Die politische Theorie des Kommunitarismus Charles Taylor
1. Die Theorie in der politichen Praxis
Während der 80er Jahre sprechen plötzlich alle vom Kommunitarismus, als sich in den USA die moralphilosophische Debatte um die Verdienste und Grenzen von John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit" entwickelte. Zu dieser Zeit interessierte man sich, abgesehen von ein paar Fachleuten der Sozialphilosophie und der Amerikakunde, nur sehr gering für diese politische Theorie. Erst gegen Ende der 80er Jahre, als die amerikanische Debatte in ihrem moralphilosophischen Kern an ihr Ende gelangt war, begann man auch in Deutschland dieser Debatte unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit zu führen.
Einer der Gründe für das plötzliche Interesse der Deutschen am Kommunitarismus könnte in den "Problemen" der Vereinigung liegen. Die Westdeutschen waren stolz geworden auf ihre Zugehörigkeit zur westlichen Welt und die emotionale Verbundenheit zu den ostdeutschen Nachbarn ging im Laufe der Jahre immer weiter verloren. Während der politischen Umwälzung begrüßte man zwar den Sieg der Demokratie im Osten, doch der anfänglichen Euphorie folgten Ängste über die Kosten die wirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Schrittes. Nach dem Vollzug der Vereinigung verlangte man nach einer Rechtfertigung für die aufzubringenden ökonomischen Opfer. Man stellte fest, daß die Aufgaben der Vereinigung nicht auf der Grundlage eines individualistischen Liberalismus gelöst werden konnten, so daß das Interesse am Kommunitarismus auch in Deutschland aktuell wurde.
Ein anderer Grund für das öffentliche Interesse am Kommunitarismus in Deutschland könnte auch in den Folgen der neuen Weltordnung und des zunehmenden internationalen Wettbewerbs liegen mit der einhergehenden Neustrukturierung des Arbeitsmarkts. Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und der damit verbundenen Dezimierung von Beitragszahlern für das Sozialsystem muß das Modell des deutschen staatszentrierten Wohlfahrtsstaates neu überdacht werden.
Das Hauptanliegen der Apologeten des Kommunitarismus liegt in einer Remoralisierung der Politik. Dabei verfolgt man keine Rückwendung zur puritanischen Gesinnungsgesellschaft oder die uneingeschränkte Herrschaft der Mehrheit, sondern maohl, wobei Politik nicht nur als bloße Aggregation von Partikularinteressen verstanden werden soll.
Am Anfan zielt vielmehr auf eine Orientierung am Gemeinwng stehen in den meisten Dokumenten familienpolitische Forderungen, die gegen die scheinbare Selbstverständlichkeit argumentieren, mit der heutige Paare die Betreuung ihrer Kinder n andere delegieren oder wo im Scheidungsfall das Wohl des Kindes hinter das Wohl der Eltern zurücktritt. Hier werden Revisionen am Scheidungsrecht, sowie obligatorische Wartefristen und die Konzentration steuerlicher Begünstigungen auf eine Familien- statt auf eine Ehepaarförderung gefordert. Einen weiteren Themenkomplex stellt die öffentliche Erziehung in den Schulen dar. Es wäre ein Mißverständnis hier die Indoktrination bestimmter Werte zu sehen. Es geht vielmehr darum die Bindung an Werte nicht durch Strafe, Zwang und Drohung zu erreichen, sondern vielmehr durch eigene Erfahrung an Vorbildern und durch begeisternde Erlebnisse. Auch in Deutschland hat die Debatte über rechtsradikale und ausländerfeindliche Gewalttaten Jugendlicher neuerdings die Bereitschaft erhöht, über Defizite in der Werteerziehung nachzudenken. Darüberhinaus fordern die Befürworter des Kommunitarismus das Ableisten eines "national service" für alle Jugendliche zugunsten sozialer, ökologischer, entwicklungspolitischer und militärischer Zwecke.
Einen dritten Komplex betrifft die Revitalisierung existierender Gemeinschaften und Bemühungen zur Schaffung neuer und andersartiger Gemeinschaften. Dabei geht es nicht um die Rückkehr zu traditionelen Gemeinschaften, die schon aus ökonomischen Gründen nicht vorstellbar wären und darüberhinaus noch einen oft autoritären Charakter haben, sondern vielmehr um neue Formen von Gemeinschaft, wie etwa Selbsthilfegruppen (Telefonnetzwerke für ältere Menschen) oder eine staatliche Unterstützung freiwilliger Aktivitäten (wie etwa das Programm Seattles zur Ausweitung der Erste-Hilfe-Kenntnisse), die Einrichtung von service centers für spontane gemeinschaftsbildende Aktivitäten usw. Während in den USA Aktivitäten zur Verbrechensbekämpfung, wie z.B. "neighbourhood watch" oder "community policing" schon alltäglich geworden sind, denkt man in Deutschland dagegen an eine gefährliche Stärkung des Orwellschen Überwachungsstaats. Doch gerade in puncto Sicherheit treten die Kommunitaristen für eine verstärkte Verantwortung der Gemeinschaft für alle Bürger ein.
Im 4. Themenkomplex geht es um die Struktur der politischen Willensbildungsprozesse, wobei die Kritik vor allem auf die zersetzende Wirkung der lobbyistischen Partikularinteressen zielt, die eine zukunftsorientierte und verantwortungsvolle Politik kaum ermöglichen. Hier muß man sich die Wahlkampffinanzierung und die Schwäche der politischen Parteien in den USA vor Augen führen, die einem starken Einfluß finanzstarker Unternehmen, Verbände oder Einzelpersonen unterliegen. Das Lager der Kommunitaristen befürwortet daher eine Stärkung der öffentlichen Wahlkampffinanzierung und der politischen Parteien, damit diesen eine weitgehende "Unabhängigkeit" garantiert ist. Wie stark diese "Unabhängigkeit" beschnitten werden kann, kann man zur Zeit in Deutschland beobachten (Leuna- Affäre, Parteispendenskandal), wobei das ganze Ausmaß dieses Skandals noch lange nicht aufgedeckt ist.
Den letzten Themenkomplex betrift die Reform des Wohlfahrtsstaates. Hier strebt man eine Balance zwischen wirtschaftlicher Dynamik auf der einen Seite und soziale Gerechtigkeit auf der anderen Seite an. Der Sozialstaat darf nicht mehr begriffen werden als eine "Hängematte, in der man sich ausruht, sondern muß begriffen werden als ein Trampolin, in das man hineinfällt, wenn man in einer bestimmten Lebenssituation ist, von der man aber rausgeschleudert wird und werden muß, in den ersten Arbeitsmarkt. Der Sozialstaat darf also nicht begriffen werden als etwas Passives, sondern als etwas, was die Menschen aktiviert, um wieder in der Gesellschaft eine Chance für sich und die Familien zu haben. (aus: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten - Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair)
Der Kommunitarismus darf nicht als Versuch verstanden werden um zu alten Gemeinschaften zurückzukehren oder einen moralischen Konsens fürdie Gesellschaft mit staatlichem Zwang herzustellen. Der Kommunitarismus will vielmehr das "Ideal der Demokratie in einer modernen und hoch differenzierten Gesellschaft im Bewußtsein der zerstörerischen Wirkungen eines freigesetzten Individualismus neu formulieren und den Hauptnachdruck auf politische Institutionen und Prozeduren statsbürgerschaftlicher Beteiligung zu legen." (aus: Joas, Hans: Der Kommunitarismus - eine neue progessive Bewegung?; in: Forschungsjournal für Neue Soziale Bewegungen; H 3; Jg. 8, S. 29-38; Berlin 1995)
Er nimmt die in den 60er Jahren stattgefundenen Demokratisierungsbestrebungen wieder auf und versucht aus den dabei entstandenen Fehlern zu lernen, wobei es nicht um die Abschaffung von Markt und Gesellschaft geht, sondern vielmehr um die Chancen der Marktregulierung. Dabei kommen die Kommunitaristen zu der Einsicht, daß Selbstregulierung (also das Gegenteil von Despotismus, wo eine Einzelperson oder eine kleine Gruppe den Staat lenken) die Tugend der Bürger, virtus, vorraussetzt. Ohne Selbstkontrolle, soziale Kontrolle und ohne Gefühl für das Gemeinwesen ist Selbstregierung allerdings unmöglich.
2. Die Kritik an der politischen Theorie
Der Haupteinwand des liberalen Lagers lautet, daß der Kommunitarismus weder das richtige Bild der Gemeinschaft, noch das des Individuums zeichnet. Es bestreitet niemand, daß ein Subjekt seine Identiät erst durch seine Sozialisation in ganz spezifischen kulturellen Gemeinschaften entwickeln kann, doch bedeutet dies noch lange nicht, daß es sich von seiner Herkunftsleebnsform distanzieren kann und eine völlig neue Identität annehmen kann. Gerade deshalb ist es notwendig, daß der Staat im Hinblick auf mögliche Lebenweisen neutral bleibt um die nötigen Freiheiten für ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Wertvorstellungen seiner Herkunft zu garantieren. Außerdem, so der Einwand der Liberalen, bestehe in modernen Gesellschaften schon lange nicht mehr eine geschlossene Wertegemeinschaft - diese seien vielmehr ausgezeichnet durch eine Heterogenität und eines Pluralismus von Lebensstilen und Werteorientierungen. Darüberhinaus werden Gemeinschaften und ihre Wertinterpretationen auch immer stark beeinflußt durch die Interessen der herrschenden Schichten, die oft dazu neigen den in diesen Gemeinschaften lebenden Individuen bestimmte Identitäten aufzuzwingen. Die Weigerung der Kommunitaristen abstrakte und neutrale Verhaltensregeln zu akzeptieren und universelle Rechte hinter das Gute zu stellen, was dazu führt, daß die Gemeinschaft unter die Vorherrschaft einer status-quo orientierten moralischen Mehrheit gestellt wird, stellt einen nicht wiedergutzumachenden Rückschritt im Hinblick auf die Durchsetzung von universellen Menschenrechten dar.
Auch in Abwesenheit eines gemeinsamen Wertehorizontes werden bereits heute Entscheidungen getroffen, die die Moral und die Wertvorstellungen der Menschen miteinbeziehen: z.B. in Fragen der Gentechnologie, der Sterbehilfe oder ob wir unsere Freizeit in riesigen shopping-malls vergringen sollten usw. Das Gegenargument der Kommunitaristen lautet hier wiedeum: gerade weil unsere heutige Gesellschaft voller impliziter Selbstinterpretationen steckt und diese auch teilweise vorraussetzt und bestärkt, ist es unerlässlich diese zum Gegenstand demokratischer Selbstbestimmung werden zu lassen und diese nicht einfach das Ergebnis unpersönlicher ökonomischer Kräfte sein lassen, die in ihrer Gesamtwirkung unkontrollierte individuelle Einzelentscheidungen sind. Die Selbstregierung und das Schicksal des Gemeinwesens darf daher nicht fortuna überlassen werden, sondern muß von einer moralischen Vision und staatsbürgerschaftlicher Tüchtigkeit, virtus, geleitet sein.
Eine unverzichtbare Bedingung für die Herstellung eines gemeinsamen Konsenses in politischen Wertungen hinsichtlich demokratischer Einigungen besteht darin, daß sich trotz eines geteilten Wertekonsenses ein überlappender Teilbereich bilden muß, der jeweils anstehende Fragen diskursiv lösen soll, ohne dabei abweichende Minderheiten auszuschließen.
2.1. Was bleibt von der politischen Theorie
Heute, am Anfang des neuen Jahrtausends, hat die Kommunitarismusdebatte auch in Europa ihren Zenit überschritten - neue Argumente werden von beiden Seiten kaum noch formuliert. Die heutige Diskussion gruppiert sich um 2 Themenkomplexe:
1. die Möglichkeit eines gelingenden individuellen Lebens;
2. die Vorraussetzungen eines auf liberale Freiheiten und auf Gerechtigkeit zielenden politischen Gemeinwesens.
Hinsichtlich des 1. Themenkomplexes lautet die kommunitäre Grundeinsicht, daß die in unseren Gemeinschaften und in unserer Umwelt verankerten Selbstbilder und Güterkonzeptionen sich nicht so weit verselbständigen dürfen, daß sie jeder demokratischen Kontrolle der Bürger entzogen sind. Dann erscheinen diese nur noch als ein Bündel von Sachzwängen, die ihre starken Wertungen kaum noch oder gar nicht mehr enthalten, was wiederum zu einer Entfremdung führt.
Der 2. Themenkomplex scheitert daran, daß unsere Alltagswelt bereits atomistisch, d.h. auf Partikularinteressen zielend, ist und sich diese Tatsache auch auf unsere sozialen Beziehungen auswirkt, die damit einen instrumentellen Charakter verliehen bekommen. Diese Tatsache verhindert die Anerkennung von gemeinsamen Gütern und untergräbt die Gemeinwohlorientierung, was eine demokratisch-selbstbestimmte und gerechte Gesellschaft beinahe unmöglich werden lässt. Ein aussichtsreicher Ausweg kann nur in einer Stärkung demokratisch-deliberativer Selbstbestimmung gegenüber den Strukturen des Marktes und des Rechts liegen. Nur dadurch können die Staatsbürger die Strukturen ihrer Lebenswelt wieder als die ihren erkennen und auf diese Weise wieder die notwendige Identifikation für das ihrige Gemeinwesen aufbringen. Die Aufgabe der Politik besteht gerade darin, sich in Abwesenheit eines gemeinsamen Wertehorizontes über die unterschiedlichen Interessen und Präferenzen zu verständigen und eine gemeinsame Lösung für alle zu finden, und nicht wie es eine atomistisch-liberal orientierte Politik macht, die diese einfach als gegeben annimmt und daraus Kompromisse zu schmieden versucht. Die in diesem Prozess der politischen Auseinandersetzung verwendeten moralischen Landkarten sind nicht determiniert, sondern fortwährend diskursiv veränderbar. Annäherung und Veränderung sind jedoch nur zu erreichen, wenn eine kritische Deliberation auch tatsächlich stattfindet, an der auch alle Bürger partizipieren sollen und müssen. Dadurch, so das Argument des kommunitaristischen Lagers, kann wieder ein gemeinsames politisches Urteil erreicht werden, das die Staatsbürger wieder mit ihrem Gemeinwesen identifizieren lässt. Zusammenfassend gesagt, will die kommunitaristische Debatte nichts anderes als eine Umstellung des politischen Prozesses von schwachen auf starke Wertungen, wobei alle gesellschaftlichen Gruppen partizipieren sollen.
Literatur:
Brodocz, André; Schaal, Gary S.: Politische Theorien der Gegenwart - Eine Einführung; Leske + Budrich; Opladen 1999
Reese-Schäfer, Walter: Was ist Kommunitarismus?; Campus Verlag; Frankfurt, New York 1995;
Joas, Hans: Der Kommunitarismus - eine neue "progressive Bewegung", in: Forschungsjournal für Neue Soziale Bewegungen; H 3; Jg. 8, S. 29-38; Berlin 1995
Honneth, Axel: Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften; Frankfurrt 1993
http:// www.spd.de
- Arbeit zitieren
- Matthias Maier (Autor:in), 2000, Die politische Theorie des Kommunitarismus - Charles Taylor, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103883
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