Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungen
1 Abstract
2 Anwendung und Bedeutung der Heuristik in der Geberit
2.1 Die heuristische Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit
2.2 Die Geberit Gruppe
2.3 Die Herausforderung als Pionier
2.4 Das Aufwand-Ertrags-Dilemma in der Produktentwicklung
2.5 Hohe Kosten oder ein Mehrwert für die Kunden
3 Mit dem Avalanche-Check die Time-To-Market kürzen
und Folgekosten einsparen
3.1 Was Lawinenunfälle mit der Produktkonstruktion zu tun haben
3.2 Ableitung der "Lawinen-Heuristiken" auf die Produktentwicklung
3.3 Anwendung der "Lawinen-Heuristiken" in die Geberit-Welt
4 Kritische Auseinandersetzung, Zielerreichung und Empfehlung
4.1 Chancen und Risiken des "Avalanche-Checks"
4.2 Viele Unsicherheiten sind noch zu klären
4.3 Zielerreichung und Empfehlung
5 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Meilensteine der IPE-Projekte
Abb. 2: Ableitungsvergleich der "Lawinen-Heuristiken" und die Chancen und Risiken für die Produktentwicklung
Abb. 3: Avalanche-Check für Produktentwicklungsteams. 10
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1Abstract
Die Geberit, als Pionier in der Sanitärbranche, bringt jährlich neuartige Produkte auf den Markt (Geberit International AG, 2020). Als Vorreiter (First Mover) ist nachteilig, dass keine Wettbewerbsprodukte zur Orientierung für Entscheidungen herangezogen werden können. In der Produktenwicklung werden bereits heute bewusst oder unbewusst heuristische Entscheide getroffen.
Diese Arbeit hat die Zielsetzung, dass durch explizite Anwendung heuristischer Ansätze die Time-To-Market gekürzt werden kann ohne dabei den Wettbewerbsvorsprung zu verringern. Letztlich soll dazu ein Hilfsmittel für Produktenwickler geschaffen werden, das im Alltag eingesetzt werden kann.
Als Grundlage dient die Studie von McCammon (2004) über Lawinenunfälle in den USA, welche von Loebner (2018a; 2018b) für den Anlagen- und Maschinenbau-Konstruktion abgeleitet wurde. Im letzten Schritt ist die Ableitung auf Chancen und Risiken für die Produktentwicklung der Geberit International AG beurteilt worden.
Als Ergebnis ist der "Avalanche-Check" entstanden der neben der Fehlervermeidungsseite (Heuristische Fallen) auch eine Beschleunigungsseite hat. Der Check ist noch mit vielen Unsicherheiten behaftet, weshalb die Antwort auf die Fragestellung der Arbeit nicht abschliessend beantwortet werden kann. Als unmittelbare und unkomplizierte Massnahme, kann die Empfehlung gemacht werden, dass die Lawinenstudie sowie deren Ableitung in die Konstruktion, zur Sensibilisierung der Produktenwicklung, in Form eines Vortrags mit betriebseigenen Beispielen zugänglich gemacht werden sollte. Wenn damit bereits in der Entwicklung ein potenzieller Folgefehler entdeckt werden würde, würde sich der Aufwand um ein Mehrfaches rechnen (Schmitt & Pfeiffer, 2010, S. 153-154).
2Anwendung und Bedeutung der Heuristik in der Geberit
2.1Die heuristische Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Fragestellung mit welchen heuristischen Ansätzen sich die Time-To-Market, mit der "First-Mover-Strategie" in der Produktentwicklung der Geberit International AG (GIAG) verkürzen lässt, ohne dabei den Wettbewerbsvorsprung zu verringern. Letztlich ist das Ziel einen Geberit gerechten Ansatz zu beschreiben und eine Empfehlung auszusprechen.
2.2Die Geberit Gruppe
Die Geberit wurde 1874 von Caspar Melchior Albert Gebert als kleine Spenglerei in Rapperswil am Zürichsee gegründet. Heute ist die Geberit Gruppe europäischer Marktführer in der Sanitärtechnik und vertreibt die Produkte in rund 120 Ländern. Außerdem erfolgt die Marktbearbeitung in rund 50 Ländern mit eigenen Vertriebsniederlassungen. Global sind bei der Firma rund 12‘000 Mitarbeiter beschäftigt. Im Jahr 2019 erwirtschaftete die Geberit Gruppe einen Nettoumsatz von 3,1 Milliarden Schweizer Franken. Seit 1999 ist das Unternehmen an der Schweizer Börse kotiert und seit 2012 Bestandteil des SMI (Geberit International AG, 2020).
2.3Die Herausforderung als Pionier
Seit jeher zählt Geberit zu den Pionieren in der Branche und legt dabei grossen Wert auf die Forschung und Entwicklung qualitativ hochstehender und langlebiger Produkte. Die Bekennung zur Innovation widerspiegelt sich auch in der Strategie: "Bekenntnis zur Innovation und Design" (Geberit International AG, 2020, S. 17). Pionier zu sein bedeutet, dass das Unternehmen eine Vorreiterrolle in der Branche einnimmt und neue Produktideen als erstes im Markt platziert. Die Pionierarbeit erfordert jedoch einen hohen Aufwand in der Forschung und Entwicklung und ist mit vielen Unsicherheiten verbunden (Vahs & Brem, 2015, S. 110).
Während des kompletten Entwicklungsprozesses müssen viele Entscheide getroffen werden. Eine besondere Problematik der "First-Mover-Strategie" besteht darin, dass durch die Neuheit des Produkts kein Leistungsvergleich mit Wettbewerbern gemacht werden kann. Das sieht, bei den von Ansoff und Stewart (1967, S. 81-83) definierten Strategietypen "Follow The Leader", "Application Engineering" und "Me-Too" anders aus, da sie sich am First Mover orientieren können. Die richtigen Entscheide zum richtigen Zeitpunkt zu treffen, ist bei der First Mover Strategie eine grosse Herausforderung für Produktentwickler und deren Projektteams. Vorteilhaft ist ein Markteintritt mit einem ausreichend grossen Wettbewerbsvorsprung gegenüber nachfolgenden Mitbewerbern.
2.4Das Aufwand-Ertrags-Dilemma in der Produktentwicklung
Projekt Organisation. Im Rahmen des Geberit Produktinnovation Lifecycle (Geberit AG, 2020) arbeitet die Geberit mit zwei, der nach Filippov und Mooi (2010) klassifizierten Projektarten. Es sind dies "New Product Development Projects" und "Technology Projects". Beim Geberit Innovationsprozess Technologie (IPT), werden Projekte mit einem vereinfachten Ablauf (Projektdefinition, Technologieentwicklung, Abschluss) durchgeführt. Im Geberit Innovationsprozess Entwicklung (IPE), wird nach dem klassischen Phasenkonzept gearbeitet (Kuster, et al., 2018, S. 22-23). Das für die Geberit-Bedürfnisse leicht angepasste Phasenkonzept, durchläuft sieben Meilensteinen (siehe Abb. 1) mit definierten Lieferobjekten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Meilensteine der IPE-Projekte
Nach dem injizierenden Impuls für eine Produktidee, folgt der Projektantrag, welcher als relevantes Dokument für den Meilenstein 1 (M1) gilt. Typischerweise wird in der Vorklärungsphase das Projektteam zusammengestellt, Marktinteressen abgefragt und erste technische Abklärungen zur Produktidee gemacht. Mit dem M2 werden Meilensteintermine, der Markteinführungstermin und das Projektbudget beantragt und bei positivem Bescheid freigegeben.
Entscheid zu Terminen. Wie oben beschrieben wird der Produkteinführungstermin bereits zum Start des Projekts festgelegt. Die Geberit führt Produkte grundsätzlich einmal jährlich, zum 1. April ein. Der Entscheid über den Einführungstermin wird unter anderem anhand von Schätzungen über die Entwicklungsdauer gemacht. Grundlage dazu sind ähnliche Projekte oder Abschätzungen der Produktentwickler oder anderen Experten aus dem Bereich Forschung und Entwicklung. Im zweiten Schritt wird das Produkteinführungsportfolio konsultiert, um die Ressourcen für die Produkteinführung in den Märkten sicherzustellen.
Entscheide zu Produktanforderung. Die Produktanforderungen werden vom Projektteam während den ersten Phasen des Projekts entwickelt und beim M3 mittels Pflichtenheft festgeschrieben. Die Annahme und Streichung der Anforderungskriterien und dessen Ausprägung (Muss, Soll, Wunsch, Info) wird im ersten Schritt vom Projektteam vorgeschlagen. Mittels Review-Methode wird es mehrheitlich von projekt- aber nicht fachfremden Mitarbeitern überprüft und zur Annahme empfohlen bzw. abgelehnt. Offizielle Freigabe erfolgt über das Meilensteinmeeting.
Entscheid zum Anforderungserfüllungsgrad. Der Produktentwickler ist in der führenden Rolle, die Produktanforderungen zu überprüfen und diese vor den Meilensteinen einem Fachpublikum zu präsentieren und eine technische Freigabe auszustellen. Wie die Anforderungspunkte überprüft werden, wird i. d. R. im Vorfeld zusammen mit dem Anwendungstechniker (anwendungsbezogene Punkte) und Qualitätsplaner (Normen- und zulassungsbezogene Punkte) festgelegt, dann abgearbeitet und bewertet. Spezifischen Entwicklungsprüfungen, die mit den Eigenheiten und Neuartigkeit des Produkts zusammenhängen, werden vom Produktentwickler selbst definiert, bearbeitet und im Team beurteilt.
Einfluss der Entscheidungen auf die Mitarbeiter. Die Geberit hat mit der GIAG eine unabhängige und eigenständige Entwicklungsorganisation, wo auch die Produktentwicklung angesiedelt ist. Anders wie bei den Produktionsgesellschaften der Geberit, wird die Produktentwicklung der GIAG hauptsächlich an den Kosten- und Terminzielen der Entwicklungsprojekte gemessen. Die Ziele werden letztlich auf die Mitarbeiter heruntergebrochen und haben massgebenden Einfluss auf die jährliche Erfolgsbeteiligung.
Zusammengefasst stehen insbesondere Produktentwickler bei First Mover Projekten vor dem Dilemma der Aufwand-Ertrag-Entscheidungen. Anders wie bei Forschungsprojekten können bei Entwicklungsprojekten, bei denen die Zweckorientierung für ein marktfähiges Produkt im Vordergrund steht (Wicke, 1995), nicht alle Details bis aufs letzte geklärt werden. Viele dieser oben beschriebenen Entscheidungsfälle werden daher bereits heute in der Geberit, bewusst oder unbewusst mit heuristischen Ansätzen, gefällt.
Nachfolgend wird erläutert, welche Relevanz und Auswirkung die heuristischen Entscheidungen im Umfeld haben oder haben können.
2.5Hohe Kosten oder ein Mehrwert für die Kunden
Grundsätzlich können viele Entscheidungen, die in IPE-Projekten von den Produktentwicklern und den Projektteams getroffen werden, noch während dem Projekt geprüft werden. Jedoch gibt es bei First Mover Projekten auch Situationen, bei denen Entscheide aufgrund zeitlicher oder kostentechnischer Dringlichkeit getroffen werden müssen, deren Auswirkung erst später im Markt erkannt werden können. Das kann sich in Form von Qualitätsproblemen oder einem sofortigen Nachteil gegenüber den nachfolgenden Wettbewerbern äussern. In beiden Fällen kann das zu hohen Folgekosten führen.
Neben diesen Gefahren können durch schnelle Entscheide Entwicklungskosten eingespart werden. Die Produkte können schneller auf den Markt gebracht werden (Time-To-Market), was sich positiv auf die Zeit bis zum "Return on Invest" auswirkt. Wird die Durchlaufzeit der Projekte erhöht, werden auch Entwicklungsressourcen für neue Projekte frei. Dadurch können die nächsten Projekte früher gestartet werden, was sich wiederum zu einem Mehrwert für die Kunden durch mehr neue Produkte, auswirkt.
Im nächsten Teil werden Heuristiken von einer Studie über Lawinenunfälle abgeleitet und für die Produktentwicklungsumgebung übertragen. Im zweiten Teil wird aufgrund der Ableitung ein Anwendungswerkzeug für die Geberit vorgestellt.
3Mit dem Avalanche-Check die Time-To-Market kürzen und Folgekosten einsparen
3.1Was Lawinenunfälle mit der Produktkonstruktion zu tun haben
Nach dem Lawinentod eines erfahrenen Alpinisten und Freund von Ian McCammon, hat der promovierte Maschinenbauingenieur und begeisterte Skitourengänger beschlossen, nach der Ursache des Unfalls zu forschen. In diesem Zusammenhang hat McCammon (2004) 715 Lawinenunfälle zwischen 1972 und 2003, die in den USA geschahen, auf deren Ursachen untersucht. Gefunden hat er keine Bestätigung zu den gängigen Meinungen "sinnloses Risiko eingegangen", "zu wenig ausgebildet" oder "zur falschen Zeit, am falschen Ort gewesen", sondern den Beweis, dass bei den 93% der Lawinen, die selbstverschuldet ausgelöst wurden, eine Fehlentscheidung vorlag (Utzinger, 2004, S. 51-53). Utzinger (2004, S. 52) schreibt, dass es enorme Fachkenntnisse braucht, um die wesentlichen Entscheidungsgrundlagen zu erkennen, die eine zuverlässige Einschätzung der Lawinenverhältnisse zulässt. Daher neigten Menschen bei hoher Komplexität dazu, sich eher auf ad hoc Regeln oder Heuristiken zu verlassen. McCammon (2004) identifizierte in seiner Studie, die sechs folgenden Heuristiken: The Familiarity Heuristc (Vertrautheitsheuristik), The consistency Heuristic (Festlegungsheuristik), The Acceptance Heuristc (Anerkennungsheuristik), The Expert Halo Heuristic (Expertenheuristik), Social Facilitation Heuristic (Heuristik der sozialen Förderung), The Scarcity Heuristic (Seltenheitsheuristik).
Die Brücke zur Konstruktion wird in einem zweiteiligen Artikel geschlagen. Wie Loebner (2018a; 2018b), der Verfasser des Artikels, dem Autor der vorliegenden Arbeit in einem persönlichen Gespräch1 geschildert hat, kam ihm die Idee bei einer regnerischen Skitour. Nachdem der Bergführer einen Vortrag über Lawinen und deren Erkennungsmerkmale gehalten hat, hat er die Studie von McCammon erwähnt. Loebner, der selbst jahrelange Konstruktionserfahrung hat, konnte mittels weiteren Recherchearbeiten, sämtliche von McCammon ausgewiesenen heuristischen Fallen in die Konstruktion übertragen. Loebner (2018b) möchte mit seinem Artikel den berufstätigen Konstrukteuren Hilfe zur Selbstreflektion bieten. Dies ist Anlass für den Autor dieser Arbeit, mit Hilfe der Ableitung ein Hilfsmittel zu schaffen, wie die Heuristik gezielt im Produktentwicklungsalltag eingesetzt werden kann.
[...]
1 Telefoninterview (A. Loebner, persönliche Kommunikation, 4. Januar 2021)