Überleben in der NS-Euthanasie. Die Königlich Sächsische Pflegeheilanstalt Großschweidnitz


Bachelorarbeit, 2018

63 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Motivation und Kernthesen
1.2 Forschungsstand

2. Ideologische und gesetzliche Grundlagen der Euthanasie
2.1 Eugenik in der Psychiatrie
2.2 Die NS-Gesetze zur „Rassenhygiene“
2.3 Ideengeber der „Euthanasie“
2.4 Die „Euthanasie“-Ermächtigung und ihre Umsetzung

3. Die Königlich Sächsische Pflegeheilanstalt Großschweidnitz
3.1 Die Anstalt bis zum Ende der Weimarer Republik
3.2 Die Anstalt nach der NS- „Machtergreifung“ - auf dem Weg in die Euthanasie
3.3 Die Anstalt als Zwischenstation zur Ermordung auf dem Sonnenstein
3.4 Die Anstalt in der Phase der „Wilden Euthanasie“

4. Überleben in der NS- Euthanasie - Auswertung der 29 Krankenakten
4.1 Datensatz, Methodik und Thesen
4.2 Auswertung
4.2.1 Die Sonderstellung der Arbeitsfähigkeit
4.2.2 Der Meldebogen und das Merkblatt von 1941 als Kriterium der „wilden Euthanasie“?
4.2.3 Weiche Faktoren
4.3 Beispiellebensläufe
4.3.1 Gerdrud A. - 30 Jahre Großschweidnitz
4.3.2 Elfriede W. - „stiehlt wo sie kann den anderen Kindern das Essen weg“

5. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

A1: Beispiel eines Meldebogens der T4- Zentrale von 1941

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Karte Sachsens mit den fünf wichtigsten Pflegeheilanstalten

Abbildung 2: Verteilung d. Euthanasieopfer in Großschweidnitz nach regionaler Herkunft .

Abbildung 3: Verteilung der überwiegenden Konnotation bezüglich des Arbeitseinsatzes der Patienten

Abbildung 4: regionale Verteilung der Patienten nach letztem Wohnort vor der Einweisung in Psychiatrie

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Anzahl der ankommenden Sammeltransporte und Patienten in Großschweidnitz zwischen 1940 und 1944

Tabelle 2: Anzahl der Todesfälle in der Anstalt Großschweidnitz zwischen 1940 und 1944. 25 Tabelle 3: Gegenüberstellung der Verteilung der Arbeitsbereiche nach Rotzoll im Vgl. mit der Großschweidnitzer Stichprobe

Tabelle 4: prozentuale Verteilung der Krankheiten bei den Opfern (nach Hanzig) und Überlebenden in Großschweidnitz

1. Einleitung

1.1 Motivation und Kernthesen

Am 27. Januar 2017 erinnerte der Deutsche Bundestag anlässlich des 75. Jahrestags der Wannsee-Konferenz an die Verbrechen der NS- „Euthanasie“. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnete die Gedenkveranstaltung und sagte:

„Wir gedenken in diesem Jahr besonders der Kranken, Hilflosen und aus Sicht der NS-Machthaber „Lebensunwerten“, die im sogenannten „Euthanasie“-Programm ermordet wurden: 300.000 Menschen, die meisten zuvor zwangssterilisiert und auf andere Weise gequält.“1

Die weiteren Redner waren ausnahmslos Verwandte von Opfern, die aus dem tragischen Leben ihrer ermordeten Angehörigen berichteten.

Jedoch kaum Erwähnung fanden all jene, die in diesen Zeiten überlebten, als psychisch krank stigmatisiert, herab gewürdigt und als „lebensunwert“ eingestuft wurden. Auch in der Wissenschaft und der Aufarbeitung dieser Verbrechen lag der Fokus bisher besonders auf Personen, die durch die Euthanasie im Dritten Reich ihr Leben verloren. Es ist in gewissem Maße nachvollziehbar, dass die extremen Ausprägungen, wie die Morde, eine größere Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Aufarbeitung erhalten. Die Lebensumstände der Überlebenden sind dabei allerdings noch weitestgehend unerforscht. Einen kleinen Beitrag dies zu ändern, soll diese Bachelorarbeit leisten.

Als Beispiel dafür soll die Pflegeheilanstalt in Großschweidnitz im Osten Sachsens dienen. Etwa 4.500 Patienten verloren hier zwischen 1940 und 1945 ihr Leben. Die Krankenakten all jener sind in den vergangenen Jahren erschlossen worden und es ist nun bekannt, wer die Opfer waren. Die Überlebenden hingegen sind bisher kaum erforscht oder systematisiert. Es ist lässt sich nicht einmal genau beziffern, von wie vielen Personen man hier spricht.

Ziel der Arbeit ist es mithilfe einer Stichprobe Erkenntnisse über das Überleben in der NS- Euthanasie in Großschweidnitz zu sammeln. Zeitlich soll dabei die Phase der „wilden Euthanasie“ betrachtet werden, die sich zwischen 1943 und 1945 abspielte. Dafür wurden 29 Akten ausgewertet und statistisch nach unterschiedlichen Kriterien erfasst. Die betrachtete

Stichprobe kann dabei aufgrund des vertretbaren Aufwands jedoch nicht als repräsentativ gelten.

Die erste These, die untersucht wird, besagt, dass die Arbeitsfähigkeit der Patienten eine Schlüsselposition in der Entscheidung über Leben und Tod einnahm. Im Meldebogen der „Aktion T4“, deren Kriterien auch für die Ärzte während der wilden Euthanasie offiziell galten (vgl. Abschnitt 2.4), wurde diese sehr ausführlich erfragt, was auf eine besondere Bedeutung hinweist. Dazu sollen die Krankenakten der Patienten Auskunft geben. Zusätzlich soll betrachtet werden, inwieweit die Akte auf eine Sonderrolle der Arbeit hinweist und wie viele der Patienten überhaupt als arbeitsfähig gelten können.

Die zweite These besagt, dass auch die restlichen Kriterien des T4-Meldebogens für das Überleben der Patienten von Bedeutung waren. Hier seien beispielhaft die Erbbelastung des Patienten oder die konkrete Krankheit genannt.

Die dritte und letzte These dieser Arbeit besagt, dass auch weiche Faktoren, wie das Verhalten der Patienten oder der mit ihnen verbundene Arbeitsaufwand eine Rolle spielten. Diese Faktoren wurden nicht im Meldebogen erfasst, aber in den Patientenakten regelmäßig erwähnt. Auch die Aussagen während des Prozesses gegen die sächsischen Euthanasieverbrecher weisen in diese Richtung.

Abschließend soll so ein Bild des prototypischen Überlebenden der NS-Euthanasie entstehen. Dabei werden die untersuchten Thesen im Mittelpunkt stehen und Auskunft darüber geben, welche Trends als starke Indikatoren für das Überleben in der NS-Euthanasie gelten und welche Punkte noch weiterer Forschung bedürfen.

Im ersten Schritt soll hergeleitet werden, wie es überhaupt zu den Euthanasieverbrechen kommen konnte. Dabei soll die Anwendung eugenischer Ideen in der Psychiatrie im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert dargestellt werden. Daraufhin sollen die Werke der deutschen Vordenker zur Euthanasie kurz betrachtet werden. Auch wenn eugenische Ideen und Euthanasiekonzepte in der globalen Wissenschaft Anklang fanden, so wird der Schwerpunkt auf deutschen Wissenschaftlern liegen, weil diese zum Teil konkreten Einfluss auf die spätere nationalsozialistische Gesetzgebung hatten.

Im Kapitel 2.2 bis 2.4 wird die konkrete Umsetzung der Rassenhygiene im Nationalsozialismus vorgestellt. Was mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ 1933 begann, mündete schließlich in den Morden an den psychisch Kranken in der Euthanasie ab 1941. Dabei sollen die konkreten Maßnahmen der Nationalsozialisten mit einem Fokus auf die zwei Phasen der Euthanasie beleuchtet werden.

Im dritten Kapitel soll dann die Pflegeheilanstalt Großschweidnitz Beachtung finden. Warum wurde sie gegründet? Wie entwickelte sie sich bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten? Wie wirkte sich diese auf die Anstalt aus? Und schließlich: Wie beteiligte sie sich an den Euthanasieverbrechen?

Das Kapitel 4.1 stellt die Stichprobe, die Methodik und die Kernthesen genauer vor. In der darauffolgenden Auswertung findet dann die Prüfung der aufgestellten Thesen und Subthesen statt. Dazu wurden die Krankenakten der Stichprobe zu den potentiellen Schlüsselpunkten statistisch untersucht und in Folge dessen sollen Trends abgeleitet und Erkenntnisse zum Thema aber auch zu potentiellen Anhaltspunkten für die weitere Erforschung gewonnen werden.

Da diese Arbeit das Schicksal von 29 konkreten Personen als Grundlage hat, sollen zwei dieser Personen im Kapitel 4.3 kurz vorgestellt werden. Die erste ist Gertrud A., die wegen Schizophrenie mehr als 30 Jahre in der Anstalt Großschweidnitz verbrachte und dabei alle Diskriminierungen des Nationalsozialismus miterlebte. Ihre Lebensgeschichte entspricht vielen Beobachtungen dieser Arbeit und kann zur Untermauerung einiger Thesen dieser Arbeit genutzt werden. Dem gegenüber steht Elfriede W., die als Kind wegen angeborenen Schwachsinns nach Großschweidnitz kam. Ihre Krankengeschichte soll dazu dienen die Grenzen der Argumentation aufzuzeigen.

Abschließend soll dargelegt werden, an welche Grenzen diese Arbeit stieß und welche offenen Fragen Anlass zu weiteren Forschungsarbeiten geben. Außerdem versucht sie sich in einer zusammenfassenden Bewertung, welche Trends und Thesen dieser Arbeit als aussagekräftig gelten können und welche Thesen zwar Bestand haben, aber statistisch keinen eindeutigen Trend aufweisen.

1.2 Forschungsstand

Die Forschung zur NS-Euthanasie begann sich zu Beginn der 80er Jahre zu intensivieren. Anstoß dafür gab Ernst Klees Buch „“‘Euthanasie‘ im Dritten Reich - Die Vernichtung ,lebensunwerten Lebens‘“, welches 1983 erschien. Dafür sichtete er als erster intensiv Archivmaterial, welches sich mit der Tätigkeit der Aktion T4 auseinandersetzte. In der Folge erschienen weitere Abhandlungen, die versuchten einen weiteren Blickwinkel in die Thematik einzubringen. Beispielhaft genannt seien hier „Medizin unterm Hakenkreuz“ von Achim Thom und Genadij Caregorodeev aus dem Jahr 1989 oder „Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit“, welches 1991 von Norbert Frei herausgegeben wurde.

Schon kurz darauf begannen die ersten Forschungen zu regionalisierten Erscheinungen der Euthanasie. Im regionalen Kontext Sachsens sei hier die Eröffnung der Gedenkstätte in Pirna­Sonnenstein 1995 genannt, mit der eine intensive Auseinandersetzung der Krankenmorde in der Stadt einherging und deren Leiter Boris Böhm seither zahlreiche Publikationen verantwortet.2 Mit Bezug auf die Arbeit ist besonders die 1994 erschienene Dissertation Holm Krumpolts „Die Auswirkung der nationalsozialistischen Psychiatriepolitik auf die sächsische Landesheilanstalt Großschweidnitz“ hervorzuheben. Er schlüsselt sehr konkret auf, wie sich die Anstalt noch in der Weimarer Republik entwickelte und wie genau die Krankenmorde von Großschweidnitzer Patienten organisiert wurde.

Im neuen Jahrtausend setzte sich der Trend zur Regionalisierung und Spezifizierung der Forschung dann fort. So fragte zum Beispiel Götz Aly 2013 in seinem Buch „Die Belasteten - ,Euthanasie‘ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte“, wie es passieren konnte, dass besonders die Angehörigen obwohl sie klare Hinweise auf die Morde hatten, nichts dagegen unternahmen. In Großschweidnitz gründete sich 2012 der Verein „Gedenkstätte Großschweidnitz e.V“, der das ehemalige Anstaltsgelände zu einem Gedenkort machen möchte.3 Im Rahmen dieses Projekts gaben Maria Fiebrandt und Dietmar Schulze 2016 den Sammelband „‘Euthanasie‘ in Großschweidnitz- regionalisierter Krankenmord in Sachsen 1940- 1945“ heraus.

Im konkreten Kontext der Frage nach dem Überleben in der NS- Euthanasie wurden bisher nur Teilaspekte untersucht. Maike Rotzoll untersuchte in ihrem Aufsatz „Rhythmus des Lebens - Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus“ die Frage nach der Arbeitstherapie und verglich hierbei den Arbeitseinsatz von Überlebenden mit dem von ermordeten Patienten. Dies wird eine wichtige Vergleichsbasis für das Kapitel über den Wert der Arbeit der Überlebenden sein. Mit Bezug auf Großschweidnitz untersuchten lediglich Hagen Markwardt und Dietmar Schulze im erwähnten Sammelband den Treck von Überlebenden, der die Anstalt am 7. Mai 1945 verlies.

Die Opfer der NS-Euthanasie sind hingegen sehr gut erforscht. Seit 2017 gibt es ein Totenbuch und Christoph Hanzig begann mit seinem Artikel „‘Th: Isolierung, Luminal, Kostveränderung‘- Ergebnisse einer Probeerfassung von 570 Patientenakten der Landesanstalt Großschweidnitz“ eine statistische Auswertung der Opfer, die für Gegenüberstellungen mit den Ergebnissen dieser Arbeit sehr wichtig ist.

Allgemeine Abhandlungen zu dem Überleben von Patienten existieren aber noch nicht. Diese Arbeit versucht daher Trends zu erkennen und Forschungsanstöße zu geben, die in Zukunft zur weiteren Erschließung der Euthanasieverbrechen und dem Anstaltsalltag im Nationalsozialismus beitragen können.

2. Ideologische und gesetzliche Grundlagen der Euthanasie

In Folge von Darwins Entdeckungen zur Evolution und der Erforschung der Vererbungslehre durch Gregor Mendel verbreitete sich in der Wissenschaft die Panik, dass die Menschheit vor dem kulturellen, körperlichen und geistigen Niedergang steht.4 Verantwortlich dafür machte man potentiell „minderwertige“ Gene, wie bspw. die von körperlich behinderten Menschen oder Alkoholikern, aber auch von psychisch Kranken. Es entwickelte sich eine Wissenschaft, die erforschte, wie man die Verbreitung dieser Gene stoppen konnte und die das Erbgut der Menschheit langfristig verbessern wollte. Diese Wissenschaft wurde Eugenik oder Rassenhygiene genannt.

2.1 Eugenik in der Psychiatrie

Um 1860 unterschied die Psychiatrie melancholische und manische Erkrankungen. Melancholie umfasste dabei Symptome wie Halluzinationen und Beeinträchtigungswahn. Unter Manie begriff die Wissenschaft unter anderem Tobsucht und Wahnsinn.5 Man unterschied dabei je nach Schwere der Erkrankung partielle Verrücktheit, allgemeines Verrücktsein und apathischen Blödsinn.6 In den folgenden Jahrzenten war die Wissenschaft hier wenig innovativ und es gab nur vereinzelt Ansätze auf Umgruppierungen und Umbenennungen.7 Der wohl bedeutendste Pfad waren die Lehrbücher von Emil Kraeplin (1856-1926) aus den Jahren 1893 und 1909.8 Er unterscheidet darin unter anderem zwischen Paranoia, die man mit Verrücktheit gleichsetzte, und der dementia praecox (wörtlich übersetzt: vorzeitige Demenz).9 Dies umfasste unter dem heutigen Begriffsverständnis Krankheiten mit paranoiden, katatonischen und hebephrenen10 Formen.11 Fatal an Kraeplins Einteilung war, dass er die dementia praecox, einige Jahre später Schizophrenie genannt, als unheilbar klassifizierte und sie, seiner Diagnose zufolge, zwangsläufig zur kompletten Verblödung der Patienten führte. Allgemein wären Geisteskrankheiten die Folge von schlechter Vererbung und Degeneration.12 Er befand sich damit in der Tradition des französischen Psychiaters Augustin Morel, der schon 1857 Patienten von Geisteskrankheiten als „Entartete“13 bezeichnete. Laut Kraeplin führten drei Faktoren besonders zu Geisteskrankheiten: Alkoholmissbrauch, erbliche Belastung und Syphilis.14 Auch in der restlichen psychiatrischen Wissenschaft um 1900 war man sich über die Erblichkeit dieser Erkrankungen einig. Da aber auch Gegenbeispiele bekannt waren, gestand man ein, dass eine erbliche Belastung nicht zwangsläufig zu einer psychischen Erkrankung führen müsse. Als Richtwert gab man den Genen einen 50%-Anteil an psychischen Krankheiten.15 Mit diesen Lehren wurde eine ganze Generation angehender Psychiater unterrichtet.

Intensiviert wurde der Diskurs über die Vererbung von psychischen Erkrankungen in den 1920er Jahren. Angetrieben von der allgemeinen Debatte über die Rassenhygiene und dem Schutz des eigenen Erbgutes in der Gesellschaft, forschte auch die Psychiatrie in diese Richtung.

Am langfristig bedeutendsten war dabei eine Studie, die 1928 über die Erblichkeit von Schizophrenie verfasst wurde. Als Grundlage diente hier die Zwillingsforschung an ein- und zweieiigen Zwillingen. Es wurde festgestellt, dass bei eineiigen Zwillingen die Wahrscheinlichkeit bei 80% läge, dass wenn ein Kind an Schizophrenie leidet, auch das andere erkrankt.16 Bei gleichen Genen wäre die Schlussfolgerung also, dass diese auch entscheidenden Anteil an der Erkrankung haben. Diese Studie wurde von den Nationalsozialisten direkt als Begründung zur Sterilisation genutzt. Spätere Studien der 60er Jahre widerlegten diesen massiven Anteil der Gene an einer Schizophrenie. Heute gilt sie als multifaktorielle Erkrankung, bei der man höchstens von einer erblichen Belastung spricht.17 Auch bei manischer Depression und angeborenem Schwachsinn nahm man eine hohe Erblichkeit an, wobei auch hier die moderne Psychiatrie von multifaktoriellen Leiden ausgeht. Hinzu kommt, dass diese Krankheitsbeschreibungen höchst unscharf waren: „Im Wesentlichen enthielten sie Beschreibungen der ,Abweichung vom Normalen‘ und waren mit sozialen Werturteilen angereichert.“18

Es gab allerdings auch Fälle, in denen die Forscher schon früh auf die heute als wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse trafen. Bei der Nervenkrankheit Chorea Huntington war schon in den 1870ern bekannt, dass diese sich gemäß der mendelschen Gesetze vererbte.19 Schon damals verzichteten deshalb die allermeisten Erkrankten auf Kinder. Auch bei Taubheit und Blindheit erkannte man korrekterweise, dass hier eine Erbbelastung vorliegt. Abschließend kann festgestellt werden, dass die Vermengung von Wissenschaft mit Meinung und Gesellschaftspolitik zu einer ethisch fatalen Mischung führen kann, wie das nachfolgende Kapitel zeigt.

2.2 Die NS-Gesetze zur „Rassenhygiene“

Als die NSDAP die Kontrolle über die Reichsregierung übernahm, waren eugenische Ideen bereits tief in Gesellschaft und Wissenschaft verankert. Dementsprechend einfach war es für die neuen Machthabenden, ihr erstes Gesetz zur Rassenhygiene zu verabschieden. Genannt wurde es „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und es regelte die Zwangssterilisation von psychisch Erkrankten. Darin wurde beschlossen, „[dass eine Person, die] erbkrank ist, [...] durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden [kann], wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden“20.

Erbkrank im Sinne des Gesetzes war, wer an angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manischer Depression/manischem Irresein, erblicher Fallsucht, Huntingtonscher Chorea, erblicher Blind- oder Taubheit oder schwerer körperliche Missbildung litt.21 Auch schwere Alkoholiker durften sterilisiert werden.22

Antragsberechtigt war offiziell der Patient. War dieser, wie in den meisten Fällen, unmündig, lag dieses Recht bei einem Vormund. In der Regel war dies ein Arzt oder ein Pfleger in der Heilanstalt des Erkrankten oder ein Angehöriger. Die Entscheidung ob eine Unfruchtbarmachung vorzunehmen war, oblag eigens geschaffenen Erbgesundheitsgerichten, die an die jeweiligen Amtsgerichte angegliedert waren.23 Neben einem Richter waren auch immer zwei Ärzte an den Entscheidungen beteiligt, wobei diese in der Regel einem Gutachten des Gesundheitsamtes folgten.24 Patienten, die noch juristisch mündig waren oder einen Vormund aus der Familie hatten, konnten Einspruch gegen das Urteil erheben, was zu einer Neuverhandlung vor dem Erbgesundheitsobergericht führte, das Teil der Oberlandesgerichte war.25 War das Urteil rechtskräftig, konnte die Sterilisation auch gegen den Widerstand des Patienten erfolgen.26

In der Praxis erfolgten mehr als 80% aller Zwangssterilisationen an Patienten mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ oder Schizophrenie.27 Die uneindeutige Bedeutung dieser Sammelbegriffe wurde im vorherigen Kapitel bereits erläutert.

Insgesamt wurden ab dem 1. Januar 1934, als das Gesetz final in Kraft trat, bis 1945 etwa 360.000 Menschen unter Zwang sterilisiert.28 Mehr als 80% der Eingriffe fanden dabei bis zum Jahr 1939 statt.29 Auch wenn Sterilisationen ebenso in anderen Ländern stattfanden, so ist deren schiere Menge und der damit verbundene Organisationsgrad im Deutschen Reich unerreicht. Zur Verdeutlichung: insgesamt wurden zwischen 1934 und 1945 14 Mal so viele Menschen sterilisiert, wie in den USA, welche etwa doppelt so viele Einwohner zählte.30

Etwa 5000 Menschen starben in Folge der Sterilisation. Der Großteil der Opfer waren Frauen, da der Eingriff bei ihnen um ein Vielfaches komplexer war als bei Männern31. Hinzukommt eine hohe Dunkelziffer von Personen, die sich in Folge der psychischen Konsequenzen der Operation das Leben nahmen.32

Bald schon wurden unter dem Zeichen der Rassenhygiene nicht mehr nur Kranke diskriminiert, sondern es gab auch einen rassistischen Einschlag. Im September 1935 verabschiedete der Reichstag die Nürnberger Gesetze, die Juden die Ehe mit Nicht-Juden verbot und sie auch in Kleinigkeiten, wie mit dem Verbot die deutsche Flagge zu hissen, schikanierte. Ähnliche Gesetze gab es für die Sinti und Roma, ebenso unter dem Aspekt der Rassenhygiene.33

Ab 1935 mussten Ehepartner vor der Hochzeit eine Gesundheitsprüfung erdulden. Fiel hierbei eine vermeintlich erbliche Erkrankung auf, durfte der Bund der Ehe nicht geschlossen werden.34

2.3 Ideengeber der „Euthanasie“

Unter dem Begriff „Euthanasie“ versteht man aus dem Griechischen wörtlich übersetzt den „richtigen“ oder „guten Tod“. Oft wird und wurde das Wort synonym mit dem Begriff der Sterbehilfe genutzt. Überlegungen zur Sterbehilfe fanden im Rahmen der Eugenik erste Aufmerksamkeit und erhielten besonders im Deutschen Reich schon bald eine Wendung, die über die Idee eines freiwilligen Sterbens hinaus gehen sollte35.

Die wichtigsten Publikationen in dieser Richtung waren „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Karl Binding und Alfred Hoche aus dem Jahr 1920 sowie der „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene von Erwin Baur (Botaniker), Eugen Fischer (Rassenforscher) und Fritz Lenz (Arzt) aus dem Jahr 1921.

Binding und Hoche setzen sich zuerst mit den rechtlichen Grundlagen und Schwierigkeiten bei Selbstmord auseinander, um dann zu schließen, dass die Euthanasie an „lebensunwertem Leben [...] keine besondere Freigabe erfordert“36. Wiederholt wird die Frage aufgeworfen, ob es „Existenzen gibt, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, dass ihre Fortdauer für den Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd jeden Wert verloren hat“37. Über die Antwort darauf könne „nach kühl rechnender Logik kaum ein Zweifel obwalten“38. Zum einen böte dieser Tod „Erlösung für den Menschen“39, der unter seiner Krankheit nur leide. Zum anderen befreie dies den Staat von einer Existenz, die „nicht den kleinsten Nutzen stiftet“40. Genau diese Pfade nutzte später auch die NS-Propaganda, um Zustimmung für die Euthanasie in der Gesellschaft zu generieren. In Filmen und Plakaten wurde versucht, die humane Seite des Tötens darzustellen. Auf der anderen Seite ökonomisierten diese Medien diese Menschenleben aber auch oft und stellten sie als Belastung für das Sozialsystem dar.41

Für Binding und Hoche gibt es zwei Personengruppen, die hier in Frage kommen. Zum einen die „Unrettbaren“42, also Personen, deren Leben durch Unfälle oder körperliche Erkrankungen unheilbar zur Qual geworden sei. Zum anderen die „unheilbar Blödsinnigen“43, denn sie hätten weder „den Willen zu leben, noch zu sterben“44. Binding, der die rechtliche Perspektive hier abdeckt, schlägt einen gemäßigteren Ton an, befasst sich auch mit irrtümlich Getöteten und wollte die Tötung nur erlauben, wenn auch eine absolute Sicherheit vorherrscht, dass sich der Patient in einem unheilbaren Zustand befindet. Hoche, der eine medizinische Perspektive einbringt, formuliert hier schon viel radikaler. Es ist von „Vernichtung nicht lebenswürdiger Leben“45 und „Ballastexistenzen“46 die Rede und der allgemeine Ton in seiner Schrift ist rauer. Er ist fest davon überzeugt, dass das Töten von unheilbar Kranken ein Symbol des Fortschritts ist und zitiert hierfür Goethes Bild der aufsteigenden Spirale als „Entwicklungsgang wichtiger Menschenfragen“47. Goethe hatte an manchen Pflanzen beobachtet, dass diese konstant spiralförmig aufsteigen, eh diese dann ganz oben zur Blüte gelangen.48 Für Hoche war das Erreichen des perfekten Erbgutes so etwas wie die Blüte. Alle Opfer, die dabei erbracht werden mussten, gehörten für ihn zum natürlichen Wachstumsprozess.

Ein Jahr später wurde das Buch von Fischer, Baur und Lenz herausgegeben. Es handelt besonders von Rassenhygiene und Vererbung von Merkmalen wie den „Breitnasen von Ostjuden“49. Baur warnt vor zu starkem Minderheitenschutz, denn es kann zur „Entartung eines ganzen Volkes“50 führen. Sie argumentieren in der Linie von Hoche und Binding, dass die Euthanasie keine Maßnahme zur Rassenhygiene wäre, sondern vielmehr ein humaner Akt. Denn diejenigen, die sie töten wollen würden, wären nicht in der Lage, Kinder zu zeugen.51

Die Autoren behaupteten wiederholt, dass Hitler ihr Buch während seines Gefängnisaufenthaltes in Landsberg 1923 bis 1924 gelesen habe und loben später seine Adaption ihrer Gedanken in seinen politischen Zielen.52

2.4 Die „Euthanasie“-Ermächtigung und ihre Umsetzung

„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“53

So titelt das auf den 1. September 1939 zurückdatierte Dokument mit Adolf Hitlers Unterschrift, welches an einem unbekannten Tag im Oktober aufgesetzt wurde. Bouhler war zum damaligen Zeitpunkt Leiter der „Kanzlei des Führers“, Brandt war Hitlers Leibarzt. Bouhler übertrug seinen Anteil an der Planung jedoch weitestgehend auf seinen Mitarbeiter Viktor Brack. Für den selben Tag ist auch eine Verordnung datiert, die das Ende der Sterilisationen festlegt, bzw. diese nur im Sonderfall zulässt („besonders große Fortpflanzungsgefahr“54). Es ist anzunehmen, dass Hitler schon im Juli desselben Jahres den Auftrag erteilte und die ganze Aktion auf formelle Beine stellen wollte.55

Nur mit dieser Ermächtigung und ohne formell gesetzliche Erlaubnis bauten Brack und Brandt bis April 1940 einen Apparat auf, der binnen eines Jahres laut offizieller Statistik insgesamt mehr als 70.000 Menschen in sechs Tötungsanstalten das Leben kostete.56 Benannt wurde dieser nach ihrer Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 - „Organisation T4“. Diese vereinte insgesamt vier Unterorganisationen unter ihrem Dach, die allesamt nur Tarnorganisationen waren, um den genauen Arbeitsprozess zu verschleiern.57

Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG) verschickte ab August 1939 Meldebögen an die Anstalten, mit denen vermeintlich unheilbar Kranke registriert und in der T4-Zentrale aktenkundig aufgenommen wurden.58 Gemeldet werden mussten alle Patienten mit Schizophrenie, Epilepsie, senilen Erkrankungen, Paralyse, Schwachsinn und Chorea Huntington.59 Außerdem wurde unter den Patienten erfasst, wer sich mindestens fünf Jahre in52 53 54 55 56 57 58 59 einer Anstalt befand, kriminell war und nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Im Meldebogen musste zusätzlich auch angegeben werden, ob und in welchem Umfang und Wert der Patient noch in der Lage war, Arbeit zu verrichten.60

Nach ihrer Rücksendung gab die RAG Fotokopien der Meldebögen an die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“.61 Unter diesem Namen arbeiteten die „T4-Ärzte“, also all diejenigen Mediziner, die sich in Erblichkeitslehre und Rassenkunde hervorgetan hatten. Ihre Aufgabe war es, anhand der Meldebögen, einem A4-Blatt, über Leben und Tod der Patienten zu entscheiden. Jeder Meldebogen wurde von drei Ärzten begutachtet und anhand dieser fällte dann auch der Obergutachter sein Urteil.62

War die Entscheidung getroffen, wurden unter dem Namen der „Gemeinnützigen Krankentransport-GmbH (Gekrat)“ die Transporte in die Zwischenstationen und Tötungsanstalten organisiert.63

Zum Töten wurden sechs ehemalige Heil- und Zuchtanstalten mit Gaskammern bestückt. Diese lagen in der Stadt Brandenburg, Bernburg (Sachsen-Anhalt), Pirna-Sonnenstein (Sachsen), Hartheim (Österreich), Hadamar (Hessen) und Grafeneck (Baden-Württemberg). Dorthin gelangten sie zumeist über Anstalten, die als Zwischenstationen dienten, darunter auch die Heilanstalt in Großschweidnitz (Sachsen). Diese sollten den Patientenfluss bündeln und das Ziel der Transporte verschleiern.64 Waren die Patienten in diesen Anstalten, sollte in der Theorie eine abschließende Untersuchung noch einmal prüfen, ob es wirklich zur Tötung kommen sollte. In der Praxis entschieden die Ärzte dort nur nach Aktenlage. In Pirna­Sonnenstein beispielsweise entschieden, zwei junge Ärzte, die keine ausgebildeten Psychiater waren und überhaupt nicht die diagnostischen Fähigkeiten besaßen eine kompetente Einschätzung zu geben.65

Gab es auch von diesen Ärzten keine Einwände wurden die Patienten in den meisten Fällen noch am selben Tag in die Gaskammern geführt, mit Kohlenstoffmonoxid getötet und an Ort und Stelle in einem Krematorium verbrannt.66

Die Benachrichtigung der Familien übernahmen nur zu diesem Zweck beschäftigte Schreibkräfte. Zur Verschleierung kamen diese Briefe aber meist aus einer anderen Anstalt als jene, in der der Angehörige umkam. So erhielten die Verwandten der Pirnaer Opfer Briefe und - falls gewünscht - auch eine Urne aus Grafeneck in Baden-Württemberg. Als Todesursache gaben die Anstalten meist Krankheiten an, die ansatzweise plausibel schienen, wie Herzprobleme bei älteren Personen oder ein schon einmal diagnostizierter Zustand.

Schließlich schuf man noch die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten. Von dieser erhielten Angehörige die Rechnung über die Kosten der Unterbringung bis zum Tod ihrer Angehörigen.

Ein solche Menge an Angestellten, Umbauarbeiten in ehemaligen Heilanstalten und das systematische Verschwinden und Abtransportieren von Kranken konnte nicht unbemerkt bleiben. Augenzeugen berichteten hinter vorgehaltener Hand von den Bussen, die in die Anstalten ein- und ausfuhren.67 Widerstand dagegen formierte sich allerdings erst im Juli und August 1941. Im Juli gaben die deutschen Bischöfe eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie forderten: „Nie, unter keinen Umständen, darf der Mensch, außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“68 Der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen griff diese Erklärung auf und verkündete in seiner Messe am 3. August 1941:

„Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den ,unproduktiven‘ Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! [...] dann wehe den Invaliden, die Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! [...] dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren. Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das recht haben ,unproduktive‘ Mitmenschen zu töten - wenn es zunächst auch nur arme wehrlose Geisteskranke trifft - dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen [.] freigegeben. “69

Von dieser Rede ermutigt, äußerten sich auch andere Bischöfe zur Euthanasie und es kam zu Flugblattaktionen, die die Worte von Galens verbreiteten.70 Die NSDAP und Hitler brachte dies in ein Dilemma. Sie wollten nicht während des Krieges die Konfrontation mit der Kirche suchen.71 Aber genauso wenig war es im Interesse der Machthabenden, einen öffentlichen Diskurs über die eigene Euthanasiepraxis zu führen.72 Dies führte dazu, dass am 24. August inoffiziell der „Vergasungsstopp“ erlassen wurde und die Aktion T4 ihr Ende nahm.

Allerdings hatte man zu diesem Zeitpunkt auch schon das selbst gesetzte Ziel von etwa 70.000 Toten erreicht.73 Damit einher ging eine vollkommene Ökonomisierung der Opfer. Es wurde exakt dargelegt, wie viele Betten dadurch nun der Wehrmacht zur Verfügung stehen und wie viele Nahrungsmittel in den kommenden Jahren einspart werden konnten - konkret unterteilt in Stückzahlen an Kartoffeln, Butter und so weiter.74

Damit endeten jedoch die Krankenmorde im Nationalsozialismus nicht. Auch die Organisationen der Aktion T4 arbeiten unter gleichem Namen weiter,75 Da der „Vergasungsstopp“ nie offiziell verkündet wurde, ging der Alltag für die meisten Mitarbeiter einfach weiter. Es wurden beispielsweise weiter Meldebögen bearbeitet oder Transporte organisiert. Man wollte weiter Daten „auf Vorrat“76 sammeln, um die Ermordungen zu einem späteren, sozial akzeptierten Zeitpunkt fortzusetzen. Aktionen wie die Kindereuthanasie in sogenannten Kinderfachabteilungen, die zu großen Teilen getrennt organisiert war, endeten ebenfalls nicht.77 Ebenso währte die Aktion 14f13 fort.78 Bei dieser wurden KZ-Insassen in den Gaskammern der Tötungsanstalten getötet - ein technologischer und organisatorischer Probelauf für den Holocaust.

Ab Sommer 1942 erlaubte die RAG das Morden in autorisierten Anstalten. Herrmann P. Nitsche, ärztlicher Leiter der RAG, verfügte, dass als „unheilbar und nicht mehr arbeitsfähig geltende Personen, die ohnehin wegen der immer unzureichender werdenden Versorgungsbedingungen kaum noch Widerstandskraft besaßen, durch die Verabreichung von Luminal, Scopolamin und z.T. auch Morphiuminjektionen getötet [werden durften]“79.

Dabei berief er sich auf die Ermächtigung Hitlers aus dem Jahr 1939 und schränkte nun das Töten nicht mehr auf gesonderte Anstalten ein.80 Die Kriterien der „Aussonderung“ blieben offiziell dieselben. Da aber nun die Anstalten selbst darüber entschieden, war deren genaue Umsetzung sehr frei. So ist aus der Anstalt Meseritz-Obrawalde im heutigen Westpolen bekannt, dass auch „störendes Verhalten und fehlende Unterordnungsbereitschaft“81 zur Tötung führen konnten.

Ab 1943 wurde diese Weisung im gesamten Reich angewandt. Die Umsetzung stand den Ärzten frei. In der Regel entschieden sie sich für das Injizieren kleiner Dosen über mehrere Tage.82 Blickt man in diesen Fällen in die Krankenakten der Opfer, so wird dort zumeist die Zustandsverschlechterung dokumentiert und am Ende eine Krankheit, wie eine Lungenentzündung, als Todesursache angegeben. Diese war in vielen Fällen eine Nebenwirkung der Medikamente oder hatte zumindest ähnliche Symptome, wie diese.

Auch wenn die T4-Zentrale dadurch ihre zentrale Machtposition einbüßte, wirkten hier dennoch ihre eingespielten Apparate. Im westlichen Reich wurden viele Anstalten aus strategischen Erwägungen geräumt oder wegen alliierter Bombenangriffe evakuiert. Die Transporte der Aktion T4 brachten die Patienten von dort häufig in den östlichen Teil des Reiches, wie Sachsen.

Weiterhin wurde alles dafür getan die wahren Gründe des Versterbens vor den Angehörigen zu vertuschen. Der Unterschied lag aber darin, dass das Töten nun nicht mehr im Ermessen einer zentralen Stelle lag, sondern in den Händen zahlreicher ermächtigter Ärzte und Pfleger, die dies eigenmächtig entschieden. Dies führte zu einer kompletten Entfesselung und Enthemmung in der Mordpraxis. Die Opferzahlen der sogenannten „wilden Euthanasie“ von 1943 bis zum Kriegsende übersteigen die in den Tötungsanstalten um ein Vielfaches. Da noch nicht jede Anstalt bekannt ist, in der auf diese Weise gemordet wurde, ist eine genaue Nennung der Opferzahlen nicht möglich. Verschiedene Schätzungen gehen aber von einer Zahl oberhalb von 200.000 Ermordeten aus.83 Für mehr als 35 Anstalten ist heute nachweisbar, dass dort Krankenmorde passierten oder es besteht aufgrund der Faktenlage zumindest der dringende Verdacht, dass dem so war.84

[...]


1 Lammert, Norbert. Rede zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Berlin. Letzte Aktualisierung: 27.01.2017. Via: https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2017/002/490682 Letzter Zugriff: 06.06.2018

2 Gedenkstätte Pirna- Sonnenstein. Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte. Letzte Aktualisierung: unbekannt. Via: https://www.stsg.de/cms/pirna/histort/geschichte_der_gedenkstaette. Letzter Zugriff: 06.06.2018

3 Walter, Uwe. Der Krankenmord in Großschweidnitz. Zuletzt aktualisiert: 21.07.2017. Via: https://www.mdr.de/sachsen/bautzen/grossschweidnitz-euthanasie-licht-kommt-in-ein-dunkles-kapitel-100.html letzter Zugriff: 06.06.2018

4 Klee, Ernst. ,Euthanasie‘ im Dritten Reich. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens ‘. Frankfurt. 2010. S. 19

5 Peter, Jürgen. Der Einbruch der Rassenhygiene in die Medizin. Frankfurt. 2004. S. 139

6 Ebd. S. 140

7 Klee. 2010, S. 20

8 Peter S.138.

9 Ebd.

10 Auch Jugendirresein oder läppisches Irresein genannt

11 Ebd.

12 Klee. 2010, S. 20

13 Peter. S. 139

14 Ebd. S. 153

15 Ebd. S. 154

16 Zankl, Heinrich. Von der Vererbungslehre zur Rassenhygiene. Aus: Henke, Klaus- Dietmar (Hrsg.). Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord. Köln. 2008. S. 60

17 Ebd.

18 Bayertz, Kurt; Kroll, Jürgen; Weingart, Peter. Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Rassenhygiene und Eugenik in Deutschland. Frankfurt. 1992. S. 469

19 Zankl S. 59

20 Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. Zitiert nach: Hamm, Margret. Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und ,Euthanasie‘. Frankfurt. 2006. S. 12

21 Ebd.

22 Ebd.

23 Ebd.

24 Ebd.

25 Ebd.

26 Ebd.

27 Bayert, Kroll, Weingart. S. 469

28 Bock, Gisela. Nationalsozialistische Sterilisationspolitik. Aus: Henke, Klaus- Dietmar (Hrsg.) S. 86

29 Ebd.

30 Ebd. S. 90.

31 Ebd. S. 86

32 Ebd.

33 Zankl S. 61

34 Essner, Cornelia. Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933- 1945. Berlin. 2000. S.219f

35 Bedürftig, Friedemann. Lexikon III. Reich. Hamburg. 1994. S116

36 Binding, Karl. Hoche, Alfred. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig. 1920. Zugriff via via https://www.staff.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html. Letzter Zugriff: 05.06.2018

37 Ebd.

38 Ebd.

39 Ebd.

40 Ebd.

41 Caregorodcev, Genadij; Thom, Achim (Hrsg.). Medizin unterm Hakenkreuz. Berlin. 1989. S. 67f

42 Binding/Hoche

43 Ebd.

44 Ebd.

45 Ebd.

46 Ebd.

47 Ebd.

48 Steiner Rudolf. Goethes naturwissenschaftliche Schriften. Stuttgart. 1973. S. 37f.

49 Klee 2010. S. 27

50 Ebd.

51 Ebd. S.28

52 Ebd.

53 Klee, Ernst. Dokumente zur „Euthanasie“. Frankfurt. 2007. S. 85

54 Klee. 2010. S. 87

55 Caregorodcvec/Thom. S. 142

56 Ebd. S. 147

57 Klee. 2010. S. 123

58 Böhm, Boris. Pirna Sonnenstein. Von der Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Dresden. 2001. S. 62

59 Klee. 2010 S. 92

60 Klee. 2007. S. 96

61 Ebd.

62 Ebd.

63 Böhm S. 62

64 Krumpolt, Holm. Die Auswirkung der nationalsozialistischen Psychiatriepolitik auf die sächsische Landespflegeheilanstalt Großschweidnitz. Leipzig. 1994. S. 42f

65 Böhm S. 91

66 Ebd.

67 Ebd. S. 98

68 Klee. 2010 S. 256

69 Ebd.

70 Ebd.

71 Ebd. S. 260

72 Ebd.

73 Caregorodcvec/Thom. S. 147

74 Die Statistik schlüsselt so u.a auf, dass 31.058 Betten für Reservelazarette freigeworden sind oder Hilfskrankenhäusern 8995 Betten zur Verfügung stehen.

75 Klee. 2010. S. 386

76 Caregorodcvec/Thom. S. 149

77 Krumpolt S. 46f

78 Ebd.

79 Caregorodcvec/Thom S. 151

80 Ebd.

81 Ebd. S.151

82 Ebd.

83 Klee. 2010.

84 Klee. 2007. S.1

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Überleben in der NS-Euthanasie. Die Königlich Sächsische Pflegeheilanstalt Großschweidnitz
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Geschichte)
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
63
Katalognummer
V1038769
ISBN (eBook)
9783346461414
ISBN (Buch)
9783346461421
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Euthanasie, Nationalsozialismus Großschweidnitz
Arbeit zitieren
Hans Schulze (Autor:in), 2018, Überleben in der NS-Euthanasie. Die Königlich Sächsische Pflegeheilanstalt Großschweidnitz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1038769

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