Im 19. Jahrhundert entstand insbesondere mit Thomas Hobbes' und Karl Marx' Gesellschaftstheorien die sogenannte Herrschaftssoziologie, die vor allem das Zusammenleben der Menschen untersucht. Mit Max Weber ist eine herrschaftssoziologische Theorie entstanden, die bis heute die Soziologie prägt und Gegenstand der neueren Forschung ist. Georg Simmel hingegen gilt als Begründer der Konfliktsoziologie, wobei sein Ansatz ebenfalls wie bei Weber darstellt, welche Rolle Macht in der Gesellschaft hat. Obwohl beide Soziologen versucht haben, die Gesellschaft zu charakterisieren, können ihre Ansätze ebenfalls dazu dienen, die sozialen Strukturen und Figuren in Romanen zu interpretieren.
Mit Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß greift ein bedeutsamer Literaturtitel des frühen 20. Jahrhunderts beide Theorien auf, indem er den Konflikt um Macht und Herrschaft zwischen dem Protagonisten Josef K. und dem Gericht darstellt. Es ist unklar, ob Kafka beide Theorien zu seinen Lebzeiten rezipiert hat. Allerdings sind zentrale Aspekte der Theorien, wie z. B. die Darstellung eines unterdrückten Individuums und einer übermächtigen Institution, ebenfalls eindeutig im Roman festzustellen.
Darum versucht diese Arbeit vor allem die zentralen Thesen von Simmels und Webers Gesellschaftstheorien mit den Inhalten des Romans zu vergleichen. Diese Vorgehensweise lässt sich bislang kaum in der bisherigen soziologischen und literaturwissenschaftlichen Forschung finden und stellt deshalb einen sehr eigenständigen und zudem interdisziplinären Untersuchungsansatz dar. Zudem verzichtet diese Arbeit auf biografische und theologische Deutungen des Romans, sondern versucht den teils veralteten herrschaftssoziologischen Deutungsansatz des Romans wieder in den Vordergrund des Forschungsdiskurses zu rücken.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zeitgenössische Macht- und Konflikttheorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
- Max Webers Macht- und Herrschaftsbegriff
- Georg Simmels Konfliktsoziologie
- Der Beginn des sozialen Konflikts zwischen Josef K. und dem Gericht
- K.s Verhaftung als Vorausdeutung auf die Machtverhältnisse im Roman
- K.s scharfe Anklage als Machtdemonstration
- Die Konfliktmethoden und Machtdemonstrationen des Gerichts
- Die Geheimherrschaft und Allgegenwärtigkeit des Gerichts
- Die Abschreckungsstrategie des Gerichts
- Die Verschmelzung von K.s Arbeitsleben mit dem Gericht
- Weitere Konfliktlinien und Herrschaftsbeziehungen im Roman
- Frauen als Herrschaftsobjekt
- Der soziale Konflikt innerhalb des Gerichtsapparats
- K.s Akzeptanz der Herrschaft des Gerichts
- Fazit- Kafkas Roman Der Proceß als Spiegel sozialer Konflikte des frühen 20. Jahrhunderts
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht Franz Kafkas Romanfragment „Der Proceß“ aus soziologischer Perspektive. Ziel ist es, die im Roman dargestellten Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie die sozialen Konflikte anhand der zeitgenössischen Theorien von Max Weber und Georg Simmel zu analysieren. Durch die Einbettung des Romans in den Kontext der soziologischen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts soll ein tieferes Verständnis der im Werk aufgeworfenen Fragen nach der Natur von Macht, Herrschaft und Konflikt gewonnen werden.
- Der Konflikt zwischen dem Individuum und einer anonymen Macht im Kontext des modernen Lebens
- Die Rolle des Gerichts als Symbol für eine allgegenwärtige und unerklärliche Macht
- Die Auswirkungen von Macht und Herrschaft auf das Leben des Einzelnen
- Die Bedeutung von sozialen Konflikten im Wandel der Gesellschaft
- Die Relevanz der soziologischen Theorie für die Interpretation von literarischen Texten
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung gibt einen Überblick über den literarischen Kontext und die Relevanz des Romans „Der Proceß“. Es wird die historische Situation der Entstehung des Romans und seine Bedeutung in der modernen Literatur beleuchtet.
Kapitel 2 beschäftigt sich mit den relevanten soziologischen Theorien von Max Weber und Georg Simmel. Es werden deren Ansätze zu den Begriffen Macht und Herrschaft sowie zur Konfliktsoziologie zusammengefasst.
Kapitel 3 behandelt den Beginn des Konflikts zwischen Josef K. und dem Gericht. Es werden die Verhaftung K.s und die Anklage als erste Begegnung mit der Macht des Gerichts untersucht.
Kapitel 4 analysiert die Konfliktmethoden und Machtdemonstrationen des Gerichts. Die Geheimherrschaft, die Abschreckungsstrategie und die Einmischung in K.s Alltagsleben werden als Mittel des Gerichts zur Durchsetzung seiner Macht dargestellt.
Kapitel 5 erörtert weitere Konfliktlinien und Herrschaftsbeziehungen im Roman. Es wird die Rolle der Frauen als Herrschaftsobjekt und der soziale Konflikt innerhalb des Gerichtsapparats betrachtet.
Schlüsselwörter
Franz Kafka, Der Proceß, Macht, Herrschaft, Konflikt, Georg Simmel, Max Weber, Soziologie, Moderne, Gerichtsbarkeit, Bürokratie, Entfremdung, Ohnmacht, Individuum, Gesellschaft, soziale Strukturen, moderne Literatur, juristische Ordnung.
- Arbeit zitieren
- Lauritz Tufan (Autor:in), 2021, Franz Kafkas "Der Proceß" alsherrschafts- und konfliktsoziologischer Roman im Zeitalter der Moderne. Der Konflikt um Macht und Herrschaft als literarisches Motiv des frühen 20ten Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1041540