Wie lässt sich Hochkulturkonsum mittels des Modells der Frame Selektion erklären?


Hausarbeit, 2020

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Modell der Frame Selektion (MFS)
2.1 Die Definition der Situation und die variable Rationalität der Akteure
2.2 Konstruktion des MFS

3. Das MFS zur Erklärung von Hochkulturkonsum
3.1 Klassische mikrosoziologische Erklärungen von Hochkulturkonsum
3.2 Das MFS zur Erklärung von Hochkulturkonsum
3.3 Aufbau und Ergebnisse der Studie von Weingartner

4. Diskussion

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Nicht erst seit der Veröffentlichung von Pierre Bourdieus Werk ‚,Die feinen Unterschiede‘‘ (1987) ist weithin bekannt, dass Vorlieben für hochkulturelle Güter wie abstrakte Kunst, klassische Musik oder anspruchsvolle Literatur über die Gesellschaft hinweg ungleich verteilt sind. Die Tatsache, dass hochkulturelle Aktivitäten und Fähigkeiten wie Museumsbesuche, Opernbesuche und das Spielen klassischer Instrumente in Zusammenhang mit sozialstrukturellen Merkmalen stehen, wurde durch eine Vielzahl empirischer Studien nachgewiesen.

So wurden klare Disparitäten in den kulturellen Präferenzen und Aktivitäten zwischen Personen höherer und niedrigerer sozioökonomischer Positionen aufgezeigt (Bennett et al. 2009: 252). Neben vielen weiteren Einflussfaktoren lassen insbesondere das verfügbare Haushaltseinkommen und das Bildungsniveau von Personen Rückschlüsse darauf zu, ob Personen eher hochkulturelle oder massenkulturelle Güter (wie Schlagermusik und Musicalbesuche) konsumieren (Ganzeboom 1982). Zur Erklärung der gesellschaftlichen Disparitäten im Hochkulturkonsum reicht die einfache Beschreibung von sozialstrukturellen Faktoren, die unterschiedliche kulturelle Präferenzen und Aktivitäten bedingen, jedoch nicht aus. Einer solchen ‚,Variablen Soziologie‘‘, die darauf abzielt, durch Einbeziehen verschiedenster unabhängiger Variablen in ein statistisches Regressionsmodell die Varianz einer abhängigen Variable zu erklären, fehlt es an handlungstheoretischer Basis (Esser 1996: 164). Genauer fehlt es im Kontext der Erklärung von Kulturkonsum an einer Spezifikation des systematischen Zusammenhangs zwischen der sozialstrukturellen Position einer Person und ihrer daraus folgenden kulturellen Präferenzen und Handlungen. Schließlich ist es nicht das Einkommen, das Bildungsniveau oder das Berufsprestige, das eine Person dazu verleitet in die Oper zu gehen, sondern ihre sinnhafte Entscheidung für eine solche Handlung.

Mikrosoziologische Handlungsmodelle, die eine derartige Erklärungskraft haben und den Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Kulturpräferenz aufgreifen, existieren zwar, haben sich bisher jedoch nicht als fruchtbar erwiesen. So vermag es der Rational-Choice-Ansatz nicht, dispositionelle Orientierungen hin zu hochkulturellen Gütern zu erklären. Bourdieus Handlungsmodell des schichtspezifischen Habitus leistet dies, jedoch mangelt es dem Modell an analytischer Präzision (Weingartner 2013: 7). Gleichzeitig hat eine Theorie in die soziologische Forschung Einkehr gefunden, welcher nachgesagt wird, eine ‚,[...] übergreifende, gültige sozialwissenschaftliche Theorie [zu sein], nach der Soziologen und alle anderen Sozialwissenschaftler schon immer gesucht haben.‘‘(Opp 2019: 97): Das Modell der Frame Selektion (MFS), das auf Überlegungen von Hartmut Esser (2001) und Clemens Kroneberg (2005, 2011) fußt. Weingartner (2013) nutzt das MFS, um eine Erklärung von Hochkulturkonsum zu liefern.

Vor diesem Hintergrund soll es Ziel dieser Arbeit sein, anhand von Weingartners Überlegungen die Frage zu klären, wie das MFS zu Erklärung von Hochkulturkonsum herangezogen werden kann und ob sich Weingartners Handlungsmodell damit als allgemeine Theorie von Hochkulturkonsum eignet. Dazu werden in dieser Arbeit zunächst die Annahmen hinter dem MFS beleuchtet und die theoretische Konstruktion des MFS dargestellt. Daraufhin wird anhand der empirischen Studie von Weingartner (2013) dargestellt, wie sich das MFS zur Erklärung von Hochkulturkonsum eignet. Zuletzt wird auf Kritik an Weingartners theoretischer Konzeption von Hochkulturkonsum eingegangen.

2. Das Modell der Frame Selektion (MFS)

2.1 Die Definition der Situation und die variable Rationalität der Akteure

Den Hintergrund des MFS bildet der in den1 Wirtschaftswissenschaften entwickelte Rational-Choice-Ansatz, welcher Handlungen als eine Folge der Abwägung von Kosten und Nutzen von Handlungsalternativen charakterisiert. Der Ansatz operiert unter der Annahme, dass Personen bei der Wahl zwischen Handlungen immer die Alternative wählen, die den größten Nutzen bringt. Mittels der Modellierung von Präferenzen und Restriktionen, die sich für einen Akteur aus einer bestimmten Situation ergeben, liefert der Ansatz gesetzesartige Handlungserklärungen. Aufgrund analytischer Präzision, logischer Konsistenz und Sparsamkeit setzte sich das Handlungsmodell auch innerhalb der erklärenden Soziologie durch und fand weitreichende Anwendung in der empirischen Sozialforschung (Kroneberg 2005: 345). Im Laufe der Zeit wurden jedoch Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes aufgedeckt, die die Gültigkeit des Ansatzes als allgemeines Handlungsmodell grundsätzlich in Frage stellen. Seitens der Soziologie wurde vor allem bemängelt, dass der Ansatz den wichtigen Parameter der subjektiven Definition der Situation nicht berücksichtige. Zwar erkennt der klassische Rational-Choice-Ansatz unter dem Stichwort ,‚Logik der Situation‘‘, dass es bestimmte situative Umstände, wie verfügbare Ressourcen oder Mitakteure, regelrecht logisch erscheinen lassen, dass Akteure sich für eine Handlung entscheiden (Hill 2002: 24). Eine solche objektive Rekonstruktion der Situation lässt jedoch außer Acht, dass Menschen oftmals nicht in Anbetracht eindeutiger, intersubjektiv gültiger Fakten handeln, sondern immer auch subjektive Faktoren, wie internalisierte Normen und Kognitionen, in die Bewertung von Handlungsalternativen miteinfließen (ebd.: 32). Auf die Wichtigkeit der Wahrnehmung der Situation für die Handlung weist auch das in diesem Kontext viel zitierte Thomas-Theorem hin: ‚,If men define situations as real, they are real in their consequences‘‘ (Thomas & Thomas 1928, zitiert nach Opp 2019: 99).

Neben der fehlenden Integration der subjektiven Definition der Situation mangelt es der Rational-Choice Theorie ebenfalls an der Berücksichtigung kognitionspsychologischer Erkenntnisse. Insbesondere Daniel Kahnemann und Amos Tversky haben in ihrer Forschung darauf aufmerksam gemacht, dass Menschen keineswegs über uneingeschränkte Rationalität verfügen, sondern ihre Entscheidungen in vielen Situationen von Heuristiken abhängig machen (Sternberg & Sternberg 2016: 493ff.). Ihre und weitere Befunde führten dazu, dass in der Kognitionspsychologie von einem dual-process-Modell der Informationsverarbeitung ausgegangen wird, welches besagt, dass Menschen über zwei Modi der Entscheidungsfindung verfügen: Einen rationalen, abwägenden und einen automatischen, spontanen (ebd.: 52, vgl. auch Esser 2001: 254).

Der Anspruch des MFS besteht darin, subjektive Situationsdefinitionen sowie die Annahme variabler Rationalität mit der analytischen Präzision des Rational-Choice-Ansatzes zu vereinen.

2.2 Konstruktion des MFS

Das MFS nimmt an, dass Handlungen Resultat einer Abfolge der Selektion zwischen einer Menge an alternativen Frames, Skripten, und Handlungen sind2. Die Begriffe des Frames und des Skripts gilt es erst einmal zu klären. In beide Begriffe fließt die oben beschriebene akteurspezifische Definition der Situation mit ein. Akteure geben einer Situation durch ihre subjektive Interpretation der Wirklichkeit einen Rahmen (Frame). Mit dem Frame bedient sich das MFS eines Konzeptes der Kognitionspsychologie. So wird der Frame als ein mentales Modell oder Schema beschrieben, welches dazu dient, vorliegende Informationen schnell mit vorhandenem Wissen zu verknüpfen und somit die Komplexität der Situation zu reduzieren (vgl. Esser 2001: 262). Skripte sind mentale Modelle von Ereignissen. Sie umfassen ganze Handlungsprogramme, die ein Akteur für spezifische Situationen als angemessen betrachtet. Ein typisches Beispiel für ein Skript sind die Vorstellungen über den Ablauf eines Restaurantbesuchs (Hogg & Vaughan 2018: 52). Kroneberg (2011: 122) zufolge eignen sich Akteure im Zuge ihres Sozialisationsprozesses verschiedene Frames und Skripte an.

Laut dem MFS findet vor der Wahl zwischen Handlungsalternativen erst einmal eine Selektion eines situationsspezifischen Frames und eines daraus folgenden Handlungsskripts statt. Die sich daraus ergebende Handlungsorientierung fließt letztendlich in die Bewertung der Handlungsalternativen eines Akteurs ein.

Wichtig ist das in das MFS integrierte Prinzip der Modus-Selektion, durch welches das Modell der Annahme einer variablen Rationalität von Akteuren Rechnung trägt. Es existieren zwei verschiedene Modi der Informationsverarbeitung: Ein reflexiv-kalkulierender (rc-Modus) und ein automatisch-spontaner (as-Modus). Abhängig vom Modus können die drei Selektionsschritte (Frame-, Skript-, Handlungsselektion) jeweils mehr oder weniger kontrolliert und reflektiert ablaufen (Kroneberg 2011: 123). Das MFS spezifiziert genau, welche Bedingungen dazu führen, welcher Modus dabei selegiert wird. Zentrale Variable ist hier der Match – die Übereinstimmung zwischen Situation und mentalem Modell. Dieser ist umso größer, je stärker ein Frame mental verankert ist und je mehr die Situation diesem ähnelt (Kroneberg 2005: 351). Ein großer Match macht es wahrscheinlich, dass Frame, Skript und Handlung im as-Modus selegiert werden. Ein perfekter Match führt so ohne Abwägung von Kosten und Nutzen der Handlung zu unhinterfragtem, mechanistischem Verhalten auf der Basis eines Skripts. Dagegen bewirkt ein schwacher Match, dass der Akteur im rs-Modus über die Selektion von Frame, Skript und Handlung entscheidet – also bewusst über verschiedene Situationsdeutungen und Handlungsprogramme reflektiert und Kosten und Nutzen möglicher Handlungen abwägt (Kroneberg 2011: 135).

3. Das MFS zur Erklärung von Hochkulturkonsum

3.1 Klassische mikrosoziologische Erklärungen von Hochkulturkonsum

Das MFS verfolgt das Ziel, als allgemeine Handlungstheorie zu fungieren (Kroneberg 2005: 345). Geht es darum, Hochkulturkonsum zu erklären, zeigt sich in der Studie von Weingartner (2013), wie die Theorie innerhalb der Soziologie vorherrschende Handlungsmodelle in ein einheitliches Modell zu integrieren vermag. Diese klassischen Erklärungen gilt es zur Verständlichkeit im Folgenden kurz zu skizzieren.

Wie eingangs beschrieben berufen sich mikrosoziologische Erklärung hochkultureller Praxis und hochkulturellen Konsums primär auf die Rational-Choice-Theorie und Bourdieus Handlungsmodell des Habitus (Weingartner 2013: 5). Laut der Rational-Choice-Theorie entscheiden sich Akteure für die Art des Kulturkonsums, der für sie unter Berücksichtigung ihrer Präferenzen und der Kosten der Handlungsalternativen den höchsten Nutzen bringt. So verfügen Akteure über klare kulturelle Präferenzen, die die bevorzugte Klasse von Kulturkonsum (Hochkultur oder Massenkultur) sowie bevorzugte Einzelhandlungen (das Anhören einer CD oder ein Konzertbesuch) bestimmen (Rössel 2005; zitiert nach Weingartner 2013: 6). In eine Entscheidung für oder gegen eine Handlung fließen dann ebenfalls äußere Restriktionen ein. Hierbei kann beispielsweise ausschlaggebend sein, ob ein Akteur die finanziellen Ressourcen für Hochkulturkonsum hat, sich in räumlicher Nähe zu kulturellen Einrichtungen befindet oder ob alternative Handlungen einen höheren Nutzen versprechen.

Dem Rational-Choice-Ansatz gegenüber steht Pierre Bourdieus Handlungskonzeption des Habitus, der die Alternativlosigkeit von kulturellen Präferenzen und Aktivitäten hervorhebt. Bourdieu zufolge bedingt die Sozialisation innerhalb einer bestimmten sozialstrukturellen Position die subjektiven Geschmacks,- Wahrnehmungs-, und Handlungsschemata einer Person (König 2013: 53). Aufgrund dieser disponierten Schemata sind Akteure laut diesem Modell dazu veranlagt, hochkulturelle Güter zu bevorzugen und ihre Handlungen entsprechend diesen Vorlieben auszurichten – oder eben nicht. Somit kann es zu routinierten, automatischen Handlungen kommen.

Es zeigt sich, dass die beiden Theorien zum einen auf den intentionalen Charakter von Hochkulturkonsum und zum anderen auf die Disposition der Vorlieben für hochkulturelle Güter und Aktivitäten hervorheben. Beide Theorien weisen hinsichtlich der Erklärung von Hochkulturkonsum jedoch methodische Mängel auf. So fehlt es dem Rational-Choice-Ansatz mangels der Berücksichtigung von mentalen Schemata und dem habituellen Charakter von Kulturkonsum an deskriptivem und damit empirischem Gehalt (Tutić 2015: 86). Das Habituskonzept berücksichtigt dies zwar, präzisiert jedoch nicht den systematischen Zusammenhang zwischen mentalen Schemata und spezifischen Handlungen.

3.2 Das MFS zur Erklärung von Hochkulturkonsum

Die Studie von Weingartner (2013) ist bis dato die einzige, die das MFS zur Erklärung von Hochkulturkonsum heranzieht. Weingartners theoretische Konzeption von Kulturkonsum zeigt, wie sich die intentionalen Determinanten aus der Rational-Choice-Theorie und die dispositionellen Aspekte des Habituskonzeptes in das MFS integrieren lassen, um Entscheidungen von Akteuren für bestimmte kulturelle Handlung zu modellieren. So lassen sich die äußeren Restriktionen und kulturelle Präferenzen der Rational-Choice-Theorie als Einflussgrößen innerhalb des rc-Modus in das MFS verorten (ebd.: 9). Die mentalen Schemata des Habituskonzeptes bezeichnet der Autor als kulturelle Orientierungen, die im MFS wiederum die Frames darstellen (ebd.: 10). Kroneberg selbst eröffnet in seinen Ausführungen zum MFS die Möglichkeit, dass die Bewertungs- und Wahrnehmungsschemata des Habitus als Frames interpretiert werden können (Kroneberg 2011: 122). Routinierte Handlungen werden als kulturelle Handlungsrepertoires bezeichnet, die im MFS die Skripte beschreiben. Kulturelle Orientierungen und Handlungsrepertoires sind somit primäre Einflussgrößen im as-Modus. Weingartners zentrale Brückenhypothese lautet nun, dass kulturelle Orientierungen aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades eher einen Einfluss darauf haben, für welche Klasse von Kulturkonsum ein Akteur sich entscheidet (Weingartner 2013: 12).

Dagegen wirken sich kulturelle Präferenzen und äußere Restriktionen innerhalb dieser kulturellen Orientierung nur auf Einzelhandlungen (s.o.) und bestimmte kulturelle Inhalte (Wagneroper oder Beethovensinfonie) aus (ebd.: 12). Vor diesem Hintergrund und den Annahmen des MFS zieht der Autor spezifische Folgerungen zur Erklärung von Hochkulturkonsum und hochkultureller Praxis. So ist zu erwarten, dass eine Person besonders dann hochkulturelle Güter konsumiert, wenn sie stark inkorporierte und verankerte hochkulturelle Orientierungen und Handlungsrepertoires besitzt (ebd. 13). Befindet sich diese Person in einer Situation, die die Möglichkeit von Hochkulturkonsum eröffnet kommt es zu einem starken Match, der die Person dazu veranlagt im as-Modus über Frame, Skript und Handlung zu selegieren. Der beschriebene Akteur wird also bei den unbedeutendsten situativen Merkmalen eine Möglichkeit zum Hochkulturgenuss wahrnehmen und entsprechend routiniert handeln (ebd.: 13). Mit sinkender Verankerung der kulturellen Orientierungen steigt gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit zur rationalen Abwägungen im rc-Modus und der Akteur berücksichtigt zunehmend Kosten und Nutzen der Handlungsalternativen. Aus den Erklärungen, die das MFS liefert, folgt zusammengefasst folgende Hypothese, die Weingartner empirisch prüft: Je stärker Personen eine hochkulturelle Orientierung mental verankert haben, desto eher üben sie hochkulturelle Praktiken aus und desto geringer ist dabei der Einfluss von hochkulturellen Präferenzen und äußeren Restriktionen (ebd.: 14).

3.3 Aufbau und Ergebnisse der Studie von Weingartner

Weingartner (2013) nutzt für seine Studie Daten einer Eurobarometer-Umfrage. Die Umfrage wird von der Europäischen Kommission zweimal jährlich mit wechselnden Themenschwerpunkten an Bürger*innen aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durchgeführt (Höpner & Jurczyk 2012: 327). Dementsprechend groß ist Weingartners Stichprobengröße (N=21871). Die abhängige Variable Hochkulturelle Praxis wird durch ein Item der Umfrage operationalisiert, in welchem die Befragten darüber Auskunft geben, wie häufig sie in den letzten zwölf Monaten hochkulturelle Aktivitäten wie Theater-, Museums-oder Opernbesuch wahrgenommen haben. Hochkulturelle Präferenzen werden durch die Selbstauskunft der Studienteilnehmer*innen über ihr Interesse an Kultur operationalisiert. Auskunft über äußere Restriktionen, die Entscheidungen für Hochkulturkonsum beeinflussen könnten, geben Skalen zur Urbanität des Wohnortes (räumliche Restriktion), zu finanziellen Schwierigkeiten (ökonomische Restriktion) und zur Anzahl der Kinder (zeitliche Restriktionen) der Teilnehmer*innen. Das Vorliegen hochkultureller Orientierungen und deren Verankerungsstärke wird daran bemessen, ob die Befragten zum einen mit dem Wort Kultur ‚,Hochkultur‘‘ assoziieren und zum anderen, ob sie angaben Kultur für ausgesprochen wichtig zu halte. Bestehende hochkultureller Handlungsrepertoires werden daran gemessen, ob die Teilnehmer*innen in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung Theater spielten, einen literarischen Text verfassten oder ob sie ein Musikinstrument spielten.

Mittels einer Regressionsanalyse wird einerseits geprüft, ob alle Determinanten einen Einfluss auf hochkulturelle Praxis haben. Andererseits wird untersucht, ob der Hypothese entsprechend eine Interaktion zwischen der Verankerung hochkultureller Orientierungen und dem Ausmaß von sowohl hochkulturellen Präferenzen als auch äußeren Restriktionen auf die abhängige Variable vorliegt.

Die Ergebnisse demonstrieren, dass sich alle Determinanten von Hochkulturkonsum unabhängig voneinander und unter Kontrolle sozialstruktureller Merkmale auf das Ausmaß kultureller Praxis von Akteuren auswirken. Die Resultate bestätigen damit die Trennung der theoretischen Konstrukte und unterstreichen die Wichtigkeit mikrosoziologischer Determinanten. Gleichzeitig bestätigt sich das Vorliegen eine Interaktionseffektes. Es lässt sich anhand der Studie also schlussfolgern, dass Akteure, die stark verankerte hochkulturelle Orientierungen aufweisen, mehr dazu neigen, hochkulturelle Güter zu konsumieren, und gleichzeitig der Einfluss von äußeren Restriktionen und Präferenzen auf diese Entscheidung zu hochkultureller Praxis an Gewicht verliert.

4. Diskussion

Eignet sich Weingartners Konzeption von Hochkultur anhand des MFS also dazu, eine neue Standardtheorie des Hochkulturkonsums zu werden?

Zweifelsfrei legt die Studie dar, welchen Mehrwert eine Erklärung von Hochkulturkonsum mittels des MFS mit sich bringt. So macht es das MFS möglich, relevante Einzeltheorien und damit verschiedenste Determinanten hochkultureller Praxis in einer Theorie systematisch zu vereinen. Darüber hinaus erlaubt die Grundidee des MFS, dass Entscheidungen in einer antagonistischen Art und Weise entweder mehr von rationalem, anreizbestimmtem Kalkül oder mehr von automatisch-spontanen Denkprozessen geprägt sind, einen zusätzlichen Erkenntniszuwachs. Dieser bemisst sich daran, dass im Zuge der Sozialisation angeeignete hochkulturelle Orientierungen und Handlungsrepertoires (Frames und Skripte) die Reflexion über Kosten und Nutzen kultureller Einzelhandlungen überlagern können und es somit fast automatisch zu hochkulturellen Handlungen kommt (Weingartner 2013: 23). Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Weingartner ein fruchtbares Handlungsmodell von Hochkulturkonsum konzipiert, welches es vermag, dispositionelle sowie intentionale Gesichtspunkte des Hochkulturkonsums zu erklären und deren Wechselwirkungen zu systematisieren.

Dennoch zeigt sich anhand von Kritik, die sich gegen Weingartners theoretisches Fundament des MFS richtet, dass sein Handlungsmodell in seiner Erklärungsreichweite begrenzt ist. Eine Vielzahl an Publikationen der letzten Jahre weist auf theoretische Mängel des MFS hin (vgl. Opp 2010; Opp 2019; Tutić 2015). Hier sollen insbesondere zwei Punkte aufgegriffen werden: Das Fehlen einer axiomatischen Fundierung und die Defizite in der Konzeption der Frames.

Tutić (2015) stellte heraus, dass es dem MFS an einer axiomatischen Fundierung fehlt3. Für die Menge an theoretischen Konstrukten, die im MFS für Handlungen eine Rolle spielen (u.a. Match und Nutzen), wird nicht definiert, wie man sie anhand beobachtbaren Verhaltens misst (ebd.: 91). Andere Entscheidungstheorien (vgl. Kahneman & Tversky 2013), die wie das MFS die Annahme variabler Rationalität in die Modellierung von Entscheidungsverhalten mit einbeziehen, leisten dies und haben so den entscheidenden Vorteil, den Wert von Entscheidungsalternativen genau bestimmen zu können. Dies ist wichtig, wenn es darum geht, strategische Interaktionen und Interdependenzen zu erklären. Somit wäre Weingartners Handlungsmodell mangels axiomatischer Fundierung nicht dazu in der Lage vorrauszusagen, für welche Handlungsalternative sich Akteure entscheiden, sollte ihre Entscheidung von der Entscheidung anderer Akteure abhängig sein4.

Problematisch am MFS ist ebenfalls das Konzept der Frames. Dass Menschen Wissen anhand von Schemata und Skripten mental repräsentieren, ist eine weit verbreitete Auffassung innerhalb der Kognitionspsychologie. Dennoch bleibt es eine Annahme und es existieren eine Menge weiterer Theorien zur Repräsentation von Wissen (vgl. Galotti 2007: 267ff.). Am Konzept der Schemata und Skripte wird kritisiert, dass nicht klar ist, wie sich einzelne Schemata von einander abgrenzen, wie Erfahrungen neue Schemata kreieren oder bestehende verändern und welche Umgebungsfaktoren dazu führen, bestimmte Schemata zu aktivieren (ebd.: 279). Diese Kritik überträgt sich auch auf das MFS und damit Weingartners Handlungsmodell des Hochkulturkonsums. In Weingartners Konzeption sollen die Frames im Sinne hochkultureller Orientierungen die Erklärung dafür liefern, warum für bestimmte Gruppen von Akteuren Hochkultur ein besonderer Genuss ist, den sie jederzeit wahrnehmen wollen. Hier eröffnen sich hinsichtlich der Kritik an dem Konzept der Frames zwei Fragen.

Zum einen stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen der Hochkulturframe der Akteure aktiviert wird. Darüber wird im MFS keine Auskunft gegeben (Opp 2019: 104). Somit lässt sich beispielsweise nicht erklären, in welcher Situation ein Akteur mit starker Hochkulturorientierung (der also nahezu automatisch im as-modus handelt) eher in die Oper stürmen würde: Beim Vorbeigehen am Opernhaus oder beim Bellen seines Hundes, das ihn hin und wieder an seinen Lieblingstenor erinnert. Zum anderen stellt sich die Frage, welche Sozialisationserfahrungen dazu führen, dass sich hochkulturelle Orientierungen mental verankern. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass ein Kind, das jahrelang Geige gespielt hat, im späteren Leben Metal-Konzerte gegenüber Sinfoniekonzerten präferiert. Eine detaillierte Beschreibung der Verbindung zwischen Sozialisation und hochkultureller Orientierung ist essenziell, da an dieser Stelle der Makrobezug von Weingartners Erklärungsmodell hergestellt wird. Weingartner konzipierte seine Erklärung von Hochkulturkonsum mit dem Ziel, dem Zusammenhang zwischen soziostruktureller Position und Hochkulturkonsum eine Mikrofundierung zu verleihen (Weingartner 2013: 5). Jedoch spezifiziert er in seinen Resultaten nicht näher, wie diese aussieht. Implizit lässt sich aus den Ergebnissen dennoch folgender Zusammenhang herauslesen: Die sozialstrukturelle Position des Umfelds eines Akteurs bestimmt seine Sozialisation, welche wiederum seine kulturellen Orientierungen beeinflusst. Somit haben bestimmte Gruppen von Akteuren deshalb starke Vorlieben für hochkulturelle Praxis, weil sie einen sozialen Hintergrund haben, in dem sie mit Hochkultur sozialisiert wurden und sie somit zu hochkulturellen Orientierungen disponiert hat. Empirische Sozialforschung kann zwar spezifizieren, welche sozialstrukturellen Positionen mit einer Hochkultursozialisation einhergehen, die Frage, welche Sozialisationserfahrungen dann zur Ausbildung von hochkulturellen Orientierungen führen bleibt jedoch bestehen. Ohne eine Definition des Zusammenhangs zwischen Sozialisationerfahrungen und hochkultureller Orientierung bleibt Weingartners Theorie eine psychologische, die es nicht erlaubt – ganz im Sinne des Durkheimschen Paradigmas – Soziales durch Soziales zu erklären.

5. Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit demonstriert anhand einer Studie von Weingartner (2013) die Vorteile einer Erklärung von Hochkultur auf Basis des theoretischen Fundaments des MFS. Das MFS erlaubt es, klassische Theorien in einem einheitlichen Modell des Kulturkonsums zu binden, wodurch dieses einen höheren deskriptiven und empirischen Gehalt als bestehende Theorien aufweist. Der höhere Gehalt von Weingartners Handlungsmodell zeigt sich in der Erklärung der Ergebnisse seiner Studie. So ist dessen Resultat, dass der Einfluss äußerer Restriktionen und kultureller Präferenzen auf Entscheidungen zu hochkultureller Praxis mit zunehmender Verankerung hochkultureller Orientierungen abnimmt, nur mittels der Annahmen des MFS erklärbar. Dennoch zeigt die Kritik, die gegen das MFS formuliert wurde, dass Weingartners Handlungsmodell in seiner Erklärungsreichweite eingeschränkt ist. Zum einen lassen sich mangels axiomatischer Fundierung keine Interaktionssituationen erklären. Zum anderen führt die schwache Definition von Frames dazu, dass nicht spezifiziert werden kann, welche hochkulturellen Orientierungen zu welchen Handlungen und welche Sozialisationserfahrungen zu welchen hochkulturellen Orientierungen führen. Insbesondere den letzten Punkt gilt es zu klären, damit Weingartners Handlungsmodell von Hochkulturkonsum den Ansprüchen an ein soziologisches Erklärungsmodell gerecht wird.

Literaturverzeichnis

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[...]


1 Der Begriff Akteur wird im Folgenden aufgrund der Leserlichkeit nur in seiner männlichen Form verwendet. Die weibliche Form sowie andere Geschlechter sind eingeschlossen.

2 Das MFS weist eine hohe Komplexität bezüglich der Anzahl an Einflussgrößen und deren Wechselbeziehungen zur Erklärung von Handlungen auf, dem diese Darstellung nur in vereinfachter Form gerecht werden kann (für eine ganzheitliche Beschreibung (vgl. Kroneberg 2005; Kroneberg 2011: 119ff.).

3 Zu den Vorteilen und der Notwendigkeit einer axiomatischen Fundierung von Theorien vgl. Tutić (2015: 88ff.).

4 Dazu ein (äußerst konstruiertes) Beispiel: Zwei Akteure mit ausgeprägter hochkultureller Orientierung gehen durch die Fußgängerzone und nehmen gleichzeitig einen Geigenspieler wahr, der einen Auszug einer komplizierten Sinfonie spielt. Beide sehen es als ihre Pflicht an, ihm Geld zu geben. Vorbeigehen ohne zu spenden kommt nicht in Frage, da Hochkultur schließlich gefördert gehört. Als Zweiter nach dem anderen Akteur zu spenden sehen beide als Kränkung ihrer Ehre. Gleichzeitig zu spenden wäre zu verkraften, hätte für beide jedoch einen geringeren Nutzen, als der Erste zu sein, der spendet.

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Details

Titel
Wie lässt sich Hochkulturkonsum mittels des Modells der Frame Selektion erklären?
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Soziologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
14
Katalognummer
V1043327
ISBN (eBook)
9783346464613
ISBN (Buch)
9783346464620
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hochkulturkonsum, Soziologie, Handlungstheorie, Rational-Choice, Modell der frame Selektion
Arbeit zitieren
Clemens Baldzuhn (Autor:in), 2020, Wie lässt sich Hochkulturkonsum mittels des Modells der Frame Selektion erklären?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1043327

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