Das Duzen und Siezen


Seminararbeit, 2001

29 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Sprache als Mittel zwischenmenschlicher Beziehungen

3. Die geschichtliche Entwicklung der Anredepronomina

4. Das heutige binäre Anredesystem
4.1 Duz-Welle in der Studentenbewegung
4.2 Das gegenwärtige Anredeverhalten in der Schule

5. Das Duzen und Siezen in unterschiedlichen Situationen und Orten
5.1 Das firmeninterne Duzen
5.2 Verwendung der Anredepronomina durch das Verhalten in bestimmten Situationen
5.3 Unsicherheit bei der Wahl des „richtigen“ Anredepronomen
5.4 Duzen und Siezen in Bünden und Behörden

6. Probleme beim Duzen und Siezen
6.1 Alltägliche problematische Situationen
6.2 Beleidigende Wirkungen des Du und Sie
6.3 Der Übergang vom Siezen zum Duzen
6.3.1 Der unerlaubte Wechsel vom Sie zum Du
6.4 Vom Duzen zum Siezen

7. Kleiner Einblick vom Duzen und Siezen im Ausland

8. Schlußbemerkung

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als Einstieg in die Thematik des Duzen und Siezen sollen hier zwei Beispiele genannt werden:

a.) Zwei sich unbekannte Jugendliche stehen in einer Diskothek nebeneinander. Der eine fragt den anderen: „Gibst du mir bitte mal dein Feuerzeug?“ Szenenwechsel.
b.) Einer der beiden Jugendlichen fragt eine ihm fremde, ältere Person auf der Straße: „Könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?“

Ein und dieselbe Person verhält sich also in sprachlicher Hinsicht, in Hinblick auf die Anredepronomina, in verschiedenen Situationen auf unterschiedlicher Weise.

Das „Anrede-Terrain“ der deutschen Sprache ist sehr kompliziert und führt leicht zu Mißverständnissen und Konflikten im Alltag.

- Wie hat sich das pronominale Anredeverhalten entwickelt und welche geschichtlichen Ereignisse waren maßgebend, die zur heutigen Anredeform geführt haben, die scheinbar jeder richtig gebraucht?
- Wo werden die Maßstäbe des „Duzen“ und „Siezen“ gesetzt?
- Inwiefern spielt das Alter und das Verhältnis der Personen zueinander eine Rolle?
- Was für Probleme können entstehen, wenn die Pronomen situativ unkorrekt anwendet werden?

Diesen Fragen auf den Grund zu gehen ist wichtig, um nachzuvollziehen und verstehen zu können, wie ein Teil unserer täglichen Kommunikation abläuft. Und obwohl alle Menschen die Anredepronomina scheinbar spontan, richtig und situationsgerecht anwenden, sind ständig neue Entscheidungen in Hinblick auf die Anredepronomina zu treffen. Unsere zwischenmenschlichen Beziehungen im privaten und auch im beruflichen Umfeld sind davon betroffen und es gilt dabei Regeln einzuhalten.

Ein weiterer Aspekt dieser Arbeit ist die historische Entwicklung der Anredepronomina, die zum heutigen binären Anredeverhalten geführt haben.

Abschließend sollen Probleme erörtert werden, die beim Gebrauch von

Anredepronomina führen, denn obwohl es Regeln gibt, sind diese nicht immer in der entsprechenden Situation bewußt und dies führt zu Mißverständnissen

2. Die Sprache als Mittel zwischenmenschlicher Beziehungen

Um näher auf die pronominalen Anredeformen eingehen zu können, möchte ich einen Exkurs in die Sprache als Kommunikationsmittel vornehmen. Die Sprache kann als Normgröße der jeweiligen Gesellschaft angesehen werden. Durch Konversation werden zwischenmenschliche Beziehungen geknüpft, realisiert, Gedanken und Ideen vermittelt und die Art und Weise des Sprachgebrauchs bestimmt das Verhalten und die Beziehung der jeweiligen Dialogpartner zueinander. Es gibt zwar in den verschiedenen sozialen Schichten interne Umgangs- sowie Sprachformen, aber die Sprache unterliegt einer eigenen Norm an sich. Sie dient allgemein der Sozialisation des Menschen, ist ein Teil dieser und führt zur Geselligkeit, wenn man sie richtig anzuwenden weiß.

Nach Wilhelm von Humboldt, einem der wichtigsten Sprachanthropologen, gehört die Sprache zum Wesen eines jeden Menschen. Er ist der Meinung, daß ohne sie keine Kulturen geschaffen worden wären und es auch keinen technischen Fortschritt geben würde.1 Humboldt formuliert seine Überlegungen in der Aussage: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn. Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der Sprache“2 aus. Jedes Individuum trägt zur Entwicklung der Sprache bei, kann sich ohne jegliche Kommunikation allerdings auch nicht entwickeln. Voraussetzung dazu ist die Sprache an sich, die von jedem Menschen erworben werden muß, um verbal kommunizieren zu können. Die menschlichen Fähigkeiten etwas zu verinnerlichen, soziale Kontakte zu knüpfen oder auch abzubrechen, Überlegungen in Bezug auf den Fortschritt zu führen und vieles mehr, hängt im hohen Maße von der Leistung der Sprache ab.

Masami Th. Nagatomo erkennt, daß Humboldt die Sprache nicht allein als bloßen Funktionsträger der Mitteilung empfindet3, sondern ebenfalls als „Abdruck des Geistes und der Weltansicht des Redenden“.4 Dieser sagt nämlich: „Die Sprache wird durch Sprechen gebildet und das Sprechen ist Ausdruck des Gedanken oder der Empfindung.“5

Es gibt feste Regeln in der Sprache, die dem Benutzer zur Verfügung stehen. Bei der akustischen Verständigung wird eine gemeinsame Sprache und Sprachnorm zwischen den Gesprächsteilnehmern vorausgesetzt. Die Sprache und der Umgang mit ihr, wird im Laufe der kognitiven Entwicklung erlernt und während des Heranwachsens ausprobiert. Nagatomo behauptet weiter, daß kein menschliches Individuum über seine Muttersprache perfekt verfüge und mit ihr fehlerfrei umzugehen wisse6, daher stellt jede neue Situation auch eine neue im kommunikativem Sinne dar, mit verschiedenen Gesprächspartnern oder Gesprächsinhalten. Dies ist jedesmal eine neue Herausforderung für die Menschen als Kommunikationspartner, die sie unterschiedlich gut oder angemessen meistern. So spielt ein passendes Sprachverhalten in den unterschiedlichen Gesprächssituationen eine wichtige Rolle.

Sogenannte Höflichkeitsformen, denen das Duzen und Siezen angehört, sind für den verbalen Austausch äußerst wichtig. Ein System von sprachlichen Höflichkeitsformen bedeutet für die Gesprächsteilnehmer eine Reglementierung oder Sprachanwendung. Die Höflichkeit sowohl als Akt, als auch in verbaler Hinsicht, ist eine wichtige Regel, um miteinander leben und agieren zu können. Je nach Beziehung der jeweiligen Interaktionspartner zueinander werden gewisse Umgangsformen erwartet. Hierbei spielen Alter,

Verwandtschaftsbeziehungen und auch die Rangordnung eine wichtige Rolle. Nagatomo bezeichnet die Anrede als ein Mittel zur Herstellung gewünschter

sozialer Situationen und als ein Hinweis an den oder die Empfänger, wie Situationen zu verstehen seien.7 Die sprachlichen Indikatoren der Höflichkeit, wie Höflichkeitsverben, Höflichkeitsphrasen, Höflichkeitskonjunktiv, etc. sind je nach dem Sprachsystem verschieden. Jede Sprache hat ihr eigenes System der Höflichkeitsformen. Die Sprache der Höflichkeit im Deutschen ist durch syntaktische und stilistische Sprachmittel gestaltet. Der Sprachbenutzer ist nicht festgelegt, sondern es kommt auf die jeweilige Gesprächssituation und die Einstellung sowie Intention des Einzelnen an. Es wird im Deutschen ein allgemein situativ angemessenen Sprachstil verlangt.

Während das Englische nur das Anredepronomen „You“ kennt und dort auch keine Unterschiede in den zwischenmenschlichen Beziehungen macht, es wird als Du sowie als Sie verwendet, ist im Deutschen als geschichtliches Resultat ein zweielementiges System in den Vordergrund getreten: Das Duzen und das Siezen. Welche Anredepronomen kannten unsere Vorfahren und wie vollzog sich die Entwicklung des bis in der Gegenwart angewandten Systems?

3. Die geschichtliche Entwicklung der Anredepronomina

Anhand verschiedener Textquellen aus mehreren Epochen wurden die Ursachen des Systemwandels der deutschen Anredeformen erforscht. Armin Kohz‘s Untersuchungen ergaben, daß im Frühgermanischen und Gotischen Anredepronomina und das Pronomen der 1. Person Singular nur in Ausnahmefällen verwendet wurden. Die Anrede und Selbtbezeichnung drückten sich, wie z.B. im Griechischen, in der Flexion des Verbs aus. Auch in der Bibelübersetzung des Wulfila erscheinen die Pronomina „ich“ und „du“ nur, wenn die 1. oder 2. Person besonders hervorgehoben werden sollte.8 Im folgenden bezieht sich die geschichtliche Ausarbeitung auf das Werk „Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens“ erschienen 1982 von Armin Kohz, sofern keine anderen Autoren angegeben werden.

So wurde festgestellt, daß ab dem Mittelhochdeutschen, welches ca. von 750 bis 1050 gesprochen wurde, sich die Verwendung pronominaler Formen immer mehr einbürgerte. Die ältesten bekannten Formen sind das Ihrzen - damals Irzen- und Siezen.

Anhand des Evangeliums nach Otfried (um 870) läßt sich ersehen, daß das Ihr, beeinflußt vom romanischen Vorbild, gegenüber Höhergestellten als verbale Ehrerbietung angewandt wurde. Niedere Schichten ihrzten Höherrangige, diese duzten sich allerdings weiterhin untereinander. Somit wurde versucht, die Abgrenzung der Freien entgegen der Unfreien und Gefangenen deutlich zu machen.

Die Wahl der Anredepronomina in den Ständen war stark von den Stimmungswechseln des Sprechenden abhängig. So konnte es passieren, daß während eines Dialogs der Ansprechpartner geduzt und im nächsten Moment gesiezt wurde. So kam es ab 1000 n. Chr. zu einem Mischstil in bezug auf die Anrede, der stark stimmungsabhängig war.

Wie das familiäre Verhalten ausgelebt wurde, ist anhand eines Beispiels zu verdeutlichen. Luther duzte seinen Sohn Hans, fühlte sich aber verpflichtet zum Ihrzen überzugehen, als dieser sein Magisterexamen bestand. Der Vater zeigte so seine Anerkennung dem Kind gegenüber, indem dieser sich den Respekt durch Leistung verdient hatte.

Es ist eigentlich eine unnatürliche Eigenheit des Menschen, daß ein Einzelner formal in der Mehrzahl angeredet wird. Dieses Vorgehen beruht auf einer geschichtlichen Tatsache. Im Jahr 395 teilte der römische Kaiser Theodosius mit seinem Tode das Weltreich unter seine Söhne Arcadius und Honorius auf. Beide regierten gleichberechtigt, erließen die gleichen Gesetze und sprachen so in der Pluralform von „Wir“. Das Volk entgegnete dementsprechend mit „Ihr“. Die folgenden Kaiser behielten nach deren Ableben diesen sogenannten „pluralis majestatis“ bei und die plurale Anredeform wurde zum normalen Bestandteil des Lebens.

Die pronominale Anredeform ging also von einem Hierarchieverhältnis aus. Ulrich Ammon interpretierte die Entwicklung und Verwendung des Ihr in der hier zitierten, ungekürzten Textquelle:

„Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte breitete sich der Gebrauch der pluralistischen Anrede gegenüber Einzeladressaten allmählich aus, vor allem auch auf die tiefer liegenden Ränge der Hierarchie, dem niedrigen Adel und das allmählich aufkommende städtische Bürgertum. Die Ausbreitung nach unten hin erklärt sich nicht allein als die in der Kulturforschung bekannten Diffusion der Neuerungen von oben nach unten, das auf den sprachlichen Wandel als sogenannter „flight-pursuit mechanism“ übertragen wurde, vielmehr ist die

Ausbreitung spezifisch der höfischen (sic. „höflichen“!) Anrede sozialpsychologisch damit zu erklären, daß im Zweifelsfall in einer streng hierarchisch strukturierten Gesellschaft stets die höflichere Variante gewählt wird, um eine Kränkung des Adressaten zu vermeiden.

Vor allem gegenüber Unbekannten, deren Rang nicht auszumachen war, wurde aus Vorsicht Ihr verwendet. Damit wird begreiflich, wie die gegenüber Höhergestellten übliche Anrede allmählich auch die gegenüber Fremden gebräuchliche wurde und damit zum Ausdruck distanzierter Sozialbeziehungen. Diese Nebenbedeutung der Höflichkeitsanrede blieb auch erhalten, als später andere Pronominalformen an die Stelle von Ihr traten. Umgekehrt wird das Du damit nicht nur eingeschränkt auf die Anrede gegenüber Ranggleichen oder Niedrigeren, sondern wurde zugleich Ausdruck näherer Bekanntschaft und intimerer Sozialbeziehungen.

Dem widerspricht es nicht, daß in der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft - wie dem höfischen Epos zu entnehmen ist - Gatten und höfische Liebende sich ihrzten, was sich dann auch ins Bürgertum hinein fortsetzt. Die standesgemäßen Liebes- und Ehebeziehungen waren dabei ja in einem Maße sozial reglementiert, daß Intimität im modernen Sinne weitgehend ausgeschlossen war. Eine Art Intimität war eher für nicht standesgemäße und nicht eheliche Beziehungen charakteristisch, wo dann, wenigstens von seiten des höhergestellten Partners aus, Du als Anrede gebräuchlich war.

(cf. Beispielsweise die Lieder der sogenannten „niederen Minne“ Walthers von der Vogelweide)“9

Der Zeitraum zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert war für die Klarheit in bezug auf die Anredemodalitäten von großer Bedeutung. Kulturelle Ereignisse, wie zum Beispiel die religiöse Laienbewegung und vor allem das ritterliche Leben, sowie die Kreuzzüge, bestimmten im deutschsprachigem Raum den Wandel der Umgangsformen. Der stark aufkommende Kultureinfluß Frankreichs hielt Einzug und stufte den Feudaladel vielfach in sich in mehrere Stände. Die Heerschildordnung wurde hervorgerufen und verlangte nun auch nach der sprachlichen Abgrenzung zum Bürgertum. Innerhalb der Stände duzten sich die Menschen weiterhin, es wurde allerdings großen Wert darauf gelegt, daß die unterstehenden Stände die obere Schicht ihrzten.

Mit dem Einzug des Rittertums in die höfischen Kreise im 16. Jahrhundert fand Deutschland ein Vorbild in Hinsicht auf die Anredeformen. Die Höflichkeit kam in Mode und das Ihr wurde in den aristokratischen Kreisen als übliche Anrede und nicht mehr als steife Modalität angesehen. Der symptomatische Wechsel zum Du kann zwar immer noch bei einer Stimmungsänderung vorkommen, aber es wird strenger darauf geachtet, es zu vermeiden.

Nach Jakob Grimm können die damaligen Anredeweisen in folgende 10 Typen eingeordnet werden:

1. Gegenseitiges Duzen unter Seitenverwandten.
2. Eltern duzen ihre Kinder. Der Vater wurde von seinen Kindern geihrzt. Die Mutter vom Sohn geihrzt, von der Tochter geduzt.
3. Eltern einander ihrzen sich.
4. Liebende verwenden das „Ihr“, gehen aber leichter in das vertraute „Du“ über.
5. Der Geringere gibt dem Höheren „Ihr“ und erhält ein „Du“ zurück.
6. Zwischen Freunden und Gesellen wird geduzt.
7. Frauen, Geistliche und Fremde werden geihrzt.
8. Personifizierte Wesen werden vom Dichter geihrzt.
9. Das gemeine Volk hat noch kein Ihrzen unter sich.
10. Leidenschaftliche, bewegte Rede achtet der Sitte nicht und entzieht bald trauliches „Du“, bald höfliches „Ihr“.10

In der Zeit des dreißigjährigen Krieges (1618 - 1648) verringerte sich das Ihr in der Funktion des Respekts und der Höflichkeit, da der wirtschaftliche Wohlstand auch im Bürgertum einzog und es zur Gepflogenheit wurde, wohlhabende Bürgerliche ebenfalls zu ihrzen. Diese Zeit der Reformation wurde durch ein neues Bewußtsein geprägt und die Anredemodalitäten forderten eine Verfeinerung. Die bürgerliche Reformbewegung wollte die allgemeine Verwendung des Ihr als Ausdruck der formalen Gleichheit durchsetzen. Es mußten also weitere Abgrenzungen gefunden werden, um sich von der niederen Schicht erneut unterscheiden zu können.

Man fand diese Abgrenzung in der 3. Person Singular, im Er und Sie. Diese sind als Stellvertreter des bisher höflichen Ihr-Gebrauchs anzusehen. In angesehenen Kreisen wurde es üblich Verehrung und Abstand durch die dritte Form des Singulars auszudrücken. Bis ins 17. Jahrhundert ahmte man in städtischen Kreisen den Adel nach, indem das Ihr immer mehr Anwendung fand. Das Duzen wurde als bäuerisch angesehen und nicht mehr als vertraut. Freunde finden ihre gegenseitige Achtung im Ihrzen wieder.

In Deutschland galt zu Beginn des 17. Jh. das Erzen als besonders höflich. Dieses Jahrhundert besaß also drei Anredepronomen: das herkömmliche Du, das Ihr sowie das neu aufkommende Er/Sie. Letzteres galt nun als die feinere Anrede. Die soziale Hierarchie konnte durch die fein nuancierten verbalen Umgangsformen noch genauer widergespiegelt werden.

Doch war das Erzen als Zeichen der Ehrerbietung unter den adligen Kreisen nur kurzlebig. Es verlor seinen Höflichkeitswert, da es als unschicklich galt, in der 3. Person Singular über im Raum anwesende Personen zu reden. Es stand bald nur noch als Pronomen der Geringschätzung und fand Gebrauch, um von oben nach unten Verachtung zu zeigen.

Im Spätbarock fand das Er einen Ersatz durch das Sie der 2. Person Plural.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es also das vierelementige System: Duzen, Ihrzen, Erzen, Siezen.

Vertraut / herablassend distanziert / respektvoll

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dieses Schema findet man bis in das 19. Jahrhundert und es kondensierte sich dann zu dem heute gewohnten Zweiersystem des Duzen und Siezen. Mit der Zeit verlor also die deutsche Sprache die Möglichkeit, feinere Abstufungen der zwischenmenschlichen Beziehung zum Ausdruck zu bringen. Die von der französischen Revolution veranlaßte Sprachpolitik, nämlich die Empfehlung des tu (Du) anstelle von vous (Ihr), wirkte sich mit zeitlicher Verzögerung auch im Deutschen auf die Verbreitung des Du aus. Nach Ammon sind Anredepronomina als Widerspiegelung sozialer Strukturen sowieso eher sekundär, da seiner Meinung nach angenommen werden darf, daß „sich einer Veränderung der Sozialstruktur in der Regel erst mit einiger Verspätung in der Sprache niederschlägt.“11

Während der französischen Revolution war es die Idee der Brüderlichkeit, jeden Menschen seines Standes zu duzen, in Deutschland beschleunigte es den Abbau der großen Standesunterschiede. Schnell verschwand das StandesDu, die einfachen Leute forderten auch ihr Sie.

In Deutschland trugen zwei Erlasse dazu bei, alle pronominalen Formen außer Du und Sie aus der Anrede zu verdrängen.

1. „Kurz nach dem Siebenjährigen Krieges beschwerte sich ein brandenburgischer Rittergutsbesizer bei Friedrich dem Großen, daß die Steuerbehörde ihn mit Du anrede. Diese Beschwerde veranlaßte die Regierung im Jahre 1764 zu einer Erhebung darüber, welche Anredeformen in Preußen gebräuchlich wären. Es wurde dabei festgestellt, daß, je weiter man nach dem Osten kam, um so häufiger das Du war. In den westlichen Landesteilen wurde es außer im engsten Kreise und zu Dienstboten überhaupt nicht mehr gebraucht. In Brandenburg und Pommern wandten es die Behörden in Schreiben an Bauern, Bürger und Adlige ohne Titel stets an. In Ostpreußen war es allgemein üblich. Nur Grafen und Doktoren redete man hier mit Ihr an. Seit dieser Zeit fiel das Du in behördlichen Schreiben fort. Das Ihr dagegen hielt sich noch bis in die große Zeit der Stein-Hardenbergschen Reform, also etwa bis 1810.Von da ab gab es nur noch die beiden Anredeformen Du für nahestehende Menschen und Sie für alle übrigen. Beim Militär ersetze man das Sie durch den Titel, beließ aber unlogischerweise das Zeitwort in der Mehrzahl (Haben Herr Kapitän gerufen?)

2. Noch im selben Jahr, in dem v. Selchow dies schrieb, verfügte die oberste Heeresleitung, daß auch diese letztgenannte Anrede in der dritten Person dienstlich nicht mehr verwendet werden durften.“12

Die, seit erst vierzig Jahren, anhaltende Epoche des Duzen und Siezen ist im Vergleich der Geschichte erst eine kurze Episode. Ob das Duzen sich weiter in den Vordergrund stellt und das Siezen ablöst oder das Zweielementige System beibehalten wird, ist abzuwarten.

Im NSDAP - Deutschland wurde versucht, das Kameradschafts-Du wieder einzuführen, ebenso wie die Bestrebung der SED zu Beginn der fünfziger

Jahre. Doch genauso wenig wie das Genossen-Du in der damaligen DDR, konnte es sich auf Dauer nicht durchsetzen. Wolf Biermann, ein aus der ehemaligen DDR ausgewiesener Sänger, berichtete, daß er nach der Ausweisung in der Lage gewesen sei, West- und Ostdeutsche an der Anrede zu unterscheiden. „Leute aus der Bundesrepublik duzten mich sofort als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Basis und Solidarität. In der gleichen Ansicht boten jedoch Besucher, die in der DDR wohnten, das Sie als Anrede an, und zwar in bewußter Ablehnung des sogenannten Genossen-Du.“13

4. Das heutige binäre Anredesystem

Das heutige binäre Anredesystem, das Duzen und das Siezen, hat sich also aus einem erheblich größeren Inventar von Anredeformen entwickelt, die im Laufe der Geschichte „überflüssig“ geworden sind. Es ist nicht mehr Ziel mit Gebrauch der Sprache Standesunterschiede, die gesellschaftlich begründet sind, hervorzuheben. Das Du und Sie müssen also die vielschichtigen Aufgaben der damaligen Anredepronomina übernehmen, was deren Polyvalenz weitgehend erklären läßt. Die Bereiche der zwischenmenschlichen Beziehung, sowie die der Rangordnung, die man vor allem im Arbeitsverhältnis erkennen kann, wurden in früheren Zeiten durch das Pronominalsystem verdeutlicht. Um heutzutage Abgrenzungen im Bezug auf die Anrede zu gestalten, sind zusätzliche Gesichtspunkte, wie Kleidung und das allgemeine Auftreten, von Bedeutung. Es können beispielsweise folgende Verhaltensweisen ausschlaggebend sein:

- Vokales Verhalten: Die Art, wie gesprochen wird. Hier sind Tonfall, Lautstärke, Betonung und Geschwindigkeit mögliche Indikatoren. · Nonverbales Verhalten: Hier sind der Gesichtsausdruck, die Mimik, und andere Körperhaltungen ausschlaggebend.
- Verbales Verhalten: Diese Ebene dient am wenigsten dazu, um dem Gegenüber eine Mitteilung zu machen, die über den Inhalt hinausgeht. Es dient nur der Informationsweitergabe.
- Affektives / emotionales Verhalten: Gefühle, Empfindungen und Wertschätzungen werden auf dieser Ebene der Kommunikation vermittelt.

Allerdings ist das Sie in vielen Bereichen des täglichen Lebens noch unangefochten. Es steht immer noch für Erweisung von Höflichkeit, es wird deshalb auch als Höflichkeitspronomen bezeichnet und sorgt für Distanzierung. Es ist eine Anredeform, die weitgehend ohne Wertung situationsbedingt verwendet wird.

Armin Kohz faßt die Funktionen der verschiedenen Anredeformen folgendermaßen wie zusammen:14

1. Anredeformen bezeichnen jemanden.
2. Sie machen den Bezeichneten automatisch zum Angeredeten
3. Sie ermöglichen es dem Sprecher, zwischen sich und dem Anzuredenden eine Relation herzustellen und für beide bestimmte Rollenzuweisungen vorzunehmen.

Diese Funktion der Anredepronomina wird „trichotomisch“ genannt, während die „dichotomische“ das Pronomen der 2. Person Singular, das Du beschreibt:

1. als Ausdruck der Vertrautheit und des Wohlwollens und
2. als Ausdruck der Geringschätzung.15

Jedoch liegt die Funktion der Anredeformen im allgemeinen darin, zwischen den Kommunikationspartnern Verhältnisse aufzubauen und Rollenzuweisungen vorzunehmen. Sie dienen als Widerspiegelung sozialer Strukturen und schaffen eine hierarchische Distanzierung.

Die Grundregel, daß Erwachsene gesiezt werden, kann heutzutage außer Kraft gesetzt werden. Auch wenn Kinder von Kindesbeinen an lernen, daß man

Älteren durch das Siezen Respekt erweist, gibt es Ausnahmen. Gute Bekannte der Eltern bieten einem sehr schnell das Du an und meist kennt man diese schon von Kindesbeinen an, so daß aus dem „Tante Hanna“ später ein einfaches „Hanna“ entsteht.

Unter Freunden benutzt man hauptsächlich das Du. Damit kommt die gefühlsbetonte Geselligkeit zum Ausdruck und stärkt das Vertrauen untereinander. Aber nicht alle Menschen, die sich duzen, sind gleichzeitig miteinander befreundet. Sehr oft wird das Duzen verwendet, um ein besseres Arbeitsklima hervorzuheben und sich solidarisch zu zeigen. Bei den Arbeitskollegen ist noch nicht einmal vorausgesetzt, daß sie sich auch privat treffen. Nagatomo hat herausgefunden, „daß die Tendenz zur kommunikativen Polyvalenz der heutigen Anredeformen vor allem davon abhängt, daß die zwischenmenschlichen Beziehungen wegen der enorm schnellen Veränderung der Gesellschaftsstruktur aufgelockert, demokratisiert sind, oder aber, daß die heutige Gesellschaft nivelliert, pluralisiert ist.“16

Heutzutage ist das Duzen bei Jugendlichen in den Vordergrund getreten, man bezeichnet dieses Phänomen als Duz-Welle. Sie signalisieren dadurch Zusammengehörigkeit und fühlen sich gar nicht wohl, wenn sie ohne erkennbaren Grund von einem Altersgenossen gesiezt werden. Das, was die Jugend heute als normal empfindet, glich in den sechziger Jahren nahe einer Revolution.

4.1 Duz-Welle in der Studentenbewegung

Diese Duz-Welle konnte vornehmlich im Hochschulbereich beobachtet werden und gilt als Ausgangspunkt der heutigen Duz-Welle. Mit der Studentenbewegung und dem Ausbruch der Studentenunruhen 1968 geriet das Du auf den Vormarsch.17 Vor diesen Unruhen galt das Sie unter den Studierenden, ausgenommen unter ehemaligen Mitschülern, innerhalb der Studentenverbindungen oder Sportstudierenden. Nach dieser Zeit, auch heute, würde das Siezen der Kommilitonen eher lächerlich wirken. Allerdings verweigerten die Studenten der endsechziger Jahre während der Du-Expansion ebenfalls jegliche Titelanrede. Sie sahen dies als bewußten provokanten Verstoß gegen vorhandene Konventionen und einen verbalen, gewaltfreien Versuch von Hierarchieabbau.18 Was zu Beginn als Affront beurteilt wurde, gab sich im Laufe der Jahre. Werner Besch erklärt dies damit, daß „souveräne Menschen sowieso frei sind von Titelsucht, insbesondere wenn sie Titel haben.“19 Im Gegensatz dazu nennt er ein Beispiel aus den sechziger Jahren, in dem ein Student seinen Professor während einer Vollversammlung mit dem persönlichen Pronomen Du ansprach, später aber in der Sprechstunde mit Bückling um eine Prüfungszusage desselben bat. Sie wurde ihm als einzigem mit Begründung der opportunistischen Komponente seiner Anredewahl verweigert.20

Sogar das Anredepronomen in wissenschaftlichen Prüfungen ist geregelt. Laut eines Berichtes in der „Zeit“ vom 18. Juni 1982 geriet ein Akademischer Oberrat der Germanistik in Kritik, der seine Prüflinge im wissenschaftlichem Abschlußexamen zu duzen pflegte.21 Das Landesverwaltungsgesetz schreibt allerdings vor, daß gesiezt werden muß. Ansonsten wird die Form der Befangenheit unterstellt, weil zu vermuten ist, daß ein nahes Bekanntschaftsverhältnis bestehe. Selbst wenn der Prüfling auf das Duzen bestehen sollte, müßte dies vorab der Prüfungskommission gemeldet werden.

4.2 Das gegenwärtige Anredeverhalten in der Schule

Das formale Anredeverhalten in den Hochschulen ist also gesetzlich durch oben genanntes Landesverwaltungsgesetz geregelt. Wie sieht allerdings der Alltag in den Real-, Haupt- oder Gymnasialschulen aus, in denen verschiedene Altersstufen aufeinanderprallen. Wie sollten sich Lehrer verhalten, die ihre Schüler über Jahre hinweg begleiten? In der Ausarbeitung soll näher auf die Oberstufe eingegangen werden, da erst von da an die Schüler in das Alter kommen, in dem die Möglichkeit oder die Notwendigkeit besteht, sie zu siezen. Werner Besch fragte bei Lehrenden verschiedener Schulen im Großraum Bonn nach, wie sie es mit dem Anredeformen halten und kam zum Ergebnis, daß das Oberstufen-Sie zu verschwinden scheint.22 Die meisten Schüler lehnen es laut der Befragung ab, von Lehrern im neuen Schuljahr gesiezt zu werden, welche bisher geduzt hätten. Sie empfinden die neue Situation als unangenehm und besprechen dies mit den Lehrenden, gleich nachdem die erste unangenehme Situation entstand.

Wenn in früheren Jahren noch das Sie als Lebenserfahrung des Älterwerdens galt, wird heute bewußt darauf verzichtet. Noch vor zehn Jahren galt das Sie in den höheren Klassen als üblich, der Wandel vollzog sich kaum merklich in der nahen Vergangenheit.

Einige wenige, meist ältere Kollegen, entscheiden sich, laut besagter Umfrage, für das Sie. Es scheint, als wäre die Situation für diese unangenehmer, als für den persönlich Angesprochenen. Es stehen aber auch Ängste, wie Autoritäts- oder Distanzverlust, im Raum. Gerade die älteren Lehrer haben eine strengere (Schul-) Erziehung genossen, als die heute übliche. Sie versuchen es auf das heutige Schulbild zu projizieren und vergessen dabei den Zeitgeist.

Besch zitiert die amtliche Stellungnahme des Bremer Senators für Bildung, Wissenschaft und Kunst vom 20. Juni 1985, der die Entwicklung der Anredepronomina im Blickwinkel zu haben schien:

„Es war lange Zeit selbstverständlich geübte Praxis, die Schüler von Beginn der Oberstufe (11. Jahrgangsstufe) an, zu siezen. Dies geschieht auch heute, wenn Lehrer dies tun oder Schüler darauf bestehen. Wie im tertiären Bereich gibt es daneben jedoch - von Lehrer zu Lehrer, Lerngruppe zu Lerngruppe unterschiedlich - auch das wechselseitige Duzen, seltener, daß der Lehrer die Schüler auf deren Bitte hin duzt, er selbst aber von ihnen gesiezt wird.

Da Duzen oder Siezen durchweg auf gemeinen Erfahrungen oder zumindest einer Konvention der betreffenden Gruppe beruhen, hat es bisher in diesem Zusammenhang keine Probleme / Konflikte in der Praxis gegeben.“23

Das wechselseitige Du, damit gemeint ist das gegenseitige Duzen zwischen der Lehrkraft und den Schülern, ist allerdings selten zu beobachten. In den Allgemeinbildenden Schulen ist es meist nur im Werks- oder Sportunterricht üblich. Des öfteren kann das asymmetrische, wechselseitige, Du in den handwerklichen Berufsklassen der Berufsschulen beobachtet werden. Der Wechsel zum Oberstufen-Du läßt sich damit begründen, daß sich die allgemeinen Anredekonventionen geändert haben. Wenn sich junge Menschen vor einigen Jahrzehnten in der Schwelle des Erwachsenwerdens sogar gegenseitig gesiezt haben, wurde das Sie-Alter unbewußt um 10 - 15 Jahre angehoben. Wenn also die Schüler damals ab dem 16. oder 17. Lebensjahr selbstverständlich in allen Formen des Alltags gesiezt wurden, gilt heute eine andere Altersgrenze, die somit auch in den Schulen registriert wird. Die heutige Grenze zum Siez-Alter ist dementsprechend um die 10 - 15 Jahre angestiegen.

5. Das Duzen und das Siezen in unterschiedlichen Situationen und Orten

5.1 Das firmeninterne Duzen

Auch in dem Firmenbereich setzen die Vorstände auf das vertraute Du zwischen den erwachsenen Angestellten. In der schwedischen Möbelfirma „Ikea“ duzen sich sämtliche Beschäftigte, vom Chef bis zur Aushilfskraft. Dies gilt auch für den internen Schriftverkehr, in dem die schreibende Person schlicht mit dem Vornamen unterschreibt. Dieses Modell wurde aus Schweden übernommen, was in diesem Land nichts ungewöhnliches ist. Allerdings läßt dieses Sprachmodell ebenfalls einen größeren Teamgeist erkennen und die Arbeitsmoral ansteigen. Auf Anfragen von Besch beschreibt ein Mitarbeiter „Ikeas“, daß „die Firmenphilosophie davon zusätzlich profitiert habe. Das in Deutschland ungewöhnliche firmeninterne Du, kombiniert mit dem individuellen Vornamen, konnte das Gefühl der Zusammengehörigkeit noch mehr stärken: Wir sind eine Gemeinschaft, eine Familie. Der Firmengründer hat seine Zielsetzung schriftlich niedergelegt. Der Text „The Ikea Way“ ist in der Hand der Beschäftigten, Einführungsseminare vertiefen dies, behandeln den Ikea- Lebensstil, propagieren Aufgeschlossenheit, jugendliche Dynamik, Innovationsbereitschaft. Es gelte nicht nur den Verstand der Mitarbeiter zu gewinnen, sondern auch das Herz - das gelte auch im Blick auf die Kunden. Für die große Ikea-Familie gibt es eigene Sportgemeinschaften und Freizeitclubs.“24 Auf die Frage, ob die Ikea-eigene Anrede Autoritätsprobleme schaffe, antwortete der Ikea-Chef Deutschlands in einem „Bunte“-Interview vom März 1988: „Überhaupt nicht. Es ist alles einfacher, wenn man du sagt. Und Autorität liegt bei uns nicht in der Anrede, sondern in der Persönlichkeit begründet.“25 Es läßt vermuten, daß das persönliche Anredepronomen Du eine entspanntere und freundlichere Arbeitsatmosphäre assoziiert. Und in einem solchen Klima arbeitet jeder Mensch lieber. Diese Firmenstrategie hat sich auch der amerikanische Einkaufsdiscount „Wall-Mart“ zu Nutze gemacht. Selbst in den Werbeprospekten sind Mitarbeiter mit Produkten der Angebotspalette zu sehen. Neben ihrem Bild werden sie mit Vornamen vorgestellt. Also ist es nicht nur für die Mitarbeiter angenehmer, mit einem familiären Du angesprochen zu werden, sondern auch die Kunden haben ein größeres Vertrauen in die Produkte, da sie das Gefühl haben, von einem „Bekannten“ beraten zu werden.

5.2 Verwendung der Anredepronomina durch das Verhalten in bestimmten Situationen

Ein Jugendlicher versucht, durch nicht altersgemäße Kleidung anzudeuten, daß er mehr Respekt wünscht und gesiezt werden möchte. Jedoch gehört zu der Kleidung auf jeden Fall das dazugehörige Auftreten. Zieht er in einem Restaurant abendliche Garderobe an und verhält sich dementsprechend, fühlt er sich durch das Duzen einer Servicekraft nicht für ernst genommen und beleidigt. Ebenso kann ein Erwachsener durch sein Auftreten oder seine lässige Kleidung in legerer Atmosphäre zum Ausdruck bringen, daß er anstelle des förmlichen Sie ein freundschaftliches Du wünscht. Meist bietet der Erwachsene dem Jugendlichen das Du im angebrachten Moment an. Auf den Übergang vom Duzen zum Siezen wird später in dieser Ausarbeitung eingegangen. Dieses Verhalten ist vor allem in Sportvereinen oder in der Gastronomie zu beobachten. Durch das Duzen von Jugendlichen fühlen sich Erwachsene im ausgewählten Umfeld jünger, ebenso in die Gemeinschaft integriert und von ihr respektiert. Sie wollen im Gegensatz zu ihrer „Arbeitswelt“ in der Freizeit unterstützt durch den lockeren Umgangston abschalten.

Es gibt auch Alltagssituationen, in denen Erwachsene ungefragt von Jugendlichen geduzt werden. Allerdings muß dazu ein entsprechend lockeres Umfeld gegeben sein. Geht ein Teenager zum Beispiel in ein Geschäft, in dem tätowiert wird, reden sich der ältere Tätowierer und der junge Kunde ungefragt mit dem Pronomen Du an. Auch hier wird Gemütlichkeit, Jugendlichkeit und Gemeinschaft signalisiert. Dadurch versteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Personen, die sich rein oberflächlich kennen.

5.3 Unsicherheit bei der Wahl des „richtigen“ Anredepronomen

Die Du/ Sie- Regel aus dem Grammatiklexikon von Helbig/ Bucha formuliert die Wahl des richtigen Anredepronomen folgendermaßen: „Falls die angesprochene Person erwachsen, mit der sprechenden Person nicht verwandt, befreundet oder näher bekannt ist, wird im Singular und Plural statt du und ihr die Höflichkeitsanrede Sie verwendet.“26

Die Wahl des richtigen Anredepronomens erzeugt trotzdem oft Unsicherheit im Alltag. Es liegt ein Widerspruch zur traditionellen Grammatik vor, die gerade deutschlernenden Nationalitäten, mit anderer Muttersprache, Schwierigkeiten bereitet. Das Duzen oder Siezen ist immer mehr Stimmungs- und Symphatieabhängig. Eine Regel kann im Alltag nicht mehr angewendet werden. Auch wenn allgemein gesagt werden kann, daß das Siezen ein Ausdruck der Höflichkeit und der Distanzierung von anderen und das Duzen ein Ausdruck der Vertrautheit und der Familiarität ist, führt der Anredegebrauch zu verschiedenen Meinungen und Bewertungen. Es ist also wichtig, die Beziehungen der Dialogpartner zueinander zu identifizieren. Man muß deren Verhältnis zueinander analysieren, um die dazugehörigen Anredepronomina verstehen zu können. Aber nicht immer funktioniert dies, da die Zeit, um einen anderen Menschen studieren zu können, nicht gegeben ist. Um dies zu verdeutlichen, soll hier eine persönlich beobachtete Situation geschildert werden:

Ein ungefähr 18-jähriger junger Mann fragt eine 24 Jahre alte Frau auf dem Bahnsteig: „Kann ich Ihnen beim Tragen des Koffers behilflich sein?“ Er hatte also durch die Hektik und Eile keine Zeit, die Angesprochene länger zu beobachten und einschätzen zu können. Zum einen zeugte diese Art der Formulierung seiner Frage von Höflichkeit und Respekt. Andererseits war es der Frau, nach eigener Aussage, in einer Art und Weise unangenehm, gesiezt zu werden, da sie sich selber als nicht viel älter empfand, als ihr Gegenüber. Hätten die beiden sich in einer anderen Atmosphäre kennengelernt oder im Zugabteil ein längeres Gespräch geführt, wäre der junge Mann wahrscheinlich eher zu einem Du übergegangen. Aber meist führen gerade schnell zu entscheidende Situationen zu einem Anredeverhalten, daß der einzelne als ungewohnt empfinden kann. Letztendlich kann mit einem Sie in unsicheren Momenten nichts falsch gemacht werden.

5.4 Duzen und Siezen in Bünden und Behörden

Der Zeitgeist des späten 18. Jahrhunderts war in den besseren Kreisen markiert durch das Aufblühen verschiedener Bünde. Die traditionsbewußte studentische Verbindung bewahrt bis heute das Duzen als Zeichen der Eintracht und Brüderlichkeit. In der Brauchtumsordnung des heutigen CV (= Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindung) liest man im § VI 1 (Anrede im CV):

„Die studierenden Mitglieder des CV benutzen gegenseitig und im Verkehr mit den Amtsstellen des CV das cartellbrüderliche „Du“. Bei Anreden von Alten Herren im Cartell entscheidet die Anrede des Älteren, im Zweifelsfalle ist „Sie“ zu verwenden. Befindet sich ein Alter Herr (sowie Cartell- wie Bundesbruder) in einem direkten Vorgesetztenverhältnis, ist regelmäßig „Sie“ als Anrede zu gebrauchen, nur wenn der vorgesetzte ausdrücklich das „Du“ wünscht, darf „Du“ gesagt werden.“27

Bei Beamten, Lehrern oder auch Polizisten ist davon auszugehen, daß sie gesiezt werden. Dies scheint durch Erziehung und dem Respekt selbstverständlich zu sein. Bei einem Gespräch mit einer Polizistin aus dem Raum Hamburg kam jedoch zum Ausdruck, daß auch hier Unterschiede im Gebrauch der Anredepronomina zu erkennen sind. Untereinander duzen sich die Polizisten, egal welchen Alters. Hieran ist ebenfalls das Gefühl der Gemeinschaft zu erkennen. Im Umgang mit Jugendlichen geht diese Polizistin zum vertrauten Du über und läßt sich auch zurückduzen. Sie hat aus ihrer Erfahrungen erkannt, daß ihr so ein einfacherer Zugang zu den Teenagern geebnet wird und ihre Ansichten von ihnen ernster genommen werden. Sie empfinden so die Polizistin nicht als Eindringling, sondern als einen von ihnen. „Beim Siezen taucht eine Trotzhaltung bei den Jugendlichen auf und sie verhalten sich nicht kooperativ“ schilderte sie. Weiter beobachtete die Hamburger Beamtin, daß viele ihrer Kollegen sämtliche „Randgruppen“, zu nennen wären Alkoholiker, Obdachlose und Ausländer, zu duzen pflegen, sich allerdings angegriffen fühlen, wenn diese zurück duzen. Erst dann wird ihnen nämlich ihre in dem Moment als beleidigend empfundene Sprechhaltung bewußt und sie kehren dann zum Sie zurück.

6. Probleme beim Duzen und Siezen

6.1 Alltägliche problematische Situationen

Das Duzen und Siezen gehört zum Bestandteil des täglichen Lebens. Es finden sich immer wieder Situationen, in denen zu entscheiden ist, welche der beiden Anredemodalitäten zu nutzen sind und man wird leicht verunsichert im Gebrauch der Anredepronomina. Wenn das Duzen in der Diskothek unter Jugendlichen zur Norm geworden ist, ist es nicht normal dieses Pronomen in einer anderen Umgebung untereinander zu nutzen, wenn man sich nicht kennt. Als Beispiele werden zwei Orte genannt, in denen folgende Beobachtungen persönlich gemacht wurden:

- Steht einer der beiden Jugendlichen zum Beispiel hinter einem Bankschalter und berät den anderen, werden diese miteinander unbekannten Jugendlichen sich siezen. Daran ist zu erkennen, daß auch hier die Kleidung und Umgebung von Bedeutung ist und nicht die jeweiligen Personen und deren Alter.
- In einem Ökoladen wiederum geschieht häufig das Gegenteil. Dort erhalten alle Kunden, ob sie wollen oder nicht, das naturbelassene, solidarische Du.

In der heutigen pluralistischen Gesellschaft ist es nicht leicht, eine bestimmte Norm für die Anrede zu finden. Im Zweifelsfall ist es eine unproblematische Lösung, das Pronomen zu umgehen. Anstatt „Könntest Du/ könnten Sie mir bitte die Butter geben?“ zu sagen, ist es geschickter, sich mit „Könnte ich bitte die Butter haben?“ aus der unangenehmen Situation herauszuwinden. Allerdings wird es mit zunehmender Dauer des Gesprächs immer schwieriger, diese Strategie beizubehalten, und außerdem offenbart sie immer deutlicher die Unsicherheit des Sprechers in bezug auf das Rollenverhältnis zu seinem Gesprächspartner, was die Interaktion wiederum erheblich erschwert.

6.2 Beleidigende Wirkungen des Du und Sie

Den Anredepronomina kann man auch im Bereich der Beleidigungen erhebliche Bedeutung zumessen. Nagatomo befand, daß je nach Zweck und mundartlichen Ausdrücken das Du, als auch das Sie, eine beleidigende Wirkung auf den Angesprochenen ausüben können.28

Es wurde beispielsweise eine Nürnberger Marktfrau im Jahr 1976 sogar zu einer Geldstrafe von 2250 DM verurteilt, weil sie eine Amtsperson duzte.29 Die „Südwest-Presse“ vom 04. September 1976 berichtete, daß ein Polizeibeamter besagter Marktfrau mitteilte, daß zwei ihrer Verkaufsstände nicht stehen bleiben dürften. Nachdem sie antwortete: „Das hast du nicht zu bestimmen“, verbat sich der Beamte das Du. Doch diese Zurechtweisung verstand die Frau nicht und entgegnete mit: „Das wird doch keine Beleidigung sein, zum Herrgott sagt man doch auch Du, deshalb sage ich zu dir auch Du.“ Auch der Einwand, daß sie vom Lande käme, wo sich jeder duze, fand vor Gericht kein Verständnis. Der Richter befand, daß das Duzen das Persönlichkeitsrecht beeinträchtige und ehrenrührig sei.30

Es hat nicht gleich jeder falsche Gebrauch der Anredepronomina juristische Konsequenzen, aber die Verletzung der Höflichkeitsregeln können ebenfalls zu Unstimmigkeiten der Kommunikationspartnern führen und zwischenmenschliche Beziehungen beeinträchtigen, wenn auf den falschen Gebrauch nicht hingewiesen wird.

6.3 Der Übergang vom Siezen zum Duzen

Die Abmachung des Duzens gilt in der deutschen Sprachgemeinschaft als Zeichen der Vertiefung der Freundschaft und Intimität. Zu ihr gehört die fast ritualisierte Höflichkeitsregel, daß ein Älterer dem Jüngeren und ein

Vorgesetzter dem Angestellten das Du anbieten darf. Allerdings ist dies ein meist formaler Akt zwischen zwei Personen, die nicht alltäglich miteinander umgehen. Üblicherweise bieten sich Firmenfeste oder andere Feierlichkeiten an, um „Brüderschaft“ zu trinken. In anderen Fällen, zum Beispiel zwischen Nachbarn, vollzieht sich der Übergang fast unmerklich. Mit fortschreitender Bekanntschaft werden die Sprechakte weniger formal und der Druck, die Veränderung durch eine sprachliche zu unterstreichen, wird größer. Die Folge ist eine Einigung auf das gegenseitige Du. Dieser Vorgang birgt allerdings auch Komplikationen in sich. Gerhard Augst beschreibt, daß inhaltliche und formale Veränderungen parallel verlaufen müssen.31 Ebenso wird es schwierig, wenn der Wechsel vom Sie zum Du nicht innerhalb eines bestimmten, wenn auch variablen Zeitraumes vollzogen wird. Gerhardt Augst beschreibt einen immer größer werdenden Druck, es beim Sie zu belassen, wenn sich der zeitliche Abstand des Kennenlernens vergrößert.32 Es ist nach einer gewissen, variablen, Zeit ungewohnt, die andere Person „befremdend“ mit einem Du anzusprechen, wenn man sich ansonsten gesiezt hat. Dies entspricht einem Gewohnheitseffekt, so daß leicht ein sonst üblich gewesenes Sie herausrutschen kann. Jedoch kann das wiederum der andere als Ablehnung der neu erworbenen sprachlichen Vertrautheit deuten.

Gerade die zukünftige Schwiegermutter anzureden, bedeutet in vielen Fällen Schwierigkeiten. Sollte das Sie benutzt werden oder das Du? Der Nachname, der Vorname? Einerseits hätte man sie nicht ohne den Sohn/ die Tochter kennengelernt, was bedeutet, daß das Verhältnis anfänglich nicht auf freiwillige Symphatiebekundung beruhen muß. Andererseits zeugt diese Verbindung von einer Art Verwandtschaftsverhältnis, in dem üblicherweise geduzt wird. In vielen Fällen wird durch dieses Dilemma ein Besuch zu einer Übung in der Wortgewandtheit bei der Anrede.

Eine andere Form des Wechsels vom Sie zum Du ist während einer Auseinandersetzung zu erkennen, in der die verbal agierenden Kontrahenten sehr schnell zum Duzen übergehen.

6.3.1 Der unerlaubte Wechsel vom Sie zum Du

Daß ein unerlaubter Wechsel in den Anredepronomina nicht immer in einer Auseinandersetzung enden muß, schildert ein Bericht über eine Bundestagsdebatte in der Frankfurter Rundschau vom 5. Juni 1987: „Bonn, 4. Juni (dpa). Ein ungewöhnliches Doppel-Du war am Donnerstag im Bundestag bei der Debatte über die doppelte Null-Lösung zu hören. Die Grünen-Abgeordnete Christa Nickels duzte bei einer Zwischenfrage den SPD- Abgeordneten Karsten Voigt und leitete ihren Satz unter deutlichen Geraune im

Plenum mit der Bemerkung ein: „Du hast gesagt “ Voigt redete die Grünen- Abgeordnete daraufhin mit „Christa“ an. Auf Gelächter der übrigen Abgeordneten schob er in die Rede ein: „Wenn ich mit Du angeredet werde, antworte ich entsprechend.“ Er sei ohnehin der Meinung, daß es im Bundestag oft zu steif zugehe. Nach seiner Meinung könne man sich auch einmal duzen.“33

6.4 Vom Duzen zum Siezen

Selbst wenn einst freundschaftliche Beziehungen vollständig abkühlen, wird gewöhnlich am Du festgehalten. Fast scheint dies zu verbürgen, daß die einmal geknüpften Beziehungen nie mehr vollständig gelöst, enge Bekannte niemals Fremde werden können. Bemerkenswert ist aber vor allem, daß die sprachliche Anredeform hartnäckiger bewahrt wird als die soziale Beziehung selbst, deren Ausdruck sie ist. Sogar wenn beiden Partnern die Abkühlung der Beziehung bewußt ist, halten sie gewöhnlich am einmal hergestellten Du fest. Daran wird nach Ammon deutlich, „daß die drei Ebenen: Wirklichkeit (hier: die objektive soziale Beziehung), Bewußtsein von der Wirklichkeit (hier: die Vorstellung von der sozialen Beziehung), sprachlicher Ausdruck (hier: die Anrede mit Sie oder Du), auseinandergehalten werden müssen. Gleichwohl hängen diese drei Ebenen zusammen und lassen sich folglich aufeinander beziehen. Die Interdependenz erklärt freilich noch nicht, warum an der Anredeform hartnäckiger festgehalten wird als an dem, was ihr zugrunde liegt.“34 Er versucht dies damit zu erklären, daß die Deutschen einen Schein bewahren wollen, was sie mit falscher Höflichkeit verwechseln. „In den bisherigen Überlegungen ist schon impliziert, daß die durch die Symmetrie der Anrede suggerierte soziale Gleichheit keine wirkliche ist.“35

7. Kleiner Einblick vom Duzen und Siezen im Ausland

Schon 1766 fiel Georg Christoph Lichtenberg (1742 - 1799) auf, daß es ein Lieblingsspott der Ausländer über unsere Sprache sei, zu einer Person mal Du, Er, Ihr oder Sie zu sagen.36 „Dafür können wir aber auch mit unserm Du, Er, Ihr, Sie, mit einer einzigen Silbe Verhältnisse von Menschen ausdrücken, wovon der Engländer und Franzose gar keinen Begriff hat oder wenigstens keinen bestimmten, weil ihm das Zeichen dazu fehlt. [...] Ich mögte wohl wissen, wie sich der Engländer die Verachtung ausdrücken wollte, die das Er mit sich führt, wenn ein Vorgesetzter zu jemanden, zu dem er sonst im Dienst Sie zu sagen pflegte, nun da er ihn auf einem Betrug ertappt, mit Er anredet. [...] Er muß sich mit Umschreibungen helfen, aber das Umschreiben haben wir alsdann entweder zu gut, oder können es im Fall der Not auch, so gut als die Ausländer und die Wilden.“37

Was schon im 17. Jahrhundert zu Verwunderungen führte, hat sich bis in die heutige Zeit nicht geändert. Der Tagesspiegel vom 27. Mai 1979 berichtete von einem schon lange in Deutschland lebenden Engländer im mittleren Alter. Dieser sagte zu seinem deutschen Tennispartner: „Ich kann Sie einfach nicht mit Herr Müller ansprechen, wenn wir zusammen Tennis spielen. Ich heiße Patrick, und Sie?“ Nachdem er von seinem Gegenüber den Vornamen erfahren hatte, fuhr er zufrieden mit dem Spiel fort und rief: „Sie haben den Aufschlag, Emil!“ Dem Herrn Müller fehlte allerdings zum Vornamen das Du und fühlte sich unsicher bei der ihm ungewohnten Anrede. Wie ihm geht es allerdings vielen Deutschen, die im In- oder Ausland mit Engländern oder Amerikanern zu tun haben. Auf Englisch kann man sich nur ungezwungener anreden, indem man den Vornamen benutzt, denn die Form, die zu Shakespeares Zeiten unserem Du entsprach, ist ausgestorben. Nur in der Bibel ist thou, thee, thy und thine noch zu lesen. Im you ist die einstige Höflichkeitsform zur allgemeinen Anrede geworden. Amerikaner machen noch häufiger als die Engländer Gebrauch vom Vornamen, sehr zum Gram der Übersetzer, die den Grad der Vertrautheit, also Du oder Sie, schätzen müssen.

In Schweden hat sich ebenfalls vor ein paar Jahren das allgemeine Du eingebürgert, eine Entwicklung, die in Schulen und Universitäten ebenfalls ihren Anfang genommen hatten. Dort gibt es keine Anzeige und Fernsehwerbung, in der das Höflichkeitspronomen Sie Verwendung findet.

8. Schlußbemerkung

Das heutige binäre Anredesystem komplex und wissenschaftlich zusammenzufassen, ist unserer Meinung nach kaum möglich, da jedes Individuum eine andere, eigene Auffassung hat, situationsbedingt damit umzugehen. Es können zwar gewisse Regeln der Umgangsformen aufgestellt werden, in welchen Momenten man zum Beispiel höflichkeitsbedingt das Sie verwenden sollte, aber im Alltag entscheidet jeder für sich individuell, wen er wie anzusprechen gedenkt. An Regeln denkt man dabei konkret nicht, sondern macht es scheinbar unbewußt von der Situation und dem jeweiligen Kommunikationspartner spontan abhängig. Daß eine Marktfrau, ohne böser Absicht, einen Polizisten duzt, finden einige Menschen ebenfalls nicht schlimm. Andere können jedoch die Reaktion des Polizisten verstehen, der sich nicht von jedem duzen lassen möchte.

Die Thematik des Duzen und Siezen taucht täglich im Leben jedes einzelnen auf und jeder von uns fand sich schon einmal in Situationen wieder, wo man nicht genau wußte, wie man seinen Gegenüber ansprechen sollte. Auch die Momente, in denen man selber mit einem Pronomen angesprochen wird, welches man nicht erwartet hätte, sind nachvollziehbar. Doch diese Situationen sind eher auf einer gefühlsmäßigen Ebene gelagert und schwer in allgemeine Regeln zu fassen.

Allerdings sind die geschichtlichen Verhaltensbeobachtungen nachträglich sehr gut wissenschaftlich zu definieren. Denn mit Abstand kann besser beobachtet werden, woraus zum Beispiel das Er und Sie entstanden sind und wie sich der Umgang mit dem Du seit den sechziger Jahren entwickelt hat. Es scheint einfacher zu sein, die Anrede innerhalb verschiedener Gruppen im nachhinein zu analysieren, als empirisch zusammenfassen zu können. Interessant finden wir den Aspekt, daß das Du sich einer immer größeren Beliebtheit erfreut, nicht nur in der Freizeit, sondern auch firmenintern.

Wie die Technologie hat auch das Anredesystem einen Fortschritt erfahren und scheint nie ganz ausgereift zu sein. Es bleibt abzuwarten, wie es sich in Zukunft weiter entwickelt. Vielleicht wird es in einigen Jahren ein Anredepronomen geben, daß das Du und Sie vereinigt, um einige Situationen zu erleichtern...

9. Literaturverzeichnis

Ammon, Ulrich: Zur sozialen Funktion der pronominalen Anrede im Deutschen. 1972

Augst, Gerhardt: Zur Syntax der Höflichkeit. Wiesbaden 1977.

Besch, Werner: Duzen, Siezen, Titulieren. Göttingen 1996.

Bunte, 1988

Grimm, Jakob: Deutsche Grammatik vierter Teil. Gütersloh 1898

Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt 1979.

Jentzsch / Wachinger; Gegenwart und Mittelalter. Frankfurt / M. 1997.

Kohz, Armin: Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens. Tübingen 1982

Müller / Hog / Wessling: Sichtwechsel. Stuttgart 1984

Nagatomo, Masami Th.: Die Leistung der Anrede und Höflichkeitsformen in den sprachlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. Münster 1986.

Völpel, Susanne: Die Entwicklung und Funktion pronominaler Anredeformen. Berlin 1988

[...]


1 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt 1979, S. 32.

2 Humboldt, W. v., 1979, S. 11.

3 Vgl. Nagatomo, Masami Th. Die Leistung der Anrede und Höflichkeitsformen in den sprachlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. Münster 1986, S. 7.

4 Humboldt, W. v., 1979, S. 23..

5 ebd.

6 Vgl. Nagatomo, 1986, S. 15.

7 Vgl. Nagatomo 1986, S. 16.

8 Vgl. Kohz, Armin: Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens. Tübingen 1982, S. 60. 6

9 Ammon, Ulrich: Zur sozialen Funktion der pronominalen Anrede im Deutschen. 1972, S.83 f. 8

10 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik vierter Teil. Gütersloh 1898, S. 362.

11 Ammon 1972, S. 83.

12 Kohz 1982, S. 10.

13 Müller/ Hog/ Wessling: Sichtwechsel. Stuttgart 1984, S. 121.

14 Kohz 1982, S. 21.

15 Ebd.

16 Nagatomo 1986, S. 332.

17 Besch 1996, S.20.

18 Vgl. Besch, Werner: Duzen, Siezen, Titulieren. Göttingen 1996, S. 20.

19 Besch, W. 1996, S. 20.

20 Vgl. Besch, W. 1996, S.20.

21 Vgl. Besch.1996, S.53.

22 Vgl. Besch. 1996, S. 61.

23 Besch. 1996, S. 64.

24 Besch 1996, S. 80.

25 „Bunte“ 1988

26 Müller/ Hog/ Wessling: Sichtwechsel. Stuttgart 1984, S. 121. 20

27 Nagatomo 1986, S. 306.

28 Vgl. Nagatomo 1986, S. 341.

29 Vgl. Jentzsch / Wachinger: Gegenwart und Mittelalter. Frankfurt/M. 1979, S.77.

30 Vgl. Völpel, Susanne: Die Entwicklung und Funktion pronominaler Anredeformen. Berlin 1988, Text M 34

31 Vgl. Augst, Gerhardt: Zur Syntax der Höflichkeit. Wiesbaden 1977, S. 15.

32 Ebd.

33 Völpel 1988, Text M 35.

34 Ammon 1972, S. 83.

35 Ammon 1972, S. 84.

36 Vgl. Jentzsch/ Wachinger: Gegenwart und Mittelalter. Frankfurt/ M. 1979, S. 49.

37 Jentzsch/ Wachinger 1979, S. 49.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Das Duzen und Siezen
Note
1,5
Autor
Jahr
2001
Seiten
29
Katalognummer
V104464
ISBN (eBook)
9783640027996
Dateigröße
419 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kompletter Überblick mit historischer Betrachtung/Entwicklung
Schlagworte
Duzen, Siezen
Arbeit zitieren
Daniela Hadwiger (Autor:in), 2001, Das Duzen und Siezen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104464

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