening-, Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren sowie strukturierte Interviews zur Verfügung. Eine Diagnostik anhand von Biomarkern konnte noch nicht validiert werden.

1 Einleitung

Noch im Jahr 2000 herrschte die Auffassung vor, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nur Kinder betrifft (Stieglitz, Nyberg & Hofecker-Fallahpour, 2012). Man nahm in dieser Zeit noch an, dass sich ADHS mit der Pubertät „auswachse“ und deshalb nach dem Jugendalter nicht mehr behandelt werden müsse (Excellence, 2000). Die Erkenntnis, dass ADHS auch ins Erwachsenenalter fortbestehen kann, führte in den letzten Jahren zu einem enormen Zuwachs an Kenntnis der Erkrankung (Steinhausen, Döpfner, & Holtmann, 2020). Die epidemiologisch ermittelte Prävalenz liegt allerdings deutlich über der Häufigkeit der tatsächlich gestellten ADHS-Diagnosen (Bachmann, Philipsen & Hoffmann, 2017): ADHS im Erwachsenenalter ist derzeit in vielen europäischen Ländern unterdiagnostiziert, die Krankheitskosten sind dadurch erhöht (Kooij et al., 2019).

Selbst wenn eine ADHS im Kindesalter nicht erkannt wird, ist eine Diagnostizierung im Erwachsenenalter deshalb doch so bedeutsam, da unerkannt und unbehandelt verschiedene negative Konsequenzen auftreten können: Es drohen Arbeitslosigkeit sowie häufiger Arbeitsplatzverlust, Substanzmissbrauch, Kriminalität, höheres Unfallrisiko, aber auch weitere psychische Störungen mit höherem Risiko für Depression, Persönlichkeitsstörungen sowie erhöhte Mortalität (Erskine et al., 2016). Bis zu 80 % der erwachsenen ADHS-Betroffenen zeigen Komorbiditäten sowohl im psychischen als auch im somatischen Bereich (Eich-Höchli, Seifritz & Eich, 2015).

Um die diagnostische Beurteilung und Behandlung von ADHS bei Erwachsenen mit dem Erkenntnisfortschritt zu synchronisieren (Hörsting, 2016), wurde im Jahr 2003 das European Network Adult ADHD (ENAA) von der niederländischen Psychiaterin J.J. Sandra Kooij gegründet, das inzwischen 74 teilnehmende Psychiater und Psychologen aus 28 Ländern verzeichnet (“European Network Adult ADHD – About Us,” 2021). Dieses Institut gab auch eine Leitlinie zur Diagnostik der ADHS in Auftrag, die sog. NICE-guideline (Dalrymple, Maxwell, Russell, & Duthie, 2020), die ständig systematisch überprüft wird (Boesen et al., 2017). Zeitgleich erschien im Jahr 2003 die deutsche Leitlinie zur Diagnostik im Erwachsenenalter (Ebert, Krause, & Roth-Sackenheim, 2003), die auch als Meilenstein für die ADHS-Diagnostik in Deutschland bezeichnet wird (Krause et al., 2020). Auf der Web-Seite des `zentralen adhs-netz´ (Universitätsklinikum Köln [AöR]) findet der Diagnostiker die aktuelle 2017 erschiene S3-Leitlinie `Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter´ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., 2017).

Die Diagnostik der Erkrankung bei Erwachsenen gestaltet sich trotz vorhandener Leitlinie relativ kompliziert: Die Symptome einer adulten ADHS überschneiden sich mit komorbiden Störungen (Adamis et al., 2018). Ein weiterer erschwerender Faktor ist außerdem, dass nach der Pubertät ein Symptomwandel eintritt, der oftmals nicht mehr zum Bild des Zappelphilipps passt (Krause, 2007). Außerdem scheinen Menschen mit ADHS den kausalen Zusammenhang zwischen ADHS-Symptomen und ihren Beeinträchtigungen nicht zu kennen: Eine klinische Studie der Universität Basel mit n = 114 Erwachsenen aus dem Jahr 2014 konnte zeigen, dass nur eine geringe bis mäßige Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbewertungen besteht (Mörstedt, Corbisiero, Bitto & Stieglitz, 2015).

Umso bedeutsamer ist daher, dass der Diagnostiker eine multimodale Erfassung vornimmt, in der Familienanamnese, Selbst- und Fremdanamnese, strukturiertes Interview, Krankheitsanamnese, Verhaltensbeobachtung und psychischer Befund integriert sowie Differentialdiagnosen gestellt werden (Bachmann et al., 2017). Hierfür sollten die Vorzüge und Nachteile der zur Verfügung stehenden Verfahren bekannt sein.

Die S3-Richtlinien empfehlen entsprechend die Verwendung verschiedener Methoden zur Beurteilung und Diagnose von ADHS (Emser et al., 2018). Der Ausschluss organischer Ursachen wie Schilddrüsenerkrankungen, Epilepsie, Schlafstörungen oder das sog. Restless-Legs-Syndrom (Ebert et al., 2003) ist Voraussetzung und wird in vorliegender Arbeit nicht thematisiert. Ebenfalls wird darauf verzichtet, auf maskierende Faktoren wie Komorbidität einzugehen, genauso wenig auf weitere Besonderheiten wie Late-onset, das Auftreten bei Senioren, die Kompensation durch Hochintelligenz sowie Geschlechtsunterschiede im Verlauf der ADHS, alles Aspekte, die bei der adulten ADHS-Diagnostik eine Rolle spielen können und nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Stattdessen liegt der Schwerpunkt der Arbeit - ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf einem Überblick über anwendbare Verfahren. Nach einer Definition des Störungsbildes (Kapitel 2.1) und einer Darstellung, wie dieses in den verschiedenen Diagnosesystemen erfasst wird (Kapitel 2.2 bis 2.6), folgt eine Erklärung der methodischen Vorgehensweise (Kapitel 3). In Kapitel 4 wird daraufhin eine Übersicht vorliegender deutschsprachiger Verfahren gegeben und ihre Einsatzmöglichkeiten, Gütekriterien sowie Vorteile und Limitationen nach aktueller Befundlage beleuchtet; danach werden die Verfahren der neuropsychologischen Diagnostik dargelegt und nach dem jetzigen Forschungsstand bewertet. Im Anschluss werden in Kapitel 5 die Ergebnisse gegenübergestellt und in Kapitel 6 eine Bestandsaufnahme sowie ein Ausblick auf eventuelle weitere Entwicklungen gegeben.

2 Theoretischer Hintergrund

Das Störungsbild der adulten ADHS wird dargestellt; es gibt aber kein allgemein anerkanntes Störungsmodell (Jenni, 2017). Die Erkrankung ist in den Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-10 definiert, ohne dass ein theoretisches Modell zugrunde liegt: Kriterien werden nur auf einer phänomenologischen Ebene beschrieben. Die Klassifikation in den verschiedenen Diagnosesystemen ist zudem nicht identisch. Welches Diagnosesystem gewählt wird, entscheidet zwar über die Diagnosestellung und führt zu unterschiedlichen Prävalenzen (Rösler et al., 2008), in der Leitlinie wird aber kein Diagnosesystem bevorzugt (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., 2017).

2.1 Klinisches Störungsbild

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird als eine neurologische Entwicklungsstörung definiert, gekennzeichnet durch eine Beeinträchtigung der Funktion oder Entwicklung der betroffenen Person (Martínez-Núñez & Quintero, 2019). Bei Erwachsenen tritt typischerweise Unaufmerksamkeit und Hyperfokus, Hyperaktivität (oft als Unruhe verinnerlicht), emotionale Dysregulation und übermäßiges Gedankenwandern auf (Kooij et al., 2019), die Störung zeigt sich z.B. in Konzentrationsproblemen, in Schwierigkeiten bei der Zeiteinteilung, und darin, Geld impulsiv auszugeben und impulsive Entscheidungen im Arbeits- bzw. im sozialen Bereich zu treffen (Stieglitz et al., 2012). Erwachsene mit ADHS haben folglich anhaltende Schwierigkeiten, Anweisungen zu befolgen, sich an Informationen zu erinnern, sich zu konzentrieren, Aufgaben zu organisieren, Arbeiten innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens abzuschließen und rechtzeitig bei Terminen zu erscheinen; diese Schwierigkeiten treten in verschiedene Lebensbereichen auf und verursachen emotionale, soziale, berufliche, eheliche, rechtliche oder auch finanzielle Probleme (WebMD, 2021). Infolgedessen entwickelt sich häufig ein geringes Selbstwertgefühl; bei richtiger Anleitung führen diese Merkmale von ADHS jedoch bisweilen auch zum beruflichen Erfolg (Palmini, 2008). ADHS stellt häufig eine lebenslange Beeinträchtigung dar (Kooij et al., 2019), wobei eine Entwicklung des Erscheinungsbildes stattfindet, indem Hyperaktivität und Impulsivität abnehmen beziehungsweise sich verändern (Schmidt, Petermann & Waldmann, 2017).

2.2 Diagnose der adulten ADHS nach ICD-10

Seit 1992 kann die Diagnose nach dem „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ ICD-10 auch bei Erwachsenen gestellt werden, allerdings nur mit den gleichen Kriterien wie für Kinder, mit folgenden Codierungen (Dilling & Freyberger, 2019):

- F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
- F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
- F90.8 Sonstige hyperkinetische Störung
- F90.9 Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet
- F98.8 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität

Die F90-Diagnosen fallen somit unter die Gruppe der hyperkinetischen Störungen (HKS) und werden nicht als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnet. Im Folgenden wird für eine bessere Lesbarkeit die Bezeichnung ADHS für die Diagnosen beider Systeme (ICD-10 und DSM-5) verwendet.

Bei der Vergabe von F90.0 müssen Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität mit Beginn noch vor dem siebten Lebensjahr sowie in mehreren Lebensbereichen vorliegen. Sind zusätzlich Diagnosekriterien einer Störung des Sozialverhaltens vorhanden, wird unter F90.1 codiert. Werden einzelne Diagnosekriterien nicht erfüllt, können F90.8 oder F90.9 gewählt werden. Bestehen bei dem Betroffenen Kriterien der Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, wird er unter F98.8 codiert.

Obwohl erwachsenenspezifische diagnostische Kriterien für die Diagnosestellung einer ADHS in der ICD-10 noch nicht vorhanden sind, ist sie für die Diagnosestellung von Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern in Deutschland vorgeschrieben (Rief & Stenzel, 2012). Durch das Fehlen der Kriterien für Erwachsene gibt es keine hochwertigen bevölkerungsbasierten Studien zur ADHS-Prävalenz nach ICD-10 (Doernberg & Hollander, 2016).

2.3 Diagnose der adulten ADHS nach DSM-5

Erst im `Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders´ DSM-5 (Falkai, P. et al., 2014) wurde das DSM-IV mit Beispielen zur Beschreibung des Verhaltens bei Erwachsenen ergänzt (Matthies, 2020). Im Gegensatz zu ICD-10 unterscheidet das DSM-5 nicht sog. Subtypen, sondern verschiedene Erscheinungsformen (`presentaions´), die der Variation der ADHS-Symptome bei derselben Person während der Lebensdauer besser gerecht werden (Falkai, P. et al., 2014):

- vorherrschend unaufmerksame Erscheinungsform (codiert: 314.00)
- vorherrschend hyperaktiv–impulsive Erscheinungsform (codiert: 314.01)
- gemischte Erscheinungsform (codiert: 314.02)
- nicht spezifiziertes ADHS
- Bei Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen teilweise Symptome einer ADHS nicht mehr auftreten, kann der Zusatz „in partieller Remission“ ergänzt werden.

Für die Erscheinungsform der Unaufmerksamkeit bzw. für die vorwiegend hyperaktive-impulsive Erscheinungsform müssen mindestens 6 Symptome der insgesamt 9 Kriterien zutreffen. Bei der Diagnosestellung der gemischten Erscheinungsform müssen sowohl die vorherrschend unaufmerksame als auch die vorherrschend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform erfüllt sein. Wird die Diagnose erst ab dem Alter von 17 Jahren vergeben, sind nur 5 statt 6 der insgesamt 9 Kriterien erforderlich. Einige Symptome müssen vor dem 12. Lebensjahr aufgetreten sein, nicht wie bisher vor dem 7. Lebensjahr. Das Vorhandensein einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist kein Ausschlusskriterium mehr, was mit Studien übereinstimmt, die ihr häufiges gleichzeitiges Auftreten belegen (Chantiluke et al., 2014; Springer, 2019).

Die Kriterien von ICD-10 oder DSM-5 müssen erfüllt sein, um eine ADHS-Diagnose zu stellen. Dazu gehört, dass die Symptomatik mehr als 6 Monate besteht sowie mehrere Lebensbereiche betrifft. Ebenso müssen Angaben vorliegen, dass ADHS im Kindesalter diagnostiziert wurde oder zumindest vorlag. Ist dies nicht der Fall, kann nur eine Verdachtsdiagnose gestellt werden. Der sog. `Diagnostische Entscheidungsbaum für HKS nach ICD-10 und ADHS nach DSM-5´ (Anhang A1) kann helfen, zu überprüfen, ob Symptome von Hyperaktivität, Impulsivität und / oder Unaufmerksamkeit die Kriterien von ICD-10 oder DSM-5 erfüllen (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., 2017). Nicht im sog. Entscheidungsbaum enthalten ist die Differentialdiagnose des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms ohne Hyperaktivität, das mit ADS bezeichnet wird (Stieglitz et al., 2012).

2.4 Wender-Utah-Kriterien

Die Wender-Utah-Kriterien wurden speziell für das Erwachsenenalter der ADHS entwickelt und beziehen dabei explizit das subjektive Empfinden der Patienten mit ein (Wender, 1998). Sie beinhalten folgende Kriterien (Philipsen, Hesslinger & van Tebartz Elst, 2008, S.311–317):

1. Aufmerksamkeitsstörung bei fehlender Stimulation
2. Hyperaktivität (z.B. Gefühl `innerer Unruhe`/ `Nervosität`)
3. Affektlabilität
4. Desorganisiertes Verhalten
5. Gestörte Affektkontrolle
6. Impulsivität
7. Emotionale Überreagibilität.

Die Diagnose wird nach den Utah-Kriterien gestellt, wenn 1. und 2. plus zwei Kriterien aus 3. bis 7. erfüllt sind (Philipsen et al., 2008).

2.5 Diagnose der adulten ADHS nach ICD-11 in der Zukunft

In der von der Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai 2019 verabschiedeten Version ICD-11 hat ADHS den Begriff hyperkinetische Störung (HKS) ersetzt und wird zu den neurologischen Entwicklungsstörungen gezählt, mit den charakteristischen Störungen der intellektuellen, motorischen und sozialen Funktionen (Reed et al., 2019); die Kriterien sind somit den DSM-5-Kriterien sehr ähnlich, allerdings nicht so deutlich operationalisiert.

Der konkrete Zeitpunkt einer Einführung der ICD-11 in Deutschland ist noch nicht absehbar (“ICD-11,” 2021).

2.6 Diagnostischer Ansatz: RDoC-Initiative (Research Domain Criteria)

Die bisher aufgeführten diagnostischen Klassifizierungssysteme stützen sich auf die klinische Phänomenologie von Symptomen. Um die jüngsten Fortschritte in den Neurowissenschaften zu nutzen, hat das Nationale Institut für psychische Gesundheit (NIMH) das Research Domain Criteria-Projekt (RDoC) ins Leben gerufen, dem als Grundlage die Neurowissenschaften dienen (Akram & Giordano, 2017). Die RDoC-Initiative hat das Bestreben, die psychische Erkrankung ADHS im Erwachsenenalter nicht ausschließlich als psychiatrische, sondern vielmehr als psychopathologische Erkrankung einzuordnen, indem ADHS als mutmaßliche Funktionsstörung in neuronalen Netzwerken des Gehirns definiert wird.

Dem Klassifikationssystem DSM-5 wird der Vorwurf gemacht, sich ausschließlich auf einzelne Symptome zu konzentrieren. Das RDoC-Modell beansprucht für sich, die Diagnostik von ADHS verbessern zu können, indem es sich auf die Suche nach Biomarkern für ADHS begibt (Koziol, Budding & Chidekel, 2013). Der Ansatz dieses Modells ist es, die Interaktion zwischen mit ADHS verbundenen Verhaltensweisen und den auftretenden Besonderheiten des Gehirns zu veranschaulichen. Neue neuropsychologische Tests sollen kritische, grundlegende Verhaltenskomponenten messen, die mit dem frontoparietalen Netzwerk, dem dorsalen und ventralen Aufmerksamkeitsnetzwerk, dem visuellen Netzwerk, dem limbischen Netzwerk und dem sensomotorischen Netzwerk in Verbindung stehen (Koziol et al., 2013).

Bis jetzt hat sich dieser neue Ansatz noch nicht im klinischen Alltag etablieren können, da erst ethische Fragen geklärt werden müssen, welche Kriterien als abnormes Verhalten definiert werden können, und ob eventuell die Gefahr besteht, dass Biomarker falsch verwendet werden (Akram & Giordano, 2017).

3 Methodisches Vorgehen

Vorliegende Arbeit hat zum Ziel, eine Übersicht über die aktuellen Diagnoseverfahren für ADHS im Erwachsenenalter zu geben. Die jeweiligen Einsatzmöglichkeiten und Schwerpunkte werden beschrieben, die Verfahren hinsichtlich ihrer Gütekriterien bewertet, mögliche Limitationen dargestellt und nach Möglichkeit Beispielitems angeführt. Um die Verfahren mit dem aktuellen Forschungsstand abzugleichen, wurden für die Recherche die Forschungsdatenbanken EBSCO – PsycINFO, Google Scholar sowie Monographien zur Thematik verwendet. Über die Internetseite https://www.zentrales-adhs-netz.de/ wurde die interdisziplinäre evidenz- und konsensbasierte (S3) Leitlinie `Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter´ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., 2017) mit einbezogen. Zusätzlich bestand über die derzeitige Arbeit in einer Psychotherapiepraxis Zugang zu Testverfahren über die Hogrefe Testzentrale sowie zu ergänzender Literatur. Die Auswahl geeigneter Studien erfolgte anhand von Schlüsselwörtern wie `ADHS bei Erwachsenen/ im Erwachsenenalter´, `attention deficit-hyperactivity disorder´, `validation´, diagnostic process´, `accuracy´, `diagnostic `sensitivity and specificity´, `evaluating´, evidence´.

4 Diagnoseverfahren – multimodal

Im folgenden Kapitel werden zunächst die wichtigsten deutschsprachigen Selbstbeurteilungs-Screeningverfahren, Selbstbeurteilungs-Fragebögen, für das klinische Urteil Fremdbeurteilung durch eine Diagnosecheckliste und strukturierte halbstandardisierte Interviews vorgestellt. Es wird eine Übersicht über verfügbare Testbatterien gegeben sowie Testverfahren der Neurodiagnostik angeführt.

4.1 Selbsturteil

Im Gegensatz zu ADHS im Kindesalter spielen in der Diagnostizierung von adulter ADHS Erwartungen Dritter, wie Eltern oder Lehrer, weniger eine Rolle, sodass der Patient im Selbsturteil unbefangener darlegen kann, ob und in welchem Ausmaß ADHS-Symptomatik besteht. Im Screeningverfahren als sog. Schnelltest kann zunächst ökonomisch eine erste Verdachtsdiagnose erfasst werden, es ersetzt aber keine Diagnose, sondern leitet diese nur ein (Wirtz, 2020).

4.1.1 ADHS-SB

Die ADHS-Selbstbeurteilungsskala (ADHS-SB) bezieht sich auf die ICD-10-Forschungskriterien und die DSM IV-Kriterien. Sie erfasst mittels 22 Items relevante Symptome in der Schwere ihrer Ausprägung anhand einer gewichteten Skala von 0 (nicht vorhanden) über 1 (leicht) und 2 (mittel) bis 3 (schwer), wobei ab 1 (leicht) ein Merkmal schon als vorhanden zählt. Da die Kriterien sich ursprünglich auf Kinder bezogen, wurden Items mit für Kinder typische Lebenssituationen - wie beispielsweise Spielsachen oder Schule - eliminiert bzw. modifiziert. Die ersten 18 Items beziehen sich auf die Trias Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität; vier weitere Items wurden hinzugefügt und erfragen das Alter des Störungsbeginns, betroffene Lebensbereiche, Leidensdruck sowie symptomverursachte soziale Probleme. Für eine ADHS-Diagnose nach ICD-10 müssen im Bereich Aufmerksamkeit sechs Merkmale und im Bereich Hyperaktivität drei, im Bereich Impulsivität nur ein Merkmal erfüllt sein. Nach DSM-IV müssen für die Diagnose des kombinierten Typs der ADHS mindestens sechs Merkmale beim Bereich Aufmerksamkeit und sechs Merkmale in den beiden Bereichen Hyperaktivität und Impulsivität erfüllt sein (Falkai, P., Wittchen, H.-U., Döpfner, M., Gaebel, W., Maier, W., Rief, W., Saß, H. & Zaudig, M., 2014).

Güte (Philipp-Wiegmann, Zinnow, Retz, Rösler, & Retz-Junginger, 2017): Gute Ergebnisse in Validität und Reliabiltät liegen vor, Korrelationen mit CAARS ergeben einen Bereich zwischen r = .72 und r = .79, für das WRI r = .52 (Unaufmerksamkeit), r = .70 (Hyperaktivität) und r = .57 (Impulsivität). Die Retestreliabilität ergibt in der Gesamtskala r = .80, die innere Kosistenz liegt mit Cronbachs α = .90 sehr hoch. Auch die Anwendung des Verfahrens bei Senioren hat sich als empfehlenswert erwiesen (Philipp-Wiegmann et al., 2017). Ebenso ist die ADHS-SB ein geeignetes Instrument für das Routine-Screening von ADHS bei alkoholabhängigen Patienten; um die Empfindlichkeit zu verbessern, sollte allerdings ein niedrigerer Grenzwert (≥ 15) angewendet werden (Luderer et al., 2019). Durch die Graduierung der Symptome auf einer Skala von 0 bis 3 ist eine Verwendung zur Verlaufsdokumentation und therapeutischen Interventionen möglich.

Limitation: Bezug auf DSM-IV, noch nicht auf DSM-5.

Beispielitems: Siehe Anhang A2.

4.1.2 ASRS-v1.1-Screener und ASRS-v1.1 erweiterte Symptom-Checkliste

Der ADHS Self-Report Scale v1.1 Screener wurde als ein Screening-Instrument mit lediglich sechs Items von der WHO zugelassen und aus dem ASRS-v1.1 mit 18 Items extrahiert (Kessler et al., 2005). Mit den kurzen ASRS-v1.1 Screening-Verfahren wird die Wahrscheinlichkeit einer vorliegenden ADHS angegeben, mit dem ASRS-v1.1 als erweiterter Symptom-Checkliste wird auch die Schwere der Symptome auf einer Likert-Skale (0 = nie bis 4 = sehr oft) erfasst, die je nach Antwort-Auswertung zu weiteren Nachuntersuchungen führt.

Güte ASRS-v1.1-Screener: Er erweist sich in einer Studie (n = 637) mit einer Sensitivität von 91,4% und Spezifität von 96,0% als optimal, um Fälle von Nichtfällen zu unterscheiden (Ustun et al., 2017). Das Verfahren bietet außerdem in einer Studie mit n = 104 Personen ohne ADHS-Symptomatik eine hohe Retest-Reliabilität (Silverstein, Alperin, Faraone, Kessler & Adler, 2018). Der kurze ASRS-Screener schneidet in einer aktuellen Evaluation (n = 1554) genauso gut ab wie der vollständige ASRS ( (Brevik, Lundervold, Haavik, & Posserud, 2020). Das Verfahren zeigt auch bei Jugendlichen (n = 2472) eine hohe interne Konsistenz, eine Anwendung des Verfahrens wird somit auch in diesem Altersbereich unterstützt (Green et al., 2019).

Güte ASRS-v1.1 erweiterte Symptom-Checkliste: Sie zeigt eine hohe interne Konsistenz (Cronbachs α = .88) und eine hohe Validität (Adler et al., 2006). In einer aktuellen Evaluation (n = 1554) weist sie ebenfalls eine hohe diagnostische Genauigkeit auf (Brevik et al., 2020).

Limitation: Bezug auf DSM-IV, noch nicht auf DSM-5. In einer aktuellen Evaluation weist WURS noch bessere diskriminative Eigenschaften auf als die ASRS-v1.1 erweiterte Symptom-Checkliste und der ASRS-v1.1-Screener (Brevik et al., 2020).

Beispiel: Anhang A3, Anhang A4.

4.1.3 ADHS-E und ADHS-LE

Bei dem ADHS-Screening für Erwachsene ADHS-E handelt es sich um ein Selbstbeurteilungsfragebogen in Kurzform mit 25 Items, bei ADHS-LE in Langform mit 67 Items. Beide Fragebögen erfassen Symptome, die in einem Gesamtwert zusammengefasst werden, zu Affekt und Emotion, Stresstoleranz, Aufmerksamkeitssteuerung, Impulskontrolle und Disinhibition, Überaktivität und Unruhe (Schmidt & Petermann, 2011). Die Items der Kurzform entsprechen dem ADHS-SB (siehe Kapitel 4.1.1). In der längeren Version (ADHS-LE) werden zusätzlich ADHS-Symptome in der Kindheit abgefragt.

Güte (Schmidt & Petermann, 2011): Die Items der Langfassung zeigen eine gute Korrelation mit der Wender-Utah-Rating-Scale (WURS-k). Sensitivität und Spezifität betragen 91% bzw. 87% für ADHS-E und 95% bzw. 83% für ADHS-LE jeweils bei einem t-score von 61. Die Normierung der ADHS-E wurde im Jahr 2017 auf das Jugendalter ausgeweitet, um der Veränderung des Erscheinungsbilds der ADHS im Laufe der Entwicklung gerecht zu werden (Schmidt et al., 2017).

Limitation: Bezug auf DSM-IV, noch nicht auf DSM-5. In Item 11 der Kurzform bzw. Item 25 der Langform wird abgefragt, ob eine Unfähigkeit vorliegt, sein Leben zu strukturieren: `In stressigen Momenten bewahre ich in der Regel einen kühlen Kopf.´ Schmidt und Petermann (2011) bemängeln, dass Betroffene gerade in stressigen Situationen oftmals von Hyperfokus berichten; außerdem wird grundsätzlich in Frage gestellt, ob eine weiteres Manual zur Erfassung der ADHS notwendig ist, nachdem in Deutschland bereits die Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene als erprobte Fragebögen existieren (Schmidt & Petermann, 2011).

4.1.4 CAARS-S

Den Conners' Adult ADHD Rating Scales-Selbstbericht CAARS-S gibt es in drei Versionen, einer Kurz-, Lang- und einer Screening-Version. In jeder Version liegt neben der Selbst- auch eine Fremdbeurteilungsform vor. Die Screening-Version (30-Items) erfasst die spezifischen DSM-IV-Kriterien, die Kurz-Version (26 Items) sowie die Langversion (66 Items) beziehen sich dagegen auf ein breiteres psychopathologisches Spektrum: Neben den drei Subskalen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität auch auf die Subskala Selbstkonzeptprobleme. Die Fragen werden auf einer 4-stufigen Likert-Skala (0= überhaupt nicht, nie; 1 = ein wenig, manchmal; 2 = stark, häufig; 3 = sehr stark, sehr häufig) beantwortet. Die Bearbeitungszeit beträgt je nach Subskala zwischen 10 und 30 Minuten.

[...]

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Diagnostisches Verfahren zur Erfassung von ADHS im Erwachsenenalter
Untertitel
Ein Überblick
Hochschule
Private Fachhochschule Göttingen
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
34
Katalognummer
V1038346
ISBN (eBook)
9783346459732
ISBN (Buch)
9783346459749
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ADHS im Erwachsenenalter Diagnostik Verfahren Überblick
Arbeit zitieren
Almut Hauser (Autor:in), 2021, Diagnostisches Verfahren zur Erfassung von ADHS im Erwachsenenalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1038346

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