Sauras Carmen, von der Novelle zum Film


Seminararbeit, 2000

17 Seiten


Leseprobe


Inhaltsangabe

1 Einleitung

2 Die Erzählstruktur der Novelle:

3 Die Erzählsituation im Film:

4 Wunder der Einfachheit
4.1.Das Dekor
4.2. Die Sprache und der Text :

5 Konklusion

6 Bibliographie :

1 Einleitung

Die Carmenverfilmung von 1983 brachte Carlos Saura, einem der berühmtesten zeitgenössischen Regisseure Spaniens, bei den Filmfestspielen in Cannes den ersten Preis für den besten künstlerischen Beitrag. Sein Film wurde zu einem Kassenschlager, der sich monatelang in den bundesdeutschen Kinos hielt. Der Hauptverantwortliche für die Ballettinszenierung war Antonio Gades. Dem Flamenco - Tanz wurde in den Achtzigern vor allem durch diesen Film neue Anhänger beschert.

Die Grundlage zu dem Film bildete die Novelle des französischen Schriftsteller Prosper Mérimée, der die Geschichte von Carmen einer ungebundenen, wilden und freiheitsliebenden Frau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts niederschrieb. Die Figur Carmen ist aus ihrer eigenen Epoche heraus zu verstehen. Das traditionell katholische Spanien wurde von Begriffen wie Sittsamkeit und Ehre beherrscht. Es war ein Land, in dem Verbrechen aus Leidenschaft durch irrationale Eifersucht und durch die Auffassung von Besitz gerechtfertigt wurden. Durch diese Haltung wurde wohl jahrhundertelang das Mann - Frau- Verhältnis geprägt, wobei der Frau die Opferrolle zukam. Dennoch gab es Frauen, so wie es Mérimée beschreibt, die die Männerwelt herausforderten, und die auch in alten spanischen Liedern besungen werden. So scheint es auch nicht allzu unglaubwürdig, daß Mérimée, der sich schon immer für Spanien interessiert hat, seine Novelle angeblich über eine wahre Begebenheit schrieb, die ihm von einer Freundin erzählt wurde und womit er den Mythos um die Herkunft Carmens, ihr Aussehen und ihr Verhalten noch verstärkt.1

Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, wo sich die wichtigsten Unterschiede der Umsetzung von der Novelle zum Ballettfilm ergeben haben. In der Sauraverfilmung ist Carmen eine spanische, violente und zeitgenössische Carmen. Spanisch ist vor allem der Flamenco, violent der Geschlechterkampf und zeitgenössisch die Tanzschule, die sich in Madrid befindet, im Casa del Campo Park und in der sich praktisch die ganze Handlung des Films abspielt.2 Der

Tanz im Film ist wieder aktuell geworden, was die Serie von Tanzfilmen wie zum Beispiel Flash Dance, Corus Line und Fame bestätigt haben.

2 Die Erzählstruktur der Novelle:

Die Novelle wird von Anfang bis zum Ende nur von Männern erzählt und beschreibt somit die Perspektive und Problematik des Mannes und nicht der Frau. Sie versetzt den Leser in eine Zeit zurück, in der die großen französischen Reisenden nach Spanien kommen.

Im ersten von vier Kapiteln ist die Vorstellung des Erzählers, der als Mann der Analyse und Erklärungen gesehen werden will. Als Bildungsreisender und kritischer Wissenschaftler wirft er schon in den ersten Zeilen einigen Geographen und Historikern mangelnde Gründlichkeit in ihren Feststellungen vor. Von ihm bekommt der Leser die Eindrücke der Landschaften, Sitten und Bräuche der Spanier vermittelt. Durch ihn lernt der Leser Don José als gesuchten und gefürchteten Bandit kennen, ohne dabei aber von seinem durchaus angesehenen Vorleben zu erfahren und der schon bestehenden Beziehung zu Carmen.

Die Begegnung des Erzählers mit Carmen, im zweiten Kapitel, ist eine der wenigen Stellen in der Novelle, wo sie etwas genauer beschrieben wird. Dabei entsteht im Kopf des Lesers bestimmt nicht das Bild einer klischeehaften feurigen Spanierin. Nein, der erste Eindruck den uns der Erzähler mitgibt ist viel mehr. Umgeben vom Duft der Jasminblüten, die sie im Haar trägt, in ihrem ärmlichen schwarzen Kleid, die unverblümte, unhöfliche Art mit einem Fremden zu sprechen und zu rauchen, der Stolz eine Zigeunerin oder besser eine Hexe zu sein, wie sie der Erzähler nennt und die Zukunft voraussagen zu können. Die Lust oder vielleicht schon die Gewohnheit zu stehlen was ihr gefällt oder was ihr Geld einbringen kann und die Selbstverständlichkeit ihr Leben nach ihrer spontanen Neigung zu leben, ist nicht jenes Bild das man von einer typischen Spanierin dieser Zeit erwartet. Carmen ist vielmehr fremd und wild und läßt im zweiten Kapitel keine wirkliche Sympathie beim Leser für sie entstehen.

“Sie ist eine realistische Findung und eine romantische Erfindung.”3 Romantisch ist ihre Wahrsagerei, die Schmuggler und Räuberkulisse und die Todessehnsucht. Lieber stirbt sie als über ihre Gefühle zu lügen. Realistisch ist die Mischung aus Leidenschaft, Laune, Berechnung und Aufopferung.

“[...] die ursprüngliche Carmen [...] ist eine der prägnantesten Männerphantasien, die gegen die Ordnung buchhalterisch verwalteter Gefühle und streng eingehaltener gesellschaftlicher Schranken die hell auflodernde Stichflamme hitziger Empfindungen setzt, die alle Vernunft wegbrennt.”4

Den ausgeprägten Freiheitsdrang erwähnt Mérimée immer wieder in der Novelle. So führt er zum Beispiel schon zu Beginn der Novelle ihren Wunsch nach Unabhängigkeit auf ihre Herkunft zurück: “Pour les gens de sa race, la liberté est tout, et ils mettraient le feu à une ville pour s´épargner un jour de prison.”5

Am Ende diese Kapitels besucht der Erzähler Don José im Gefängnis und erfährt im dritten Kapitel der Novelle die Lebensgeschichte von ihm, wobei die Rolle des Erzählers von Don José übernommen wird. Im Unterschied zu der vorhergehenden Erzählung ist diese eine sehr emotionale und persönliche Berichterstattung, da dieser Abschnitt eine Art Lebensbeichte ist. Genau wie in der Rahmenhandlung erfolgt die Darstellung der Ereignisse und Gefühle ausschließlich durch einen Mann. Die Information über Carmens Gefühle sind im Gegensatz zu dem was der Leser über Josés Gefühlsleben erfährt sehr gering und weniger aussagekräftig, da sie von José meist nicht genau beschrieben und benannt werden können. Trotz der vielen Worte, spielt sich die Liebestragödie zwischen Carmen und Don José also wortlos ab, und um Carmens Gefühle erfassen zu können, muß der Leser zwischen den Zeilen lesen.

Im vierten und letzten Kapitel, wird die Novelle harmonisch vom Erzähler als Wissenschaftler abgeschlossen. Durch dieses Kapitel wird eine emotionale Distanz zum Geschehen geschaffen. Es ist eine Reflexion über die Zigeuner, die von Mérimée bewußt deutlich als Randgruppe Spaniens beschrieben wird, um den natürlichen Stolz der Spanier zu schützen. Die Lebensweise und Lebensräume der Zigeuner, das exotische Lokalkolorit (die Herbergen, Schluchten und Wiesen) und die tragischen Elemente, heben dabei immer wieder das Romantische der Novelle hervor.

3 Die Erzählsituation im Film:

So wie für Mérimée in seiner Novelle Carmen, bildet auch für Saura die Hauptquelle der Inspiration für seinen Film sein eigenes Leben und Erleben. In einem Interview erklärt er, daß eigentlich alle seine Filme ein Teil von seinem Leben erzählen. Er bebildert seine Phantasie nicht nur und dreht nicht nur einfach Filme, die Literatur umsetzten, sondern er erlebt seine Phantasie als Realität.6

In Carmen überträgt er diese Philosophie vor allem auf den Hauptdarsteller Antonio. Seine Phantasien vermischen sich nach und nach mit der Wirklichkeit, für ihn wird alles Theater selbst erlebtes Leben, bis er selbst nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden kann und der Zuschauer dadurch auch nicht mehr. Mit dieser Undurchsichtigkeit steigt und fällt aber auch die Spannung des Films. Carmen hingegen bleibt immer in der normalen Lebenswelt, unterscheidet zwischen Privatleben und ihrer Theaterarbeit.7 Die Vermischung von Realität und Fiktion ist uns nicht gänzlich unbekannt, da auch in der Novelle der Erzähler in die Geschichte involviert ist, und er selbst den Protagonisten Carmen und José begegnet. Die Frage, wer der Erzähler wirklich ist bleibt offen, aber es könnte doch auch Mérimée selbst sein, der jener Historiker im Buch ist und seine Vorstellung von jener faszinierenden schönen und unwiderstehlichen Frau, die einen Mann um den Verstand zu bringen vermag, niedergeschrieben hat.

Die Vermischung von Realität und Fiktion ist sehr eindrucksvoll geschildert, als Carmen nachts in Antonios Studio erscheint. Alles ist ruhig, Antonio steht vor dem Spiegel und konzentriert sich auf eine Tanzszene. Dann, ganz leise ist die Musik der Oper Carmen zu hören und Carmen selbst, wunderschön in der typischen spanischen Tracht, erscheint. “Sie fächelt sich mit einem schwarzen Fächer zu. Eine große Mantilla aus schwarzer Spitze fällt von dem hohen Kamm herab, der ihren Kopf krönt, und bedeckt ihre Schultern.”8 Bis zu dem Moment, wo er sich von dem Bild Carmens entfernt und den Schalter für die Vorhänge drückt, bleibt der Zuschauer im Ungewissen, über die “Echtheit” der soeben erschienen Carmen.

Eindrucksvoll ist der Messerkampf zwischen den zwei Rivalinnen Carmen und Christina, denn der Zuschauer kann in dem Moment wo Carmen zum rasenden Rhythmus tanzend den Arm hebt und Cristina mit schnellen, kraftvollen Bewegungen mit einen Schnitt in den Hals schwer verletzt, nicht unterscheiden, ob die Szene nun echt ist oder Fiktion. Auch wenn es klar ist, daß diese Szene eine Tanzprobe darstellt, zweifelt der Zuschauer trotzdem, aufgrund der so echt wirkenden Konfrontation der beiden Tanzgruppen. Die Auseinandersetzung ist so intensiv, die Tänzer bewegen sich derartig schwindelerregend schnell, und die Gesichtsausdrücke sind so gespannt und auf den Gegner konzentriert, daß man sich den Gefühlen und der entstanden Spannung nicht entziehen kann und eine wirkliche Bedrohung spürbar wird. Wenn also Carmen zusticht und die, im wahrsten Sinne des Wortes, atemberaubende Stille nach diesem wilden und eindrucksvollen umherwirbeln der Tänzer entsteht, kann man für einen Moment die Realität und die Fiktion nicht mehr unterscheiden.9

Ähnlich ergeht es dem Zuschauer wenn er den Kampf zwischen Antonio und dem Ehemann Carmens sieht. Zu Beginn ist der Betrug beim Kartenspielen, einer Szene des Stücks die Ursache, im Verlauf des Kampfes jedoch scheint mehr und mehr die reale Rivalität aufgrund von Carmen in den Vordergrund zu rücken. Antonio, blind vor Leidenschaft, versetzt dem Ehemann einen gezielten Stockschlag in den Nacken, woraufhin sein Rivale regungslos am Boden liegenbleibt. Einmal mehr breitet sich ein eindrucksvolles Schweigen aus. Carmen wirft den Ehering weg und stellt sich an Antonios Seite. Der Tod des Ehemanns mußte früher oder später eintreten. Niemand bewegt sich, als ob der Tod des Ehemanns akzeptiert wird. Erst als Carmen mit der Aussage “das reicht aber jetzt, nicht wahr?”10, die Tanzprobe beendet, weicht die Spannung im Raum allmählich. Daß der Ehemann (der auch in der Realität mit ihr verheiratet ist, Juan Antonio), der noch immer regungslos am Boden liegt, wirklich nicht verletzt ist, ist erst dann sicher, wenn Antonio auf ihn zugeht, ihm freundschaftlich die Hand entgegenstreckt und fragt: “ Juan, habe ich dir weh getan?”11 Realität und Fiktion vermischen sich immer mehr in “Antonios Welt”und sind in Bezug auf Antonio kaum mehr zu trennen, wodurch seine Leidenschaft und Eifersucht im Bezug auf Carmen für seine Rivalen und auch für Carmen selbst immer gefährlicher wird. Der Meister des Tanzes konnte im Kampf sein Handeln und seine Kräfte nicht mehr unter Kontrolle und die reale Rivalität nicht mehr aus dem “Spiel” halten.

Wenn die ersten Takte der “Habanera” erklingen und Carmen und Antonio ihre Tanzszene dazu proben ist im Gegensatz zu den vorhergehenden Szenen besser erkennbar, daß die zum Ausdruck kommende Leidenschaft den Rahmen der Einstudierung und Interpretation völlig sprengt.12 Dem Zuschauer wird schon nach wenigen Tanzschritten klar, daß die realen Gefühle in diesem Tanz überwiegen. Sie tanzen exakt im konstanten und fast monotonen Rhythmus der “Habanera”, nähern sich einander und trennen sich wieder. Die Leidenschaft ist bei jeder einzelnen Bewegung spürbar und die Pose, wo Antonio Carmen im Arm hält ist uns schon aus einer früheren Szene bekannt. Die Worte von Giron, ihrem Agent und wohl auch Liebhaber,13 fallen einem automatisch wieder ein: “Sie geben ein schönes Paar ab, was?”14. Die Musik wird leiser, wenn Antonio Carmen zum simulierten Bett führt und die Szene endet indem das Licht ausgelöscht wird und die Nacht für einige Augenblicke alles verhüllt. Zweifellos wirkt das Paar in dieser Szene so harmonisch wie es zuvor nicht war und danach nie mehr sein kann.

Am Schwierigsten zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, wird es wohl gegen Ende des Films, denn zu Beginn des Films spielen Antonio und Carmen außerhalb ihrer Rolle noch sich selbst. Der pflichtbewußte Antonio versucht die Szenen so perfekt wie möglich zu inszenieren, während die Tänzerin Carmen auffällig gelassen und heiter wirkt und unberührt von all der sie umgebenden Unruhe.

Mehr und mehr jedoch dringt die Rolle die sie spielen in ihr wirkliches Leben ein und Antonio wird immer beherrschender und dem düsteren und verquälten Don José der Novelle ähnlicher. Die Tänzerin Carmen bemerkt es wohl, kann aber seine wachsende Eifersucht und Kontrolle nicht verstehen. Sie kann nicht verstehen, daß Antonio den Carmen - Mythos lebt und so alles theatralische durchbricht, in die unmittelbare Gegenwart der Carmen Geschichte hinein. „Und wer Don José lebt, muß Carmen töten.“15 So geschieht es dann auch. Carmen ist es leid, daß stets andere über sie bestimmen wollen und wendet sich während der Eifersuchtsszene von Antonio mit dem Torero mit einer verachtungsvollen Geste ab. Wütend verfolgt Antonio sie. Er ist seiner freiheitsliebenden Carmen vollkommen verfallen und bringt sie um, während im Hintergrund das Finale der Oper Carmen ertönt. Niemand scheint die Tragödie bemerkt zu haben und somit bleibt es dem Zuschauer überlassen diese Szene als Realität zu sehen und Antonio als einen verzweifelten Mörder oder als Szene in der Saura den Schnitt bewußt gesetzt hat, bevor Carmen wieder aufsteht und dem Zuschauer die Bestätigung für eine fiktive Szene geben kann.

Der Mord erscheint im Film nicht schicksalshaft wie in der Novelle. Carmen stirbt hier unter anderem, weil Antonio es nicht verkraften kann, daß sie sich von ihm löst und seine Macht über sie verliert. Gemeinsam haben Mérimées und Sauras Carmen den unbändigen Freiheitsdrang. Lieber wollen sie sterben, als unfrei zu sein.

Obwohl Sauras Carmen - Verfilmung die Geschichte Mérimées scheinbar getreu nach erzählt, mit dem Unterschied sie in furiose Ballettbewegungen umzusetzen, muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß sie unter anderem auch durch neue Personen oder Persönlichkeiten doch entscheidend verändert wurde.

Don José ist nicht mehr der arme Soldat, sondern der gottähnliche, tyrannische Superregisseur und Carmen wird von ihm erst erschaffen. Er formt sich dieses Geschöpf nach seinen eigenen Vorstellungen. Unterstützt wird er dabei von seiner ehemaligen, weil alt gewordenen, Freundin. Ohne ihre künstlerische Erfahrung wäre eine Formung von Carmen wohl gar nicht möglich gewesen. Mit der Schlüsselfigur Cristina, wird Carmen eine starke Persönlichkeit zur Seite gestellt, die aber auch dann noch unangefochten bleibt, als sich der eigentliche Konflikt schon längst auf Antonio und Carmen verlagert hat. Der Torero bleibt ähnlich wie im Buch der Auslöser für die Ermordung Carmens aufgrund der Eifersucht die bei Antonio entsteht und ihn fast verschlingt. Der Ehemann Carmens bleibt in der Verfilmung Sauras erhalten, jedoch nicht als Schmuggler, sondern in der zeitgenössischen Adaption als Drogendealer bzw. als Schieber und Spieler.

Die Leitmotive bleiben bis auf die Orangen in der Verfilmung erhalten. Die rote Blume taucht im gespielten Stierkampf auf dem Kopf von Carmen auf, die Zigaretten bei einigen der Tänzer, einschließlich Carmen, die Farbe Rot erscheint immer wieder in der bunt gemischten Tanzbekleidung und auch die Kastagnetten sind als wichtiges Rhytmusgebendes Element der Tänzer präsent.

4 Wunder der Einfachheit

4.1.Das Dekor

Um andalusische Gemeinplätze zu vermeiden, wählt Saura wie im absurden Theater oder zeitgenössischen Straßentheater nur wenige Einrichtungsgegenstände.16 Diese beschränken sich auf Tische, Stühle, Lampen, eine Leiter, ein Messer, die Vorhänge und die Rohrstöcke der Tänzer. Ein weiteres Equipement ist der Spiegel. Dieser spiegelt Realität, wie zum Beispiel die Präzision des Tanzes, und Fiktion, wie zum Beispiel die Erscheinung Carmens in der Phantasie Antonios wieder. „Der Einblick in die Arbeit des Choreographen, der Tänzer, der Theaterschneider verschmilzt vor den stets präsenten Spiegeln mit der Innenwelt der Personen, der Welt ihrer Fantasmen, Ängste und Träume, wobei - und dies sei nur am Rande erwähnt - die Kamera diesen Effekt mit großem Geschick einfängt.“17

Das Minimum an Dekor läßt ein Maximum an Sinnlichkeit und äußerlichen Ambiance entstehen. Es lenkt das Augenmerk auf die faszinierende Darbietung der Tänzer und deren ausdrucksstarken Mimik und fordert den Zuschauer auf, das nicht Vorhandene mit seiner eigenen Phantasie auszufüllen.

Auffallend schlicht ist die Tanzbekleidung der Schauspieler, wobei die Farben dem Status der jeweiligen Tänzer entsprechen und auch die jeweilige Rolle wiederspiegeln. So ist die Farbe Rot die der Verführung und somit die von Carmen und die erdverbundene Farbe Braun die von Cristina.18

Das einzige Mal, wo Saura einige seiner Schauspieler die typischen spanische Tracht tragen läßt, ist die Erscheinung Carmens in der Phantasie Antonios19 und beim Stierkampf20. Der Stierkampf, der bis heute eines der beliebtesten Volksfeste Spaniens geblieben ist, bleibt in Form eines Spiels erhalten. Der symbolcharakter des schwarzen Stiers und des roten Bluts ist nicht so offensichtlich gegeben, aber dennoch vorhanden. Dem Zuschauer wird weiters vermittelt, daß jeder, unabhängig von seinem Alter, seinem Körperbau oder seinem Aussehen, Flamenco tanzen kann. Antonios Studio wird an diesem Tag zu einem Festplatz, wo am Geburtstag von seinem Freund und Gitarristen des Ensembles, Tonin, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters feiern. Eine der Geburtstagsgäste beginnt zu singen und alle anderen klatschen begeistert und fröhlich mit. Innerhalb kürzester Zeit, entsteht in einem leeren, ja fast ungemütlichen Raum, ein ausgelassenes, lustiges und mitreißendes Fest. Jeder einzelne tanzt einmal in der Mitte des Kreises, während die anderen jubelnd und händeklatschend anfeuern. Plötzlich ertönt die Opernmusik von Carmen, die sich zuerst mit den Flamenco-Rhytmen vermischt, dann aber bald den ganzen Raum beherrscht. Die Tänzerin Carmen erscheint als eine Parodie der Carmen aus der Oper, mit zu stark geschminkten Augen und grellrotem Mund. Im Haar trägt sie die typische rote Blume.21

Kurz darauf steht Cristina auf einem der Tische, mit dem Rock über ihrem Kopf und schwingt ihren Po aufreizend hin und her, wodurch sie bei den Männern eine Welle von derben Zurufen herausfordert. Sie zeigt aber auch, daß für sie das Alter kein Hindernis darstellt, mit einer “Jungen” zu tanzen. Im Gegenteil, sie beweist in dem freundschaftlichen Tanz mit Carmen allen Zuschauern ihre Überlegenheit und die Unnötigkeit ihr Überlegenheit ständig zu demonstrieren. Der anschließende Stierkampf, der von dem “Marsch des Toreros” aus der Oper begleitet wird, endet so, daß das “Volk” den überragenden Torrero aus der “Arena” trägt, also vom Studio hinaus.

Es ist eine der wenigen Szenen die eine Außenaufnahme zeigt, denn fast das gesamte Geschehen spielt sich innerhalb der Tanzschule ab. Antonio selbst verläßt das Studio nur zwei mal und auch dann hat der Zuschauer noch den Eindruck, als ob er das Studio nicht verlassen habe. Die Eingeschlossenheit im Studio, verdeutlicht wie er selbst in seiner Phantasiewelt eingeschlossen ist und Realität und Fiktion langsam eins werden.

4.2. Die Sprache und der Text :

Ist es in der Novelle die gemeinsame Sprache, also Baskisch, wodurch die beiden aufeinander aufmerksam werden, so ist es im Film der Tanz.22 Antonio sucht in einem Tanzstudio in Madrid nach seiner Hauptdarstellerin zur Verwirklichung der Ballettinszenierung. Carmen erscheint wie immer zu spät im Unterricht, nimmt aber den vorgegebenen Tanzrhythmus sofort ohne Schwierigkeiten auf. Durch ihre mandelförmigen Augen, ihre klare Stirn, das leicht-gewellte Haar, das im Nacken zusammengefaßt ist, ihr beinahe ägyptisches Profil und ihren sinnlichen Körper, hebt sie sich von den anderen Mädchen ab. Antonios Gedanken wandern unweigerlich zur Beschreibung von Mérimée. Im off - hört nun der Zuschauer wie er zum ersten Mal einige Zeilen des zweiten Kapitels der Novelle zitiert: „Ich hob die Augen und sah sie. Es war ein Freitag, und ich werde ihn nicht vergessen. Zuerst gefiel sie mir gar nicht, und ich nahm meine Arbeit ruhig wieder auf. Sie aber, gemäß dem Brauch aller Frauen und aller Katzen, nicht zu kommen, wenn man sie ruft, und zu kommen, wenn man sie nicht ruft, trat vor mich hin und redete mich an.“23 Für den Zuschauer ist allein aufgrund der Angespanntheit, mit der Antonio Carmen die ganze Zeit über beobachtet hat klar, daß sie „seine Carmen“ sein wird.

Das zweite Zitat der Novelle liest Antonio den Mitgliedern des Ensembles vor, um ihnen seine Idee besser näher zu bringen: „Durch das Gitter meiner Arrestzelle konnte ich auf die Straße sehen; aber unter allen weiblichen Wesen, die vorbeikamen, war kein einziges, das es mit diesem Teufelsmädchen auch nur annähernd hätte aufnehmen können...“24. Die Kamera bringt das Gesicht von Carmen ins Bild und man kann leicht erkennen, daß Carmen die Anspielung aus dem Text aufnimmt. Auch beim nächsten Zitat scheint es, als ob Antonio die Vorwürfe der Novelle an Carmen richtet, der das aber nichts auszumachen scheint: „Carmen log, Señor, sie hat immer gelogen...“; „...Vielleicht hat sie in ihrem ganzen Leben kein einziges wahres Wort gesprochen...“; „...Wenn sie aber redete, so glaubte ich ihr - dagegen war kein Kraut gewachsen!“25

In der Novelle sind es die Worte, die dem Leser die Gefühle der Protagonisten beschreiben, im Film ist es aber eine direkte, körperliche Sprache, der Flamenco. Es ist aber nicht nur der Flamenco in seiner ursprüngliche Form, also der Gesang, sondern auch der Tanz. Flamenco, ist eine Mischung aus Poesie, Musik und Rhythmus. Mit diesen drei Elementen werden tiefste Gefühle des Menschen ausgedrückt, Freude, Haß, Hoffnung und Leidenschaft, Eifersucht und Angst. Der Rhythmus bildet dabei die Basis des Films und die Stärke Antonios.26 Seit dem 19. Jahrhundert begleitet die Gitarre, als wichtigstes Instrument den Gesang und den Tanz, ohne dabei wirklich in die Rolle des Begleitinstrumentes gerückt zu werden. Vielmehr halten Sänger und Gitarre ein Zwiegespräch. Die Bezeichnung Flamenco tauchte in der andalusischen Folklore am Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal auf. Im Argot des 18. Jahrhunderts wurde ein Aufschneider oder Angeber so bezeichnet und in Andalusien die Zigeuner. Das Herz des Flamenco ist das westliche Andalusien, daß schon Mérimée als Schauplatz für seine Novelle gewählt hat.

In der Novelle sind es Beschreibungen, die Carmens und Antonios Gefühlswelten näherbringen. Im Film ist es der Tanz. Die Gefühlswelten von Carmen und Antonio werden jenseits der Vernunft und der Worte offenbart, indem sie getanzt und ertanzt werden. Carmen beherrscht ihn mit ihrem Blick und ihren Kopfbewegungen. Die Spannung und die Beziehung der Tanzpartner entsteht durch das Stampfen mit den Füßen, das Klatschen der Hände und die Drehungen des Körpers. Durch den Tanz gelingt es Carmen auch, Antonio zu verführen. Sie gibt sich den rhytmischen Bewegungen vollkommen hin und parodiert Antonio an dem Abend wo er nur für sie die Farruca tanzt, mit seinen eigenen Worten: „Eins, zwei, drei...vier, fünf, sechs, ... sieben, acht, neun und zehn ... Eins, zwei... Komm! Verschling mich! Komm! Oder markierst du auch nur?“27 Am Ende dominiert sie, sie hat gewonnen bei diesem Spiel, denn Antonio kann sich nur noch seinen Gefühlen hingeben, er muß sie berühren.

Einmal mehr bringt Saura in dieser Szene eine autobiographische Antwort mit den Worten von Antonio in seinen Film ein. „[...] denn als wir uns zu dieser Szene entschlossen, fragte Carlos mich, was ich über die Farruca zu sagen hätte, und ich sagte das, was ich fühle und was wahr ist. Seit ich fünfzehn bin, habe ich alles oder doch fast alles getanzt, aber die Farruca hat mich gelehrt zu verstehen, und dafür bin ich ihr dankbar. Es gibt Augenblicke, da muß ich sie tanzen. Warum, weiß ich nicht; ich brauche es einfach.”28

5 Konklusion

Ein Mitgrund für den großen Erfolg der Carmenverfilmung Sauras ist mit Sicherheit seine autobiographische Perspektive durch die sich auch der Zuschauer dem Film nicht mehr entziehen kann.“ Jeder arbeitet über das, was er kennt. Mir schien es immer vermessen, über Dinge zu sprechen, die ich nicht kenne. Vielleicht ist es ein Problem der Bequemlichkeit, aber für meinen Fall ziehe ich es vor, mit der einzigen soliden Basis zu arbeiten, die ich kenne, und das sind meine eigenen Erfahrungen, sowohl jene der Phantasie als auch jene, die wirklich geschehen sind und die einen Teil der Erinnerung ausmachen.”29 Die Schwierigkeit, die grundlegenden Elemente in Einklang zu bringen, also das Werk von Mérimée, die Oper von Bizet und die spanische Volksmusik, ist Saura ausgezeichnet gelungen.

Trotzdem unterscheiden sich die Werke vor allem durch das Mordmotiv voneinander. „Als Don José am Ende der Erzählung Carmen erdolcht, muß diese Tat nicht nur als Mord, sondern sogar als eine Art Selbstmord betrachtet werden, als ein Akt der Verzweiflung, der die Zerstörung der Paarbeziehung endgültig besiegelt. Don José wird wegen seines Verbrechens hingerichtet. Willig akzeptiert er dieses Schicksal, zu dem er unentrinnbar verurteilt war, seit er die junge Arbeiterin aus der Tabakfabrik zum ersten Mal erblickt hatte. »30

Im Film ist der Mord nicht vom Schicksal vorbestimmt. Antonio entdeckt Carmen, fördert sie und wird dann zum Opfer. Die Rolle verlangt von ihr eine große Anpassungsfähigkeit ab, denn jede einzelne Bewegung wird von Antonio vorgegeben. Im seinem Kopf entsteht eine fixe Idee für « seine Carmen ». Er identifiziert die Tänzerin mit ihrer Rolle. Für ihn werden die Proben Ausbrüche aus dem Theateralltag in die Wirklichkeit des Mythos.31 Er möchte, daß sie sich vollkommen mit der Carmen der Novelle identifizieren kann und somit im Tanz umsetzten. Carmen jedoch stellt auch in Sauras Version nicht das typische Bild der Frau ihrer Zeit dar. Sie ist eine Frau, die das klassische Rollenverhaltensmuster stört und die ihren eigenen „freien Weg“ geht. Die Aufführung konnte nicht stattfinden, da sich der alte Teufelskreis von Liebe und Eifersucht, von Haß und Tod einmal mehr schließt. Carmen will ihre Freiheit nicht aufgeben und Antonio kann sie ihr nicht lassen. Durch die Ermordung scheitert er aber nicht nur an seiner Beziehung zu ihr, sondern auch am Leben und am Traum vom freien Leben. “Das alles ist meisterhaft gespielt und in Bildern umgesetzt, die den trockenen Ton Mérimées genau treffen.”32 Ein unerfüllbarer Traum bedingungsloser Liebe.

6 Bibliographie :

Primärliteratur :

Mérimée, Prosper : « Carmen ». Pocket, 1990.

Sekundärliteratur :

Eggebrecht, Harald : Der spanische Blick : Carlos Saura. In : Mues, Ingeborg (Hg) : Fischer Cinema. Frankfurt am Main, Fischer Verlag 1990, S. 143-156.

Elsner, Gisela : (Noch einmal Carmen) : Das « ewig Weibliche ». Über Carlos Saura CarmenFilm. In : Heider, Ulrike (Hg.) : Sadomasochisten, Keusche und Romantiker. Vom Mythos neuer Sinnlichkeit. Reinbeck bei Hamburg, Rowohlt, 1986, S. 137-140.

Filius-Jehne, Christiane: Prospers Mérimées Novelle „Carmen“. Die Oper. Die Filme. Faszination des Flamenco. München, Heine, 1984.

Horlacher, Pia : « Das Schicksal durch Verfremdung nahegebracht. Zu Carlos Sauras « Carmen »- Verfilmung in den Kinos Nord-Süd und Movie 2 ». In : Tages-Anzeiger (Zürich 9.8.83), S.3.

Karasek, Hellmuth : »Carmen » - Traum der absoluten Liebe ». In : Der Spiegel 37 (1983), S. 186 - 200.

Krüger-Zeul, Mechthild : « Carmen » und die falschen Träume. Eine psychoanalytische Interpretation der deutschen Rezeption des Films von Saura/Gades. In : Lohmann, Hans Martin (Hg.) : Die Psychoanalyse auf der Couch. Frankfurt am Main, Fischer Verlag 1986, S. 99 - 114.

Larraz, Emanuel : Le cinema espagnol des origines à nos jours. Paris. Les Editions du Cerf, 1986, S. 311.

Mathis, Ursula : Carlos Saura : « Carmen ». Gedanken und Thesen zu einer zeitgenössischen, spanischen und violenten `Carmen´. (=Muk, 39). Siegen, Universität Siegen, 1986.

Saura, Carlos ; Gades, Antonio : « Carmen ». München und Hamburg, Albrecht Knaus Verlag GmbH 1985.

Schomburg-Scherrf, Sylvia M. : « Carmen oder die Magie des Flamenco ». In : Kirche und Film 9 (Sept. 1983), S. 3 - 5.

Straub, Eberhard : « Der plötzliche Übergang von der Kunst ins Leben ». In : Faz 178 (4.8.1983), S. 17.

[...]


1 Carlos Saura, Antonio Gades: Carmen. München und Hamburg 1985, vgl. S.53, von nun an zitiert als Saura.

2 Saura, S. 47.

3 Karasek, 1983, S.188.

4 Karasek, 1983, S.188.

5 Mérimée, 1990,S.25.

6 vgl. Saura, S. 170.

7 Vgl. Elsner in Heider, 1986, S. 150.

8 Saura, S.118.

9 vgl. Saura, S. 94 ff.

10 vgl. Saura, S. 150.

11 vgl. Saura, S. 150.

12 vgl. Saura, S. 110.

13 vgl. Saura, S. 75.

14 Saura, S. 76.

15 Vgl. Elsner in Heider, 1986, S.150.

16 vgl. Ursula Mathis, 1986, S. 19.

17 Ursula Mathis, 1986, S. 20.

18 Vgl. Ursula Mathis, 1986, S.19.

19 vgl. Saura, S. 119.

20 vgl. Saura, S. 127.

21 Saura, S. 124.

22 vgl. Saura, S.54.

23 Saura, S. 73.

24 Saura, S. 106.

25 Saura, S. 106.

26 Filius-Jehne, 1984, S.132.

27 Saura, S. 114.

28 Saura, S. 167.

29 Eggebrecht in Mues 1990, S.150.

30 Saura, S. 54.

31 Elsner in Heider 1986, S. 149.

32 Straub in FAZ, 1983, S. 17.

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Details

Titel
Sauras Carmen, von der Novelle zum Film
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Autor
Jahr
2000
Seiten
17
Katalognummer
V104379
ISBN (eBook)
9783640027231
Dateigröße
369 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sauras, Carmen, Novelle, Film
Arbeit zitieren
Simone Battlogg (Autor:in), 2000, Sauras Carmen, von der Novelle zum Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104379

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