Der selige Bernhard Lichtenberg - Märtyrer oder Feigenblatt?


Hausarbeit, 1998

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Der selige Bernhard Lichtenberg - Märtyrer oder Feigenblatt?

Hausarbeit für die Übung

„Darstellende Religionswissenschaften“

Institut für Religionswissenschaften

Leitung: Prof. Dr. Hartmut Zinser

Martina Winkler, Tutorin

und andere

vorgelegt von

Markus Hieber

Wintersemester 1997/98 und Sommersemester 1998

Vorbemerkung zur Zitierpraxis

Für den Film „Die Gewissensentscheidung des Dompropstes Lichtenberg“ führten Sebastian Voß, Susanne Komoll und ich 13 Interviews durch, die wir auf Video filmten und im Anschluß vollständig transkripierten. Die Zitate aus den Transkriptionen, die im zweiten Teil dieses Aufsatzes auftauchen, mögen im ersten Moment vielleicht etwas ungewöhnlich klingen, möglicherweise etwas holprig. Das liegt daran, daß wir die Interviewbeiträge der Gesprächspartner so abschrieben, wie sie gesprochen wurden, also mit allen Wiederholungen, Brüchen und grammatikalischen Fehlern. Die Transkriptionen sind nicht veröffentlicht worden. Voraussetzung für das Übernehmen von Zitaten in Texte ist, daß diese Zitate überprüfbar sind. Daher können die Transkriptionen bei mir persönlich angefordert werden. Leser, die sich für die vollständigen Interviewtexte interessieren, wenden sich bitte an Markus Hieber, Luitpoldstraße 15 A, 10781 Berlin, Telefon 218 56 79.

1. Einleitung: Erläuterung meiner Vorgehensweise

Ich möchte im folgenden Absatz kurz schildern, wie der II. Teil dieser Hausarbeit aufgebaut ist. Ich beginne diesen Text mit dem Bezug auf den Fakt der Seligsprechung Lichtenbergs. Ich setze bei meiner Untersuchung voraus, daß sich die katholische Kirche im Dritten Reich verstrickt hat. Daher habe ich den Verdacht, daß die Seligsprechung des Widerständlers Lichtenbergs durchgeführt wurde, um von der Verstrickung der Katholischen Kirche im Dritten Reich abzulenken und zu zeigen, daß Katholizismus und Nationalsozialismus angeblich völlig inkompatibel sind. Bei der Untersuchung der Motive für die Seligsprechung Lichtenbergs bestätigt sich - wohlgemerkt zunächst - die Hypothese nicht. Doch die offizielle Erklärung anläßlich der Seligsprechung ist eine Bestätigung meiner Hypothese, daß die Seligsprechung Lichtenbergs dazu dient, zu zeigen, wie inkompatibel Christentum und Nationalsozialismus angeblich sind. Der Papst irrt sich in seiner Erklärung über die Bedingung für Widerstand. Der christliche Glaube macht nicht gegen nationalsozialistische Vorstellungen immun; er führt auch nicht zwangsläufig zum Widerstand gegen ein totalitäres Unrechtssystem. Weil aber erheblich viele Christen im Dritten Reich mitgemacht haben, war es von der Kongregation eine politisch unsensible Entscheidung, einen Widerständler selig zu sprechen, wo man doch andererseits bisher zuwenig über die Verstrickung der Kirche im Dritten Reich gesagt hat. Der Widerstand wird zu stark betont und zuweilen überdimensioniert, wie ich durch die Analyse einer schiefen Untersuchung zeige. Die Doppelgleisigkeit der Argumentation der Kirche, einerseits das Schweigen des Papstes im Dritten Reich als gut hinzustellen, andererseits aber durch die Seligsprechung von Märtyrern die Ideologie des Opfers hochzuhalten, zeigt die Unglaubwürdigkeit der Kirche im Umgang mit ihrer Vergangenheit. Immerhin ist 1998 eine Erklärung mit dem Titel Wir erinnern - Reflexionenüber die Shoa erschienen, in der das Schweigen von Katholischen Gläubigen zum Holocaust verurteilt wird. Obschon die Erklärung ein guter Schritt in die richtige Richtung ist, so ist sie doch noch halbherzig, denn nur das Schweigen und nicht die Taten werden eingestanden, der damalige Papst wird völlig von Schuld freigesprochen und nur ein Widerständler wird beim Namen genannt, nicht aber ein einziger Täter. So kommt es zum Resüme: obwohl es zunächst nicht das bewußte Motiv gab, Lichtenberg selig zu sprechen, um der Verstrickung der Katholischen Kirche im Dritten Reich etwas vorzuschieben, so erfüllt doch die Seligsprechung Lichtenbergs die Funktion eines Feigenblatts.

1.2. Prämisse, Ausgangspunkt, Hypothese, Grundbegriffe

Prämisse. Die Tatsache, daß sich die Katholische Kirche im Dritten Reich verstrickt hat, ist an anderer Stelle bereits bewiesen worden und ist eine Prämisse dieses Textes. Die Verstrickung der Katholischen Kirche im Dritten Reich ist nicht Thema dieses Aufsatzes, sondern nur ihr Umgang damit. Ich möchte nur sehr kurz andeuten, was ich mit Verstrickung meine. Der Vatikan taktierte gegenüber dem Deutschen Reich, viele katholische Bischöfe waren vom Nationalsozialismus begeistert, die katholische Zentrumspartei stimmte dem Ermächtigungsgesetz zu und ein Viertel der SS-Mitglieder waren Katholiken. Wer sich eingehender darüber informieren möchte, wie sich die Kirche mit den faschistischen Diktaturen Europas arrangierte, der sei auf die gründliche und fundierte Studie Mit Gott und dem Führer von Karlheinz Deschner verwiesen, in der die Politik von Papst Pius XI , Papst Pius XII und anderer hoher Kirchenfunktionäre gegenüber den Faschisten Europas geschildert wird, also nicht nur das Verhalten der Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern auch gegenüber dem spanischen und dem italienischen Faschismus.

Ausgangspunkt. Am 23. Juni 1996 rühmte Papst Johannes Paul II. im Olympiastadion den Widerstand von Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner gegen den Nationalsozialismus, in dem er die beiden katholischen Geistlichen als Märtyrer selig sprach. Andererseits ist aber bekannt, daß die katholische Kirche nicht nur in der Nazizeit schwieg, sondern auch Katholiken in der Nazizeit mitmachten, vom Nationalsozialismus begeistert waren oder zumindestens mit den Nazis kollaborierten.

Hypothese. Es kommt der Verdacht auf, daß die katholische Kirche Lichtenberg selig sprach, um ihrer eigenen Verstrickung ein Feigenblatt vorzuschieben und von ihrer eigenen Verstrickung im Dritten Reich abzulenken.

Definitionen. Ich definiere „Feigenblatt“ folgendermaßen: Wenn sich die Mitglieder einer großen Organisation unter ähnlichen Bedingungen unterschiedlich verhalten haben und bestimmte Verhaltensweisen eines größeren Teils der Mitglieder dieser Organisation nachträglich kritisiert werden, dann ist es eine Ausflucht im Sinne des Vorschiebens eines Feigenblattes, wenn Mitglieder dieser Organisation, beteiligt oder unbeteiligt, die Kritik abzuwenden suchen, indem sie als Gegenbeweis das Verhalten weniger Mitglieder anführen. Diesem Verdacht soll im folgenden nachgegangen werden.

Ich benutze das Wort „Verstrickung“ und nicht das Wort „Schuld“, weil ich bei der Benutzung des Wortes „Schuld“ ein Ergebnis einer Aufbereitung der katholischen Vergangenheit im Dritten Reich vorwegnehmen würde. Es ist kein Anliegen dieses Textes, moralische Urteile über die katholische Vergangenheit zu fällen, sondern den Umgang der katholischen Kirche mit ihrer Vergangenheit zu analysieren mit besonderem Hinblick auf die Seligsprechung Lichtenbergs. Verstrickung heißt, Kollaboratio n, Zusammenwirken mit gemeinsamen Zielen, vielleicht auch einige Analogien in den Ansichten, aber vor allen Dingen eine personale Verquickung einfach dadurch, daß viele Christen auch Nazis waren.

2. Differenzierung der Motive für die Seligsprechung Lichtenbergs

Es gab für die Seligsprechung Lichtenbergs unterschiedliche Motive, die je nach den an der Seligsprechung beteiligten Personengruppen variierten.

Die Antragsteller haben die Nazizeit selber miterlebt, kannten zum Teil Lichtenberg persönlich und waren von ihm fasziniert. Bei ihnen war wohl das Motiv, einen Menschen posthum zu ehren und ihrer Bewunderung Ausdruck zu verleihen. Wir befragten Roswitha Köppel, eine der Führerinnen der Kathedrale St. Hedwig, in der Lichtenberg einst Dompropst war, zu der Beerdigung Lichtenbergs, von der sie durch Augenzeugen erfuhr:

(...) eine der letzten großen Beerdigungen, vielleicht die letzte große erlaubte Beerdigung in der NS-Zeit. Man muß sich vorstellen, (...) der Mann ist ja am 5. November `43 erst gestorben. Und da haben die Nazis vorher noch ganz andere Sachen verboten von wegen Zusammenrottung undsoweiter. Und da sind ganz viele Menschen erschienen und schon damals haben sie gesagt: „Ihr habt hier einen Heiligen beerdigt!“ Und seit dem gab es immer - tja, die Personen, die ihn noch kannten natürlich gerade hier im Bistum, an der Kirche undsoweiter - die Verehrung; einzelne Personen mehr, andere weniger. (Hieber u.a., „Interview Köppel“ 18)

In der Biographie von Lichtenberg von Erich Kock ist zu lesen, daß die Berliner Bischofskonferenz hingegen funktionaler dachte, als sie am 16. Juni 1980 Papst Johannes Paul II. um die Seligsprechung Lichtenbergs bat, weil „gerade in den Verhältnissen, in denen die Kirche hier leben und wirken muß, das Beispiel des Diener Gottes Bernhard Lichtenberg von hoher Aktualität ist“ (Kock 179). Damit bezogen sich die Bischöfe auf das Leben im totalitären System der DDR und den Repressalien, welche die Kirche dort erdulden mußte. Der Widerstand von Katholiken gegenüber einem Obrigkeitsstaat sei also wünschenswert und vorbildhaft.

Seitens der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen gab es vor allen Dingen das Motiv, die traditionelle Definition des Märtyrers zu erhalten; ein Märtyrer kann nur derjenige sein, der mit Absicht und aus Glaubensgründen umgebracht wurde. Dazu äußerte sich der Leiter des Diözesanarchivs und ehemalige auswärtige Mitarbeiter beim Seligsprechungsverfahren für Bernhard Lichtenberg, Dr. Gotthard Klein:

(...) ist Bernhard Lichtenberg wirklich ein Märtyrer? Im klassischen, ursprünglichen Sinne ja wohl kaum. Er ist also nicht direkt um des Glaubens willen (...) umgebracht worden, sondern wir können ja nur den Nachweis führen und das war dann also jetzt hier sozusagen meine Aufgabe daraufhin, daß das Reichssicherheitshauptamt, als es zu dem Zeitpunkt Bernhard Lichtenberg in das Konzentrationslager eingewiesen hat, daß es die volle Aktenlage hatte über seinen Gesundheitszustand und seinen Tod damit entweder bewußt in Kauf genommen oder bewußt herbeigeführt hat. (...) darum kreisten sich jetzt auch alle diese Diskussionen der Richter und die kamen dann also zum acht zu eins, also neun Richter (...) waren da, acht haben also affirmativ und einer suspensiv gestimmt und das suspensive Urteil war, weil ihm das nicht klar und deutlich genug gewesen sei. Also, nicht weil er bestritten hat, fama sanctitatis, fama signorum von Bernhard Lichtenberg, hat er ausdrücklich gesagt, sondern eben sozusagen weil er aus der Tradition der Kirche argumentierte, da konnte ihm entgegen gehalten werden, daß es durchaus Fälle gegeben hat, daß es eben sozusagen das „martyrium ex aerumnis carceris“, daß heißt also (...) ein Martyrium, daß eben darin besteht, auch diesen Kerker zu ertragen, daß also die Todesbereitschaft von seiten des Märtyrers vorhanden ist. (...) es gibt also verschiedenste Aussagen, also auch von kirchlich[er Seite] (...), daß Bernhard Lichtenberg bereit war zu dem Martyrium, zur anderen Seite, von der Seite des Verfolgers, die Absicht bestand, Bernhard Lichtenberg jedenfalls nicht mehr lebend davonkommen zu lassen. (Hieber u.a., „Interview Dr. Klein“ 27)

Es gibt einige weitere traditionelle, ganz allgemeine Motive für Seligsprechungen, die in ihrer Funktion begründet liegen. Der katholische Glauben soll gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen abgegrenzt werden und den Gläubigen soll gezeigt werden, was vorbildhaftes Verhalten ist, wie es uns der Dominikanermönch Pater Burkhard erklärte:

„(...) der gesamte Heiligsprechungsprozeß ist ja (...) `nen Versuch, etwas zu kanalisieren. Heiligenverehrung hat es immer gegeben, aber wie leicht das ein Mensch dabei sich auch täuschen kann, daß, wenn innerhalb der Kirche eine Heiligenverehrung Sinn haben kann, kann es doch darum gehen, daß hier Menschen Vorbild sind“ (Hieber u.a., „Interview mit Pater Burkhard“ 2).

Bruder Thaddäus, ehemaliger Franziskanermönch, nun in der Altkatholischen Kirche, nennt uns eine weitere Funktion der Heiligen, die darin besteht, daß „ich mir einen persönlichen Heiligen raussuche, ne, so zu dem ich einen Kontakt hätte, und würde mit dem mal so ganz menschlich reden, sagen: „passens up, du bist doch da oben, leg für mich mal ein gutes Wort ein““ (Hieber u.a., „Interview mit Bruder Thaddäus“ 19).

Durch Selig- und Heiligsprechungen werden Patronate ermöglicht:

„(...)die traditionelle Funktion, kann man sagen, daß der Heilige sozusagen der Patron ist. (...) ein Patron, an den man sich anvertraut hat, also wie unser Wort „Schutzpatron“ auch aussagt, eine Person, die einen dann beschützt, so ähnlich, wie man auch die Vorstellung hat, daß ein Engel einen beschützt und die Fürbitte für einen einlegt!“ (Hieber u.a., „Interview Pater Georg Schmidt“ 7).

Ich vermute, daß die Kirche auch durch Selig- und Heiligsprechungen für sich wirbt und ihr Image pflegt, was möglicherweise von offizieller Seite nicht bestätigt werden wird, aber von „Ketzern“ wie Bruder Thaddäus unverblümt ausgedrückt wird: „Das ist irgendwo `ne ganz gute Reklame“ (Hieber u.a., „Interview Bruder Thaddäus“ 6).

Letztendlich wird eine Weltreligion oder eine weltanschauliche Bewegung durch den Tod von Märtyrern gestärkt und stabilisiert, denn die politischen Gegner wissen, daß einige Vertreter dieser Bewegung oder Religion standfest bis in den Tod sind.

Der Papst selbst hat der Seligsprechung zugestimmt, weil er sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust intensiv auseinandersetzt und ihm der Fall Lichtenberg noch aus seiner Zeit als polnischer Bischof bekannt war. Der Papst sei sofort zur Seligsprechung Lichtenbergs bereit gewesen, „weil er das für wichtig hielt und der Fall ihm nicht unbekannt war. Als er nämlich noch Bischof von Krakau gewesen ist, (...) war er in St. Hedwig zum Besuch gewesen, da gibt es so schöne Fotos, wo er am Grab von Lichtenberg gebetet hat“ (Hieber u.a., „Interview mit Dr. Gotthard Klein“ 28). Zudem sieht der Papst in dem Vorgang der Seligsprechung eine Möglichkeit, insbesondere junge Diözesen und neue Orden aufzuwerten. Pater Georg Schmidt erklärte, daß der derzeit amtierende Papst Johannes Paul II. „die Heiligsprechung auch als Möglichkeit sieht, um Ortskirchen aufzuwerten.“ Bernhard Lichtenberg sei selig gesprochen worden, „weil Berlin eben auch sagt, ja, wir haben jetzt einen, es ist ja ein junges Bistum, es existiert erst seit 1930 und wir haben niemanden“ (Hieber u.a., „Interview mit Pater Georg Schmidt“ 25).

Lichtenberg wurde also nicht bewußt selig gesprochen, um von der Verstrickung der katholischen Kirche im Dritten Reich abzulenken, weil die Motive, die öffentlich gemacht wurden, ganz andere waren. Ich kann nicht darüber urteilen, inwieweit die genannten Motive aufrichtig sind und ob nicht doch insgeheim oder gar unbewußt der Wunsch mitschwang, von der Verstrickung abzulenken und eine Ausrede vorzubringen, denn darüber kann nur spekuliert werden. Bei der Beurteilung der Motive für die Seligsprechung Lichtenbergs kann nur das als Grundlage genommen werden, was bekannt wurde.

3. Erste Belege für die Hypothese

Was der Papst offiziell anläßlich der Seligsprechung Lichtenbergs verlautbaren ließ, bestätigt indes meine oben genannte Hypothese. Papst Johannes Paul II. sagte am 23. Juni 1996 im Olympiastadion, als er Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner selig sprach:

„Christus ist der Weg. Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner haben dies in einer Zeit bezeugt, in der viele den rechten Weg verlassen hatten und aus Opportunismus oder Angst in die Irre gegangen sind. Wer den Weg der beiden Märtyrer betrachtet, weiß, ihr Martyrium war kein zufälliges Mißgeschick auf ihrem Lebensweg, sondern die letzte und zwangsläufige Konsequenz eines Lebens, daß in der Nachfolge Christi gelebt wurde.“ (Der Papst in Berlin).

Bei der Erklärung klingt an, was ich an der Seligsprechung Lichtenbergs kritisiere. Eine Funktion der Seligsprechung Lichtenbergs ist es, daß die Kirche demonstrieren möchte, daß christlicher Glaube nicht mit dem Nationalsozialismus kompatibel ist. Ich meine aber, daß die Erklärung des Papstes einen ganz offensichtlich falschen Gedanken enthält, wenn hier behauptet wird, daß der Katholische Glaube notwendig zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus führt.

4. Irrtum bei den Bedingungen für Widerstand

Der christliche Glaube ist keine notwendige Bedingung für Widerstand gegen den Nationalsozialismus, weil viele Nichtchristen ebenfalls Widerstand geleistet haben. Der christliche Glaube ist noch nichtmals eine hinreichende Bedingung für Widerstand gegen den Nationalsozialismus, weil viele Katholiken im Dritten Reich mitgemacht haben. Die Heraushebung Lichtenbergs steht im Widerspruch dazu, daß sich der Vatikan und Teile des Episkopats mit den Nationalsozialisten arrangiert haben. Es gibt einige Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus: 1. Die Vorstellung, daß die Meinungen und Aussagen des Oberhaupts (Papst/Führer) absolut wahr sind. 2. Der Antisemitismus wurde auch von zahlreichen Katholiken gehegt. 3. Nazis und Kirche hatten einen gemeinsamen Feind, den Kommunismus.

Im Fall Lichtenbergs läßt sich ganz gut nachweisen, daß christlicher Glaube nicht notwendig zum Widerstand gegen ein totalitäres System führt. Lichtenbergs Widerstand ist vor allen Dingen politisch motiviert.

Eine Tatsache ist es, daß sich Lichtenberg lange Zeit seines Lebens politisch engagierte und zeitweise auch BVV-Verordneter in Charlottenburg für die Zentrumspartei war. Aber die Anmerkungen Lichtenbergs in Hitlers Mein Kampf lassen meines Erachtens keinen Rückschluß auf religiöse Motivation zu. Hier geht es nicht um Gott, Jesus oder Glaubensinhalte; hier setzt sich Lichtenberg sehr weltlich mit einem politischen Gegner auseinander. Auf der Seite 456 von Mein Kampf forderte Hitler, daß den deutschen Jungen Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Nationalitäten anerzogen werden solle. Lichtenberg kommentierte ironisch diese Aussage mit der Randbemerkung: „Das wird eine Prügelei werden“ (Kock 149). Die anderen Beispiele sind ähnlich ideologiefrei. Ich finde nicht, daß an den Randbemerkungen Lichtenbergs der katholische Glaube durchschimmert; jedenfalls kann man es alleine anhand der Randbemerkungen nicht nachweis en. So schreibt auch Erich Kock zusammenfassend in Hinblick auf die Randbemerkungen Lichtenbergs, die jener bei der Lektüre von Mein Kampf gemacht hatte: „Aus seinen Äußerungen spricht aber auch der politische Mensch Lichtenberg, der Demokrat, der frühere Abgeordnete und Parlamentarier“ (Kock 156).

So sagt Werner Schultz, Leiter der Abteilung Lebenskunde des Humanistischen Verbandes e.V. in einem Interview mit Sebastian Voß, Susanne Komoll und mir über das Motiv für Widerstand Lichtenbergs zu Recht:

Es kann nicht der Glaube allein gewesen sein, weil zu viele Gläubige sich anders entschlossen haben; also es muß etwas dazu kommen, daß im Glauben eine Entscheidung für die Diktatur und im Glauben Entscheidungen gegen Diktatur getroffen werden kann. (Hieber u.a., "Interview Werner Schultz" 27).

5. Eine politisch unsensible Entscheidung?

Durch die Seligsprechung Lichtenbergs suggeriert die Katholische Kirche der Öffentlichkeit, daß Katholizismus und Nationalsozialismus sich völlig ausschließen. Was treibt die Kirche zu solchen Erklärungen?

Wir haben gesehen, daß für die Seligsprechung Lichtenbergs seitens der an dem Kanonisationsverfahren beteiligten Personen nicht ursprünglich das Motiv bestand, katholische Verstrickung zu verhüllen. Aber andererseits war die Entscheidung, Lichtenberg selig zu sprechen, nicht sensibel, denn es verzerrt die Wirklichkeit. Der Widerstand in den eigenen Reihen wird dadurch stark herausgehoben, während die Kooperation zwischen Katholiken und Nationalsozialisten zu wenig zur Sprache gebracht und meistens heruntergespielt wird. Die Kongregation scheint zuwenig darüber reflektiert zu haben, wie sich die Seligsprechung Lichtenbergs in die Gesamtpolitik der Kirche in Bezug auf die Aufarbeitung des Dritten Reiches einordnet. Zugespitzt formuliert, zugegeben polemisch: Wenn man Lichtenberg selig spricht, sollte man ruhig auch ein paar Exponenten der Kirche teuflisch sprechen. Den Menschen, die sich für die Seligsprechung Lichtenbergs einsetzten, kann man nicht vorwerfen, etwas absichtlich kaschieren zu wollen, aber man kann ihnen vorwerfen, aus Mangel an politischer Klugheit und wegen der falschen Einschätzung historischer Sachverhalte an der Verdunkelung eines Zusammenhangs mitzuwirken.

6. Überdimensionierung des Widerstandes

Ein wesentliches Problem der Seligsprechung Lichtenbergs ist es, daß es einem weit verbreiteten Verhaltensmuster Vorschub leistet. Die Verstrickung der katholischen Kirche wird heruntergespielt, entschuldigt oder manchmal gar bestritten; man schiebt Feigenblätter vor, verweist auf die wenigen Widerständler und beschreibt die Situation der Schweigenden schillernd als auswegslos. Letztere hätten eben nicht anders gekonnt. Die katholische Kirche neigt dazu, ihren Widerstand gegen das Dritte Reich, den es in Maßen tatsächlich gab, aufzubauschen.

Lichtenberg ist kein Einzelfall. Die katholische Kirche ist darum bemüht, nachzuweisen, das ein Großteil des katholischen Klerus im Dritten Reich Widerstand geleistet habe. Professor Dr. Ulrich von Hehl verfaßte zum Beispie l unter der Mitwirkung der Kommission für Zeitgeschichte und den Diözesanarchiven das Buch Priester unter Hitlers Terror, welches 1984 erschien. Kein Berufsstand sei so Repressalien unterworfen gewesen, wie die Katholischen Priester. Auch Bernhard Lichtenberg gehörte zu diesem Berufsstand. Dr. Gotthard Klein bezieht sich auf Hehls Untersuchung in dem Interview mit uns:

(...) kein Berufsstand [ist] in der deutschen Gesellschaft stärker jemals also mit der Gestapo in Berührung gekommen (...), als der katholische Klerus. Von den etwa 30.000 Geistlichen, die es gegeben hat, sind nachweislich, hier in den zwei Büchern (weist mit dem Finger, sich nach hinten drehend, auf zwei Bücher im Regal), können sie nachlesen, mit Namen aufgelistet 12.000 (...) die in irgendeiner Form, sicher, es gibt da Abstufungen, (...) sei es Verwarnung, die ein Verhör bekommen haben, etwa 150 Geistliche haben ihr Leben verloren. Für die polnischen Geistlichen natürlich im Vergleich dazu viel stärker, weil da natürlich die rassistische Ausrottungspolitik eine Rolle gespielt hat. (Hieber u.a., „Interview mit Dr. Klein“ 12)

Ein Problem der Einschätzung Professor Hehls, keine Berufsgruppe sei so stark der Verfolgung ausgesetzt gewesen, wie die katholischen Priester, ist, daß es keinen Vergleich gibt. So sagte auch Dr. Klein: „Aber es ist von keinem Berufsstand, jedenfalls bisher empirisch nachprüfbar belegt worden, daß also eine größere Verfolgung stattgefunden hat“ (Hieber u.a., „Interview mit Dr. Klein“ 12, Hervorhebung durch mich). Für andere Berufsgruppen haben keine empirische Nachprüfungen stattgefunden, wie stark sie vom Holocaust betroffen waren. Es gibt keine Aufstellung darüber, welchen Berufsgruppen die Millionen von Verfolgten und Opfern des Holocausts und des Krieges angehörten.

Ein weiteres Handicap der Untersuchung Hehls ist es, daß es sich auf Grund ganz anderer Kriterien als dem Beruf entschied, wer im Dritten Reich Repressalien unterlag oder getötet wurde. „Die vier Hauptgründe, aufgrund derer im Nationalsozialismus angeschuldigt, verhaftet und getötet wurde: Rasse (...), Nationalität (...), Religion (...), Politik (...)“ (Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen 19). In einem anderen Text werden die Opfer der Nazis folgendermaßen klassifiziert: „Deutsche haben Millionen Juden, Intellektuelle, Sozialisten, Zigeuner, Künstler und geistig Kranke gequält und ermordet“ (Koch 9). Auch Homosexuelle und Körperbehinderte gehörten zu den Opfern. Bestimmte Berufsgruppen finden sich in diesen Aufzählungen nicht. Der Grund für einen relativ hohen Anteil der Priester an den Opfern wäre also nicht, daß die katholischen Geistlichen gezielt und pauschal verfolgt wurden.

Auch war der katholische Glaube nicht per se ein Verfolgungsgrund, erstens weil das ideologische Ressentiment gegenüber dem katholischen Glauben weitaus nicht so stark war, wie gegenüber dem jüdischen Glauben und zweitens etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung katholisch war, unter anderem auch Anhänger Hitlers. Mag sein, daß Hitler zwar katholis ch getauft war, aber der katholischen Kirche feindlich gegenüber stand und mit dem katholischen Glauben nicht viel anfangen konnte; er hätte jedenfalls aus machtstrategischen Gründen nicht die Hälfte der Bevölkerung gegen sich aufbringen mögen, in dem er den katholischen Glauben pauschal zum Verfolgungsgrund erklärt hätte. Hitler wurde unter anderem von Katholiken gewählt und Katholiken waren auch am Holocaust beteiligt. Mit wem hätte er den Krieg führen sollen, wenn nicht auch mit den zahlreichen katholischen Soldaten?

Die Katholiken sind keine Opfergruppe, auch wenn Katholiken Opfer wurden, denn es gab auch zahlreiche Katholiken, die in der Nazizeit mitgemacht haben. Auch sind nicht alle katholischen Priester verfolgt worden, sondern nur diejenigen, die sich dem Nationalsozialismus mutig widersetzt haben. Zudem zählt Hehl in seiner Untersuchung alle Repressalien, die katholische Priester durch die Nazis erdulden mußten, auf, also auch geringfügige Repressalien. Die katholischen Geistlichen wurden zwar von Leuten wie Goebbels beschimpft oder von Leuten wie dem relativ einflußlosen Parteiideologen Rosenberg gehaßt; es gibt auch Priester, die ermordet wurden; aber die katholischen Geistlichen wurden nicht systematisch verfolgt und gemordet wie die Juden, die Sinti und die Roma, die Behinderten, die Homosexuellen und andere Opfergruppen.

Es reicht, wenn die Katholische Kirche auf ihre Opfer und die Widerständler hinweist, ihrer gedenkt und über sie berichtet. Der Superlativ, mit welchen die katholische Kirche den Widerstand ihrer Priester im Dritten Reich anpreist, ist bei der Aufzählung der Opfer des Dritten Reichs fehl am Platz.

Es wird also erkenntlich, wie mit der Vergangenheit der Kirche bisher umgegangen wurde: Überdimensionierung der Verdienste, kaum Eingeständnisse für die eigene Verstrickung. In diesem Zusammenhang steht die Seligsprechung Lichtenbergs. Die Seligsprechung Lichtenbergs steht im Widerspruch zu dem Arrangement vieler Katholiken mit den Nazis. Diesbezüglich fährt die katholische Kirche in ihrer Argumentation zweigleisig. Während sie den Widerstand Lichtenbergs hervorhebt, wird die diplomatische Haltung Papst Pius XII. als die bestmögliche Verhaltensweise genannt. Damit begibt sich aber die katholische Kirche in Widerspruch zu der von ihr verbreiteten Opferideologie.

7. Die Ideologie des Opfers

Bisher habe ich nur den Umgang mit dem Schicksal Lichtenbergs in Bezug auf die Verarbeitung der Vergangenheit der katholischen Kirche im Dritten Reich kritisiert. Aber es gibt noch einen weiteren Kritikpunkt bei der Seligsprechung Lichtenbergs. Im Seligsprechungsprozeß für Lichtenberg als Märtyrer mußte notwendig nachgewiesen werden, daß eine Todesbereitschaft Lichtenbergs und eine Tötungsbereitschaft der Nazis bestanden habe. Im Verlauf des Seligsprechungsprozesses für Lichtenberg fand am 30. März 1993 eine Beratung der Theologen statt.

Daraufhin haben die Kardinäle und Bischöfe, die zur Prüfung des Martyriums des Priesters Bernhard Lichtenberg zusammengerufen waren, nach Darlegung der Vorlage durch Alfons Maria Kardinal Stricker bekannt, jener Priester habe freiwillig sein Leben für den Glauben geopfert und sein Tod sei die Folge der Drangsale und Mißhandlungen, die er in Gefangenschaft erlitten hat und deshalb habe er als wahrer Martyrer zu gelten. (zit. in Kock 179)

Die Kritik an der Opferideologie hat zwei Stoßrichtungen. Erstens wird die Frage aufgeworfen, ob menschliche Gesellschaften überhaupt Opfer brauchen und wenn ja, in welcher Art und in welchem Maß. Zweitens - und dafür braucht man die erste Frage nicht endgültig beantwortet zu haben - ist Zielpunkt der Kritik die Diskrepanz zwischen dem Märtyrerideal, welches in der katholischen Kirche durch Selig- und Heiligsprechungen hochgehalten wird und dem diplomatischem Taktieren der Katholischen Kirche gegenüber den Regierungen totalitärer Staaten.

Wie kann man eine Form des Widerstandes als vorbildhaft hinstellen, in welcher der Tod bewußt in Kauf genommen und nicht nur als Risiko akzeptiert wird? Ist eine solche Opferideologie, bei der es ausschließlich darum geht, daß der Einzelne die Idee bis zum Schluß nicht verrät, überhaupt sinnvoll und muß über das Maß und die Art des Opfers nicht neu nachgedacht werden? Ist der Tod und die Unterordnung der eigenen Interessen unter die einer Religio n nicht ein viel zu hoher Preis, den ein Gläubiger zahlen muß? Werner Schultz, der Religionswissenschaften studiert hat, ist ein scharfer Kritiker der Opferideologie der Religionen:

Und was mir ein wenig Grausen bereitet, ist, daß viele Religionen ihre Vorbilder als Märtyrerfiguren stilisieren und daß in dieser Heiligenverehrung eine unglaubliche Opferverehrung mit verbunden ist, das schreckt mich sehr. Das ist aus historischen Erfahrungen sicherlich erklärbar. Auch dort würde ich lieber Übersetzungsbemühungen versuchen, zu fragen, was ist es, was Menschen mit diesem Heiligen verbinden? Diese große Leistung der Märtyrer, bis zum Schluß die Idee nicht verraten zu haben, durch alle Schmerzen, durch alle Folterungen hindurch; oftmals mußten sie einmal sterben und wiedergeboren werden, um das zu leisten. Das ist natürlich eine große Utopie, nicht der wirklichen Zerstörung unterworfen zu sein, ein verratsfreies Bündnis zu haben, mit in dem Falle einer religiösen Idee. Aber es ist weiter zu denken mit einer menschlichen Utopie. Das ist das große Angebot, was die Heiligen machen, daß so etwas möglich wäre. Mir wird zu wenig in den Heiligenlegenden reflektiert auf den Preis, den das hat. Also der Preis ist die Opferstruktur dieser Heiligenlegenden, die da heißt, es ist nur durch das Opfer das Heil machbar. Und mich interessiert natürlich auch für eine zukünftige Gesellschaft, für eine Utopie, die befreiend ist, wie ist Bündnisfähigkeit ohne Verrat möglich mit, sagen wir mal vorsichtig, so wenig Opfern wie möglich. (Hieber u.a., „Interview Werner Schultz“ 9)

Den Preis des Todes möchten die Leute, die den Märtyrertod als vorbildlich darstellen, gar nicht zahlen. Viele Päpste waren zwar selbst Märtyrer, aber das ist längst Vergangenheit. In dem Dokumentationsfilm „Papst Pius XII. und der Holocaust“ wird eine Episode aus dem Leben von Pius XII. geschildert, die demonstriert, daß Pius XII. nicht bereit war, daß katholische Märtyrerideal für sich anzunehmen (Knopp u.a.). Als am Morgen des 16. Oktober 1943 ein SS- Kommando damit begann, Juden aus Rom in den Norden zu deportieren, wurde der Papst alarmiert, einzuschreiten und öffentlich zu protestieren. Der Papst drohte dem deutschen Stadtkommandant sowie dem deutschen Botschafter im Vatikan, Ernst von Weizsäcker, daß er öffentlich protestieren werde, wenn die Deportationen fortgesetzt würden. Doch Weizsäcker zögerte, die Drohung von Pius nach Berlin zu melden. Richard von Weizsäcker erklärte das Verhalten seines Vaters:

Im übrigen stand immer noch so halb und halb im Raum die Frage, ob die ursprünglichen Absichten bei Hitler, möglicherweise den Vatikan zu besetzen oder gar den Papst zu entführen, ob die nicht vielleicht neue Belebung erfahren würde, wenn es hier zu einem, zu einer öffentlichen, weltöffentlichen Karambolage kommen würde. (Knopp u.a.).

Die Razzien wurden aufgrund der Drohung des Papstes eingestellt, doch war es schon zu spät, denn 1000 Juden wurden in den sicheren Tod deportiert. Nun, als die Deutschen die Bedingungen des Papstes offensichtlich nicht erfüllten, machte der Papst seine Drohung nicht etwa wahr, sondern schwieg. Lia Levi, römische Jüdin, verurteilt das Verhalten des Papstes: „Pius XII. hat am 16. Oktober eine Unterlassung begangen. Denn er als er sah, wie Juden unter seinen Augen deportiert wurden, hat er geschwiegen“ (Knopp u.a.).

8. Logische Widersprüche

Es könnte eingewandt werden, daß diejenigen Katholiken, die mit den Nazis kollaborierten, entweder nicht richtig verstanden haben, was Katholizismus ist oder zahlreiche „Sünden“ begingen. Was ist aber die Richtschnur für wahren katholischen Glauben? In der katholischen Kirche gilt dogmatisch, daß der Papst unfehlbar sei. Sein Verhalten ist also das Gradmesser für richtiges katholisches Verhalten. Wenn man nun das Verhalten von Papst Pius XII. gegenüber den Nationalsozialisten betrachtet und in Erwägung zieht, daß sein Verhalten als unfehlbar gilt, das aber zu der Erklärung zur Seligsprechung Lichtenbergs, die ich im dritten Kapitel dieses Aufsatzes zitiert habe, in Beziehung setzt, kann man sehr präzise den logischen Fehler feststellen, den Papst Johannes Paul II. begeht:

1. Erste Prämisse (Dogma): Bestandteil der katholischen Glaubenslehre ist das Dogma, daß der Papst unfehlbar sei.
2. Zweite Prämisse (Tatsache): Der Papst Pius XII. hat nur sehr wenig Widerstand gegen die Faschisten geleistet und hat sein Leben nicht für den Glauben aufs Spiel gesetzt.
3. Conclusio: Aus der Katholischen Glaubenslehre folgt nicht notwendig, daß ein Gläubiger gegenüber den Faschisten sehr viel Widerstand leis tet und sein Leben für den Glauben aufs Spiel setzt.
4. These von Papst Johannes Paul II: Ein Martyrium ist kein zufälliges Mißgeschick auf einem Lebensweg, sondern die letzte und zwangsläufige Konsequenz eines Lebens, daß in der Nachfolge Christi gelebt wurde.

Die Aussage 3, die aus Aussage 1 und Aussage 2 abgeleitet wurde, steht zur Aussage 4 im Widerspruch. Aussage 3 und Aussage 4 können nicht ohne logischen Widerspruch gleichzeitig behauptet werden. Aussage 4 läßt sich nicht von den ersten beiden Aussagen ableiten. Damit ist Papst Johannes Paul II widerlegt. Ein Martyrium ist keine zwangsläufige Konsequenz des katholischen Glaubens.

9. Trauerarbeit auf gut katholisch

Aber es gibt auch vorsichtige Schritte zu einer angemessenen Aufarbeitung der Verstrickung der Kirche im Dritten Reich, die aber vorerst noch halbherzig sind. In der Erklärung der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden „Wir Erinnern - Reflexionen über die Shoa“ wird eingestanden, daß Söhne und Töchter der katholischen Kirche durch Schweigen Schuld auf sich genommen hätten (Cassidy u.a. 12). In dieser Erklärung wird es so dargestellt, als sei eines der Ursachen für den Holocaust in christlich geprägten Ländern Europas ein durch die gesamte Geschichte sich ziehender Konflikt zwischen Christen und Juden, deren Ursprung eine Interpretation des Neuen Testaments sei, nach der man die Juden für den Kreuzestod von Jesus verantwortlich machte. Diese Interpretationen seien in der christlichen Welt, nicht aber von der Katholischen Kirche gehegt worden. Zudem hätten Christen ganz allgemein nicht-christliche Minderheiten benachteiligt und diskriminiert. Die Juden hätten an ihren Bräuchen und Traditionen festgehalten, was zusätzlich zu Argwohn und Mißtrauen geführt habe.

Die hohen Forderungen der Siegermächte an Deutschland nach dem ersten Weltkrieg führte zum Aufkommen des Nationalsozialismus und damit auch ihrer rassistischen Theorie. Die Kirche in Deutschland habe diesen Rassismus verurteilt. „Nach der „Kristallnacht“ sprach der Dompropst von Berlin Bernhard Lichtenberg öffentliche Gebete für die Juden. Er starb in Dachau und wurde später seliggesprochen“ (Cassidy u.a. 9).

In Enzykliken von Papst Pius XI. und Papst Pius XII. wurden der Rassismus verurteilt und die Vergöttlichung des Staates abgelehnt. Die Kirche habe immer die Einheit des Menschengeschlechts gepredigt; der Feindseligkeit und des Antijudaismus machten sich aber auch Christen schuldig.

Die Nationalsozialisten indes hätten nicht nur die Vorstellung Gottes abgelehnt, sondern Gott regelrecht gehaßt; sie wollten die Kirche den Interessen des Staates unterwerfen, wenn nicht sogar vernichten. „Die Shoah war das Werk eines typisch modernen neuheidnischen Regimes. Sein Antisemitismus hatte seine Wurzeln außerhalb des Christentums“ (Cassidy u.a. 10).

So als ob es gar nicht zum großen Teil Christen gewesen waren, die den Holocaust durchführten, wird die Frage gestellt: „Machten ihre Ressentiments gegen die Juden die Christen weniger sensibel oder gar gleichgültig gegenüber den Judenverfolgungen durch die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung?“ (Cassidy u.a. 10). Doch sofort schieben die Verfasser eine Relativierung nach, wenn sie behaupten, daß die christlichen Ressentiments gegenüber den Juden nur einige von vielen Faktoren für das Schweigen zum Holocaust gewesen seien; zudem hätten die meisten nichts von der „Endlösung“ gewußt.

Auch christliche Länder hätten die Aufnahme jener asylsuchender Juden abgelehnt, die aus Deutschland ausgewiesen wurden, obwohl man in Anblick der Massendeportationen das Schlimmste hätte befürchten müssen. „Haben die Christen den Verfolgten und insbesondere den verfolgten Juden jede mögliche Hilfe zuteil werden lassen?“ (Cassidy u.a. 11).

Viele hätten, sogar unter Gefährdung ihres eigenen Lebens geholfen, andere aber nicht. Bei denen, die nicht geholfen haben, gab es auch einige, die beim Verschwinden ihrer jüdischen Nachbarn entsetzt waren, aber „doch nicht die Kraft zum sichtbaren Protest fanden“ (Cassidy u.a. 12).

Die katholische Kirche verurteile jegliche Verfolgung eines Volkes oder einer Gruppe von Menschen, die mit den Grundsätzen des Christentums unvereinbar seien.

Am Ende dieses Jahrtausends möchte die katholische Kirche ihr tiefes Bedauern über das Versagen ihrer Söhne und Töchter aller Generationen zum Ausdruck bringen. Dies ist ein Akt der Umkehr und Reue, da wir als Glieder der Kirche sowohl an den Sünden als auch an den Verdiensten all ihrer Kinder teilhaben. (Cassidy u.a. 13).

10. Einschätzung der Erklärung „Reflexionen über die Shoa“

10.1 Nur das Schweigen und nicht die Taten werden eingestanden

Die Erklärung ist zu diplomatisch; denn es geht in der Erklärung nicht um das Mitwirken von Katholiken am Holocaust, sondern nur um ihr Schweigen. Der Oberrabiner Lau zeigte sich im Spiegelgespräch enttäuscht von der Erklärung des Vatikans zum Holocaust (Lau, 42). Es habe auf die Kommission wohl großen Druck gegeben, denn sie habe sich in ihrer Erklärung nur auf die Sünde des Schweigens bezogen. Er sieht es aber als einen Anfang einer kritischen Aufarbeitung. „Der Versuch der Versöhnung ist lobenswert, der jetzige Papst ist ernsthaft bemüht, das jüdische Volk um Vergebung um das zu bitten, was in den letzten Jahrtausenden geschehen ist“ (Lau, 42-43). Er hoffe auf eine weitere, sehr viel deutlichere Erklärung. Insbesondere müsse die Kirche eingestehen, zu wenig getan zu haben, um Juden zu retten.

10.2 Freispruch für den Papst

Der damalige Papst Pius XII. wird völlig von Schuld freigesprochen. Auch Papst Pius XII. und sein Schweigen müßten deutlich beurteilt werden, denn er habe eigentlich gegen den Massenmord der Nazis protestieren müssen, führt Lau fort. Der Papst habe geschwiegen, weil er meinte, daß er durch seinen öffentlichen Protest die Nazis aufgestachelt und dadurch die Juden zusätzlich gefährdet hätte. Lau hält dem entgegen, daß viele unschuldige Menschenleben gerettet worden wären, wenn Pius XII protestiert hätte. „Aber wir haben vom Papst kein offenes, kein mutiges Wort in dieser dunklen Zeit gehört“ (Lau, 43).

„Wir haben es hier mit einer sehr unvollständigen Beichte zu tun“, kommentiert Rudolf Augstein die Erklärung (Augstein, 38). Weil die Päpste sich zuvor noch nicht zu der Schuld der Kirche beim Holocaust geäußert hätten, habe ein Nachholbedarf bestanden. Doch so sei die Entschuldigung nicht ernstzunehmen. Man wolle das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes nicht aufgeben. Man könne von Papst Johannes Paul II. nicht viel erwarten, was die Aufarbeitung der Versäumnisse seines Vorgängers angehe, da er selber lieber zu den Mächtigen, auch den blutigen Diktatoren, diplomatische Beziehungen aufrecht erhalte, anstatt bei jenen über ihre Bluttaten zu protestieren.

10.3 Der Widerstand hat einen Absender, die Täterschaft nicht

Warum taucht in einer Erklärung, in der die katholische Kirche eigentlich ihre Trauer über das Verhalten ihrer „Söhne und Töchter“ ausdrücken möchte, plötzlich der Name Bernhard Lichtenberg auf? In dieser Erklärung hätte der Name Lichtenberg nur dann etwas zu suchen, wenn man auch die Namen derjenigen Pfarrer, Bischöfe und Kardinäle genannt hätte, die im Dritten Reich mitgemacht haben. Man hätte eigentlich nur dann auf den Widerstand in den eigenen Reihen hinweisen dürfen, wenn man die Verstrickung der Katholischen Kirche im Dritten Reich ausreichend eingestanden hätte. In diesem Zusammenhang wirkt die Erwähnung Lichtenbergs tatsächlich wie ein Feigenblatt. Bevor die Katholische Kirche nicht weitere, entschiedenere Erklärungen abgibt und sich nicht dazu äußert, wie man das totalitäre nationalsozialistische Regime unterstützen konnte, steht die Seligsprechung Lichtenbergs im grellen Licht.

11. Zusammenfassung

Es ist sicherlich beachtenswert, daß Lichtenberg Widerstand geleistet hat. Er hat zwar keine Juden oder andere Verfolgten versteckt; er hat auch nicht wie Oskar Schindler Juden die Reise ins Ausland ermöglicht, aber er hat wenigstens von der Kanzel herunter etwas gegen den Antisemitismus gesagt.

Die Intention für die Seligsprechung Lichtenbergs war es nicht, von der eigenen Verstrickung abzulenken. Das heißt aber nicht, daß nicht doch der Verweis auf den Märtyrer Lichtenberg als Feigenblatt dient. Ich behaupte ja nicht, daß eine böse Absicht der am Seligsprechungsprozeß Beteiligten besteht; ich habe nur den Eindruck, daß hier sehr menschlich, vielleicht allzumenschlich, versucht wird, Kritik und Selbstkritik zu entschärfen durch falsche Gewichtung, durch irgend etwas, was man vorschiebt, im Sinne einer schlechten Ausrede. Es tritt ja nicht - zugespitzt formuliert - eine Gruppe führender Katholiken zusammen und sagt: „Durch unsere Verstrickung im Dritten Reich hat das Image der Kirche Schaden genommen. Nun müssen wir uns einen Reklametrick ausdenken, um wieder populär zu werden!“

Störend ist, wie manche Katholiken auf die Kritik an dem Arrangement der katholischen Kirche mit dem nationalsozialistischen Regime reagieren, in dem sie auf die wenigen Widerständler in den eigenen Reihen wie Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner verweisen. Alleine von solchen Ausnahmen zu sprechen, ist keine adäquate Antwort auf die Vorwürfe gegenüber der katholischen Kirche. Vielmehr muß das Verhalten der gesamten Kirche im Dritten Reich betrachtet werden und solche Märtyrer dürfen nicht als Feigenblatt vorgeschoben werden. Solange die Kirche ihre Verstrickung im Nationalsozialismus nicht ausreichend aufarbeitet, stimmen bei der Heraushebung der Widerständler durch Seligsprechung die Proportionen nicht. Dem Widerstand wird zuviel Aufmerksamkeit zuteil, der Verstrickung zuwenig.

Verzeichnis der benutzten Quellen

Augstein, Rudolf. „Sünder ohne Reue“. Der Spiegel Nr. 13 (1998): 38.

Cassidy, Edward Idris, Pierre Duprey und Remi Hoeckmann. Wir erinnern: Eine Reflexionüber die Shoa. Hg. Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden. Rom, 16. März 1998.

Deschner, Karlheinz. Mit Gott und dem Führer- Die Politik der Päpste zur Zeit des Nationalsozialismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1988.

Eßer, Ambrosius. „Die Helfer Gottes in der Sicht eines amerikanischen Autors“. Deutsche Tagespost Nr. 108 (7. September 1991): 5.

Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen, Hg. Konzentrationslager - Dokument 321. Durchgesehen, erläutert und mit einem Vorwort versehen von Peter Neitzke und Martin Weinmann. Frankfurt am Main: 2001-Verlag, 1995.

Hieber, Markus und Sebastian Voß unter Mitwirkung von Susanne Komoll. Die Gewissensentscheidung des Dompropstes Lichtenberg. Videodokumentation. Berlin: 1998.

Hieber, Markus, Susanne Komoll und Sebastian Voß. „Interview mit Bruder Thaddäus“. [Comp.-schriftl.] Transkription. Berlin, 1998.

Hieber, Markus, Susanne Komoll und Sebastian Voß. „Interview mit Dr. Gotthard Klein“. [Comp.-schriftl.] Transkription. Berlin, 1998.

Hieber, Markus, Susanne Komoll und Sebastian Voß. „Interview mit Pater Burkhard“. [Comp.-schriftl.] Transkription. Berlin, 1998.

Hieber, Markus, Susanne Komoll und Sebastian Voß. „Interview mit Pater Georg Schmidt“. [Comp.-schriftl.] Transkription. Berlin, 1998.

Hieber, Markus, Susanne Komoll und Sebastian Voß. „Interview mit Roswitha Köppel“. [Comp.-schriftl.] Transkription. Berlin, 1998.

Hieber, Markus, Susanne Komoll und Sebastian Voß. „Interview mit Werner Schultz“. [Comp.-schriftl.] Transkription. Berlin, 1998.

„„In einem Meer von Blut“; - Oberrabbiner Israel Meïr Lau über die HolocaustErklärung des Heiligen Stuhls“. Der Spiegel Nr. 13 (1998): 42-43.

Johannes Paul II. Dekretüber das Martyrium Lichtenbergs, verkündet in Rom am 2. Juli 1994. Zit. in Erich Kock. Er widerstand. Bernhard Lichtenberg. Dompropst bei St. Hedwig, Berlin. Berlin: Morus Verlag, 1996.

Knopp, Guido, Maurice Remy und Henry Köhler. Vatikan - Die Macht der Päpste. Fernseh-Dokumentation in fünf Teilen. Erster Teil: „Pius XII. und der Holocaust“. ZDF 1997.

Koch, Klaus Georg. „Wie ich soll. Mehr als ein Streitritual älterer Herrschaften: Recht und Unrecht bei Bubis und Walser“. Berliner Zeitung Nr. 275 (23. November 1998): Seite 9.

Kock, Erich. Er widerstand. Bernhard Lichtenberg. Dompropst bei St. Hedwig, Berlin. Berlin: Morus Verlag, 1996.

Der Papst in Berlin. Video-Dokumentation. Sender Freies Berlin, 1996.

Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung. Bearbeitet von Ulrich von Hehl unter Mitwirkung der Diözesanarchive. Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Band 37. 3. wesentlich veränderte und erweiterte Auflage. Paderborn/München/ Wien/Zürich: Schöningh, 1996.

Schulz, Winfried. Das neue Selig- und Heiligsprechungsverfahren. Paderborn: Bonifatius-Verlag, 1988.

Sieger, Marcus. Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage. Würzburg: Echter Verlag, 1995.

„Vatikan - Die Macht der Päpste“. TV Hören und Sehen Nr. 45 (1997).

„Votum in St. Bernhard fiel positiv aus“. Katholische Kirchenzeitung Nr. 6 (8. Februar 1998): o.S.

Woodward, Kenneth L. Die Helfer Gottes - Wie die katholische Kirche ihre Heiligen macht. München: C. Bertelsmann Verlag, 1991.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der selige Bernhard Lichtenberg - Märtyrer oder Feigenblatt?
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Übung "Darstellende Religionswissenschaften"
Note
1,3
Autor
Jahr
1998
Seiten
19
Katalognummer
V103898
ISBN (eBook)
9783640022748
Dateigröße
376 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bernhard, Lichtenberg, Märtyrer, Feigenblatt, Darstellende, Religionswissenschaften
Arbeit zitieren
Markus Hieber (Autor:in), 1998, Der selige Bernhard Lichtenberg - Märtyrer oder Feigenblatt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103898

Kommentare

  • Gast am 30.11.2005

    Pius XII.

    Der Autor hat die kirchliche Lehre der Unfehlbarkeit nicht verstanden.

    Wer kann wirklich beurteilen, ob der Papst faktisch sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Kann man dies als Außenstehender von einem anderen fordern?

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Titel: Der selige Bernhard Lichtenberg - Märtyrer oder Feigenblatt?



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