Digression und Arabeske


Seminararbeit, 2001

10 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Tristram Shandy
2.1. Tristram Shandys Sprache
2.2. Die Person Tristram Shandy

3. Der Goldne Topf
3.1. Die Sprache des Studenten Anselmus
3.2. Die Person Anselmus

4. Conclusio

5. Literaturangabe

1. Einleitung

Der Begriff Digression (zu dt.: Abschweifung) beschreibt ein weites Feld - es ist sogar sein elementares Wesen!

Dies zu begreifen und verständlich zu machen ist Aufgabe dieser Seminararbeit. Anhand zweier ausgewählter Texte, nämlich Laurence Sternes „Tristram Shandy“ und E.T.A. Hoffmanns „Der Goldne Topf“ soll der Frage nachgegangen werden, wie der Leser vom „eigentlichen“ Text - also der Handlung - abgelenkt wird. Dabei steht die Sprache in beiden Werken im Vordergrund. Exemplarisch soll erörtert werden, wie die beiden Werke auch durch Beschreibung (und natürlich auch durch das Handeln) der Protagonisten einen „abschweifenden“ Leseeindruck erwecken und wo hierin die Unterschiede beider Texte liegen. „Tristram Shandy“ dient dabei als Grundlage, da man dieses Werk wohl als „Proto“- Text für Digression bezeichnen darf. „Der Goldne Topf“ soll Laurence Sternes Roman entgegengestellt werden, wodurch gleichzeitig eine klare Unterscheidung zwischen Digression und Arabeske getroffen werden soll.

2. Laurence Sterne: „Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman“

„Jeder Leser, der den Tristram Shandy zum ersten Mal zur Hand nimmt, wird das Buch nach (oder während) der Lektüre zur Seite legen. Er fühlt sich irritiert und gefoppt. [...]“

Norbert Kohl, „Die Struktur des `Tristram Shandy´“1

Norbert Kohl beschreibt in diesem Zitat eine mögliche Reaktion des Lesers, die zugleich sehr wahrscheinlich ist: Der Leser fühlt sich in der Tat „irritiert und gefoppt“. Wie aber kommt es zu dieser Reaktion?

Ausschlaggebend mag zunächst der Titel des Romans sein: „Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman“. Der Leser darf demnach eine Art Biographie erwarten, also eine chronologisch sinnvoll erzählte Lebensgeschichte. Diese Erwartung wird jedoch bereits in den ersten Kapiteln zerschlagen. Dabei beginnt Sterne seinen Roman mit der Geburt bzw. bereits mit der Zeugung des Helden Tristram Shandy:

„Ich wollte, mein Vater oder auch meine Mutter, oder eigentlich beide - denn es wäre wirklich beider Pflicht und Schuldigkeit gewesen -hätten bedacht, was sie tun wollten, als sie mich zeugten.“2

Schon der erste Satz spiegelt den Grundtenor des gesamten Werkes wieder: Der „Held“ des Romans beschreibt seine Lebens- und Leidensgeschichte mit einem Sprachduktus, den man als ironisch-distanziert beschreiben kann. Dies allein widerspricht dem Leseeindruck eines biographischen Roman noch nicht. Auch die direkte Anrede des „geneigte[n] Leser[s]“3läßt sich noch mit den Bedingungen eines biographischen Textes vereinbaren. Wodurch entsteht dann aber die Irritation des Lesers? Um diese Frage zu beantworten ist es von Nöten, die Sprache Sternes (bzw. die Sprechweise des Tristram Shandy) etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

2.1.Tristram Shandys Sprache

Schon in dem bereits zitierten ersten Satz des Romans fällt eines auf: Die recht umständlich anmutende Satzkonstruktion. Der Hauptsatz - beginnend mit „Ich wollte, mein Vater[...]“ - wird erst nach einer Gedankenstrich-Konstruktion durch „[...] hätten bedacht“ vollendet. Der zweite Satz des Romans ist sogar noch um einiges komplexer, so dass der - womöglich etwas unbedarfte - Leser geradezu gezwungen ist, dem Textverlauf sehr aufmerksam zu folgen. Doch der Held des Romans weiss um seine umständliche Sprache. Gerade deshalb wird der Leser von Tristram Shandy, dem Erzähler, direkt angesprochen: „Ja ihr lieben Leute, glaubt mir nur, diese Sache ist nicht so unerheblich, als manche von euch glauben mögen.“4Diesen Vorgang des Erzählens bezeichnet man als „Dubitatio“. Mit Dubitatio bezeichnet man eine „fingierte Unsicherheit eines Redners (oder Erzählers), der das Publikum wegen der scheinbar unlösbaren Schwierigkeiten bei Anlage und Durchführung seiner Rede (Erzählung usw.) um Rat fragt [...]“5. Der Erzähler und Held des Romans - Tristram Shandy - ist sich seiner Sache also zunächst nicht so ganz sicher. Es scheint, als wüßte er nicht so recht, wie er seine Geschichte anfangen soll. Das hindert ihn jedoch nicht daran, im Verlauf des Textes in geradezu epischer Breite von dem Umständen seiner Zeugung, Geburt und vor allem auch von den wichtigen Personen in seinem Leben zu erzählen, wie z.B. von Onkel Toby. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die „Anmerkung zur Übersetzung und Textgestalt“ von Hans J. Schütz:

„Das Satzbild der Originalausgabe (1760-67) ist außerordentlich unruhig. Charakteristisch sind willkürliche Absätze, scheinbare Textlücken, unbedruckte, geschwärzte oder marmorierte Seiten, häufiger Gebrauch von Kursivschrift, Versalien und Sternchen, ungewöhnliche Interpunktion und variierende Länge der Gedankenstriche.“6

Angesichts dieser Anmerkung wird deutlich, warum sich der Leser „irritiert und gefoppt“ fühlt. Sterne verzichtet in seinem Roman nahezu vollständig auf eine „straight line“, also auf einen Handlungsstrang, der den Leser wie an einem roten Faden durch das Leben von Tristram Shandy führt. Stattdessen gibt er dem Erzähler und Helden seines Romans alle Freiheiten: Shandy erzählt im Grunde keine Geschichte im klassischen Sinn; er schweift ab, kommt auf den Punkt zurück, ohne ihn wirklich zu benennen, er zitiert, dichtet, entschuldigt sich beim Leser, nur um ihn wenig später durch fehlende Kapitel oder scheinbar unmotivierte Gedankensprünge erneut zu irritieren. Der Leser ist im Prinzip auf sich gestellt, denn der einzige, der ihm bei der Lektüre des Romans helfen könnte, ist Tristram Shandy selbst.

Warum aber läßt Shandy den Leser „im Stich“? Warum läßt er ihn alleine mit fragmentarischen Episoden, die sich unregelmäßig mit episch-breiten Personenbeschreibungen abwechseln? Und warum verwirrt er ihn zusätzlich durch gewagte grammatikalische Konstruktionen und Satzgebilde?

Um diese Fragen zu beantworten muss man sich der Person Tristram Shandy nähern. Daher soll im folgenden versucht werden, die Hauptfigur in Sternes Roman zu charakterisieren.

2.2 Die Person Tristram Shandy

Wir haben bereits festgestellt, dass Shandy seine Lebensgeschichte mit Ironie und Witz erzählt. Dabei scheint er sich selbst weniger ernst zu nehmen als die anderen Personen im Roman. Wie sonst wäre es zu erklären, dass der Ich-Erzähler Shandy zwar zahlreiche Bemerkungen zu seiner Person macht, sich nie jedoch so detailliert beschreibt wie zum Beispiel Onkel Toby oder auch Walter, den peniblen Hausvater. Shandy stellt sich selbst in den Hintergrund, um seiner Lebensgeschichte mehr Platz einzuräumen. Dies erschwert eine Charakterisierung erheblich, zumal der Versuch eines biographischen Romans letztenendes als gescheitert zu beurteilen ist. „Tristram überließ es dem lieben Gott, den nächsten Schritt im Fortgang seiner Erzählung zu lenken, Sterne jedoch verfaßte seinen Roman, wie sehr angesehne Kritiker heute meinen, nach einem ziemlich ausgeklügelten Plan.“7 Diese Anmerkung von Wayne C. Booth unterstreicht den bisher festgestellten Leseeindruck. Darüber hinaus zeigt das Zitat, dass es wenig Sinn macht, Parallelen zwischen dem Leben des Tristram Shandy und dem Leben des Verfassers Laurence Sterne zu ziehen.

Wer also ist Tristram Shandy? Zunächst kann festgehalten werden, dass der Protagonist in Sternes Roman in seinem Leben viel Pech gehabt hat. Schon bei der Geburt wird ihm durch eine Zange die Nase „verkürzt“. Dann wird er als Junge durch ein herunterfallendes Fenster fast kastriert, zumindest wird sein bestes Stück stark beschnitten. Diese frühen Kindheits- erlebnisse prägen sehr stark die Art und Weise, wie Shandy seine Lebensgeschichte erzählt. So bezeichnet er sich selbst als „gehorsamster, und ergebenster und untertänigster Diener [..]“8. Aber wem dient Shandy? Sicherlich zum einem dem Leser, dem er diese „Jungferndedikation“ an die Hand gibt. Zum anderen dient Shandy der Geschichte, die er erzählen will. Dabei verhält er sich jedoch ziemlich ungeschickt, unterbricht sich selbst und die anderen Personen der Handlung, nur um dem Leser scheinbar wichtige Informationen nachzuliefern, die sich dann freilich als reichlich unnötig herausstellen. Tristram Shandy ist also eine Art Anti-Held, der sich mit dem Plan, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben, schlicht und einfach übernommen hat.

Dennoch vermag der geneigte Leser, eine gewisse Sympathie für den Titelhelden zu entwickeln. Der Grund hierfür liegt in dem „Insider-Wissen“, welches Shandy dem Leser offenbart. Denn Sternes Roman ist eigentlich ein Text über das Erzählen einer Geschichte. Man erfährt viel über die literarischen Probleme, eine Lebensgeschichte niederzuschreiben. So beginnt beispielsweise die Geschichte ohne erkennbaren Anlaß. Dies veranlasste Wolfgang Iser zu der berechtigten Frage: „Gibt es einen Anfang des `Tristram Shandy´?“9Und in der Tat kann man sehr wohl gute Gründe finden, die Frage mit „Ja“ wie auch mit „Nein“ zu beantworten; natürlich beginnt der Text mit der ersten Seite, dem ersten Satz und dem ersten Wort. Aber innerhalb der Handlung des Romans - wenn es denn eine Handlung gibt - spielt es keine allzugroße Rolle, wann die Geschichte beginnt.

Fassen wir also zusammen: Tristram Shandy ist ein vom Schicksal gebeutelter Mann, der seine Lebensgeschichte mit sehr viel Akribie, aber auch mit einem Maß an Planlosigkeit erzählt, so dass sich der Leser in der Tat „irritiert und gefoppt“ gefühlt. Shandy legt keinen großen Wert auf eine stringente Handlung. Stattdessen scheint seine Geschichte rein assoziativ entstanden zu sein. Dabei ist es Shandy sehr wichtig, einen Bezug zum Leser herzustellen (Stichwort: Dubitatio, vgl. oben). Letztenendes erzählt der Ich-Erzähler Tristram Shandy vom Geschichten-Erzählen selbst und verliert dabei das eigentliche Ziel, sein Leben niederzuschreiben, aus den Augen.

Im Folgenden soll nun E.T.A. Hoffmanns „Der goldne Topf“ untersucht werden. Dabei soll stets der Vergleich zu Sternes „Tristram Shandy“ gezogen werden, um schließlich zu einer klaren Unterscheidung zwischen den Begriffen „Digression“ und „Arabeske“ zu gelangen.

3. E.T.A. Hoffmanns „Der Goldne Topf“

„Das Wunderbare [...] verändert die Kohärenz von Raum und Zeit, es hebt die Schwerkraft und die Kausalität auf und belebt das Unbelebte.“

Paul-Wolfgang Wührl, „Das deutsche Kunstmärchen“10

Die von Wührl festgestellte Eigenschaft des Wunderbaren, die Kohärenz von Raum und Zeit zu verändern, haben wir auch bereits bei Laurence Sternes „Tristram Shandy“ feststellen können. Insofern ist also auch Sternes Text ein „wunderbarer“ Roman.

Doch wenden wir uns zunächst E.T.A. Hoffmanns „Der Goldne Topf“ zu. Schon der Titel der Novelle verbindet Alltägliches mit dem Wunderbaren, denn ein Topf ist normalerweise nicht aus Gold gefertigt. Zudem trägt der Text den Untertitel „Ein Märchen aus der neuen Zeit“, was den Leser - wie schon bei Sterne - irritieren kann, da „die zeitliche Fixierung auf die `neue´ Zeit wiederum stutzig macht, denn dem Genre `Märchen´ haftet vom Ursprung etwas Archaisches [...] an.“11

Hoffmann beschreibt darin die Geschichte des Studenten Anselmus, der - ganz in romantischer Tradition - eine weite Reise von Dresden ins ferne Atlantis unternimmt. Hoffmanns Text beginnt demnach in Dresden:

„Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes häßliches Weib feilbot, so daß alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen.“12

Bereits der erste Satz des Textes weist einige Parallelen zu Sternes Roman auf. Auch Hoffmann bedient sich einer recht komplexen Satzkonstruktion. Allerdings schreibt Hoffmann in der dritten Person und nicht wie Sterne aus der Ich-Perspektive. Dennoch läßt sich auch die Sprache des Protagonisten in Hoffmanns Text genauer analysieren, da der Student Anselmus recht häufig durch direkte Rede zu Wort kommt.

Im folgenden soll also zunächst die Sprache des Studenten Anselmus analysiert und zugleich mit der Sprechweise des Tristram Shandy verglichen werden.

3.1.Die Sprache des Studenten Anselmus

„Wahr ist es doch, ich bin zu allem möglichen Kreuz und Elend geboren!“13Dies sind die ersten Worte, die Hoffmann seinen Protagonisten Anselmus sagen läßt. Schon dieser erste Satz weist wiederum Parallelen zu Tristram Shandy auf, der ja ebenfalls die Umstände seiner Geburt bzw. Zeugung mit einem bedauernden Unterton beschreibt. Jedoch fehlt bei Anselmus - zumindest zu Beginn der Erzählung - die ironische Distanz zu seinem „Elend“. Dies läßt sich aus der Situation der Handlung heraus erklären: Dem Studenten Anselmus widerfährt gleich zu Beginn des Märchens ein Mißgeschick (s.o.), so dass er sich geradezu an seiner mißlichen Lage weidet und im Selbstmitleid vergeht. Unter einem Weidebaum an der Elbe sitzend beschreibt Anselmus die vielen Mißgeschicke, die ihm in seinem Leben schon passiert sind. Dabei läßt er seiner Phantasie freien Lauf und überlegt, was geschehen wäre, wenn er all diese Faux-Pas hätte umgehen können:

„Was hilft es, daß mir der Konrektor Paulmann Hoffnung zu einem Schreiberdienste gemacht hat, wird es denn mein Unstern zulassen, der mich überall verfolgt! [...] Ich weiß es schon, der Mut wäre mir gekommen, ich wäre ein ganz anderer Mensch geworden;“14

Der Konjunktiv verbunden mit der Frage „Was wäre gewesen, wenn...“ spielt also bei den Überlegungen des Anselmus eine große Rolle. Auch hierin liegt ein Unterschied zu Tristram Shandy: Dieser nimmt die Ereignisse und Mißgeschicke seines Lebens gelassener hin, als es der Student Anselmus tut. Shandy trägt sein Leid mit würdevoller Distanz zum Geschehen, die es ihm sogar erlaubt, von der eigentlichen Handlung vollkommen abzuschweifen und so seine Lebensgeschichte während des gesamten Romans eigentlich nie „richtig“, d.h. plausibel für den Leser, zu erzählen. Der Student Anselmus hingegen steckt so tief drin in seiner Misere, dass er den Leser teilhaben läßt an allen Facetten seines „Unsterns“. Er schmückt seinen Leidensbericht mit vielen Anekdoten und Details aus, so dass man sagen kann, die Sprache des Anselmus trägt arabeske Züge. Der Begriff „Arabeske“ wurde „[...]1797/98 durch F. Schlegel auf literar. Phänomene übertragen. Er bezeichnete mit Arabeske nicht nur eine poetische Gattung (mannigfach verschlungene Stoff- und Formkompositionen), sondern auch die ideale romantische Formmöglichkeit[...]“15

E.T.A. Hoffmann macht von diesen Formmöglichkeiten reichlich gebrauch: Äußere Handlung wechselt sich mit wörtlicher Rede, innerem Monolog und sogar lyrischen Elementen ab. Insofern haben wir bereits einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Werken feststellen können: Im „Tristram Shandy“ steht die Handlung im Hintergrund, im „goldnen Topf“ hingegen gibt es einen Handlungsstrang, der vom Studenten Anselmus gleichsam geknüpft und vorangetrieben wird. Shandy steht als Ich-Erzähler dem Geschehen recht distanziert und ironisch gegenüber, der Student Anselmus hingegen ist - vor allem auch emotional - so tief in das Geschehen involviert, dass ihm der Blick von Außen fehlt. Auch der Erzähler im „goldnen Topf“ hält sich mit kritischen Kommentaren weitestgehend zurück. Er ist eher ein Begleiter des armen Anselmus, der ihn wie ein Freund durch das Geschehen führt. Im folgenden soll der Student Anselmus genauer charakterisiert werden; gleichzeitig soll der Charakter mit dem des Tristram Shandy verglichen werden.

3.2. Die Person Anselmus

„Der `poetischen Geisterwelt´ ist bei Hoffmann als zentrale Figur der Künstler zugeordnet, in der `prosaischen Sphäre des Alltags´ dominiert der Philister.“16

Der Student Anselmus ist ein Wandler zwischen diesen Welten: Der „poetischen Geisterwelt“ auf der einen und der Alltagswelt auf der anderen Seite. Er ist ein junger Mann mit recht ansprechendem Äußeren, der sich für sein Leben so einiges vorgenommen hat: Er will durch seine Schulbildung im Rang vorwärtskommen und auch in der Liebe hat er vor, das Herz „seiner“ Dame (des Fräuleins Veronika) zu erobern. Aber diese Pläne erfüllen sich zunächst aus zwei Gründen nicht: Zum einen ist Anselmus durch seinen „Unstern“ sehr ungeschickt im Umgang mit dem anderen Geschlecht und auch im Verhalten seinen Vorgesetzten gegenüber. Zum zweiten ist der Charakter des Anselmus von einer sehr regen Phantasie geprägt, die ihn ein ums andere Mal einen Strich durch die Rechnung macht.

Doch gerade die Phantasie ist es, die ihn schließlich an das Ziel seiner Wünsche - symbolisch hierfür: Atlantis - führt. Tristram Shandy hingegen ist in seinen Beschreibungen eher nüchtern als phantasievoll. Zwar schweift er häufig weit vom eigentlichen Thema ab, doch ist diese Digression eher assoziativ zu nennen. Shandy überläßt es dem Zufall, was er dem Leser gerade mitteilen will, der Student Anselmus aber beschreibt sein Gefühlsleben immer aus der momentanen Situation heraus. Man kann also festhalten, dass der Erzähler in Sternes Roman

eher kontingent berichtet, der Student Anselmus hingegen handelt mit einer gewissen Stringenz, die jedoch freilich sehr verschlungene Pfade einschlägt.

Folgende These soll abschließend erörtert werden: Der Student Anselmus ist ein reiner Geistesmensch, ein Künstler, der zwar ganz alltägliche Probleme hat, diese aber dank seiner Phantasie letztenendes überwindet; Tristram Shandy hingegen ist ein „Philister“, also ein Bürger, der weniger von Phantasie getrieben wird als vielmehr von einer Faszination vom Spiel mit dem Möglichkeiten.

4. Conclusio

Wir haben einige Parallelen zwischen beiden Werken feststellen können, die sich insbesondere auf die beiden Protagonisten Shandy und Anselmus beziehen. Entscheidender als diese Übereinstimmungen sind jedoch die Unterschiede, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:

Tristram Shandy ist ein Mann, der sich ganz auf seine Sprache verläßt. Er legt sehr viel Wert auf exakte Beschreibungen von Personen, die in seinem Leben eine Rolle spielen. Dabei schweift er sehr weit von seinem eigentlichen Thema, nämlich einer Beschreibung seines Lebens, ab, was den Leser nicht nur irritiert, sondern teilweise sogar verstören, ja sogar verärgern kann. Der Leser fühlt sich im Stich gelassen, denn der Erzähler vergisst seine wichtigste Aufgabe: Das Erzählen. Nichtsdestotrotz ist Tristram Shandy eine literarische Figur, die man schätzen lernen kann, weil man durch ihn sehr viel über das „Problem: Literatur“ erfahren kann, d.h. über die Sorgen und Nöte eines jeden Autors, wie er seine Geschichte so in gekonnte Worte verpackt, dass diese beim Rezipienten auch richtig ankommt.

Der Student Anselmus hingegen ist eine Figur, die ganz mit der Handlung verwoben ist. Der Leser entwickelt unwillkürlich Sympathie für den jungen Mann, der von einem Mißgeschick ins nächste tappst, da Anselmus der Romantiker schlechthin ist. Er ist ein Künstler im Geiste, ein Wandler zwischen den Welten, aber auch ein gekonnter Rhetoriker, wenn es darum geht, die ganzen Konsequenzen seines ungeschickten Handelns darzustellen. Dadurch ist „Der goldne Topf“ eine sehr amüsantes Märchen, das den Leser leichter in seinen Bann zieht als dies Laurence Sterne mit „Tristram Shandy“ vermag.

Dabei darf man natürlich eines nicht übersehen: „Tristram Shandy“ ist ein sehr umfangreicher Roman, der die Seitenzahl des „goldnen Topfes“ um ein vielfaches übertrifft. Eines jedoch kann man mit gutem Gewissen für beide Werke sagen: Es sind beides literarische Meisterwerke, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

5. Literaturangabe:

- Sterne, Laurence: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman;

Insel Verlag, TB 621, Frankfurt am Main 1982

- Hoffmann, E.T.A.: Der Goldne Topf - Ein Märchen aus der neuen Zeit;

Reclam, Stuttgart 1993

- Booth, Wayne C.:

- Iser, Wolfgang:

- Lindken, Hans Ulrich:

Der dramatisierte Erzähler im humoristischen Roman vor „Tristram Shandy“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970

Laurence Sternes „Tristram Shandy“ - Inszenierte Subjektivität, München 1987

Erläuterungen zu E.T.A. Hoffmann: Ritter Gluck, Der goldne Topf, Das Fräulein von Scuderi, Hollfeld 1995

- Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen; Stuttgart 1990

- Scholz, Ingeborg: Ernst Th. A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi, Der goldne Topf - Interpretation und unterrichtspraktische Vorschläge, Hollfeld/Ofr. 1989

[...]


1Kohl, Norbert: Die Struktur des „Tristram Shandy“, in: Sterne, Laurence: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman; Insel Verlag, TB 621, Frankfurt am Main 1982

2 Sterne, Laurence: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman; Insel Verlag, Frankfurt am Main 1982, Seite 13

3Sterne, Laurence: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman; Seite 13

4ebd.

5Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen; Stuttgart 1990, S. 114

6 Schütz, Hans J.: Anmerkung zur Übersetzung und Textgestalt; in: Sterne, Laurence: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman; Insel Verlag, Frankfurt am Main 1982, Seite 692

7 Booth, Wayne C.: Der dramatisierte Erzähler im humoristischen Roman vor „Tristram Shandy“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970, Seite 6

8Sterne, Laurence: Tristram Shandy, Seite 25

9 Iser, Wolfgang: Laurence Sternes „Tristram Shandy“ - Inszenierte Subjektivität, München 1987, Seite 11

10Wührl, Paul-Wolfgang: Das deutsche Kunstmärchen, Heidelberg 1984, Seite 11

11Lindken, Hans Ulrich: Erläuterungen zu E.T.A. Hoffmann: Ritter Gluck, Der goldne Topf, Das Fräulein von Scuderi, Hollfeld 1995, Seite 49

12 Hoffmann, E.T.A.: Der Goldne Topf - Ein Märchen aus der neuen Zeit; Reclam, Stuttgart 1993, Seite 5

13Hoffmann, E.T.A.: Der goldne Topf, Seite 8

14ebenda, Seite 9

15 Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen; Stuttgart 1990, S. 23

16 Scholz, Ingeborg: Ernst Th. A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi, Der goldne Topf - Interpretation und unterrichtspraktische Vorschläge, Hollfeld/Ofr. 1989, Seite 68

Ende der Leseprobe aus 10 Seiten

Details

Titel
Digression und Arabeske
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veranstaltung
Seminar
Autor
Jahr
2001
Seiten
10
Katalognummer
V104466
ISBN (eBook)
9783640028016
Dateigröße
353 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Noch nicht vollendeter Entwurf zur Seminararbeit
Schlagworte
Digression, Arabeske, Seminar
Arbeit zitieren
Denzler Claudius (Autor:in), 2001, Digression und Arabeske, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104466

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