Intertextualität


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

19 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Die Geschichte der Intertextualität
a. Der Begriff
b. Der Inhalt
c. Die Bedeutung

2. Gerard Genette
a. Formen der Intertextualität

3. Peter Stocker
a. Formen der Intertextualität
- Palintextualität
- Metatextualität
- Hypertextualität
- Similtextualität
- Thematextualität
- Demotextualität
b. Funktionen der Intertextualität
- Kulturelle Funktion
- Poetische Funktion
- Textstrategische Funktion
c. Debatte : Intertextualität
- Intertextualität und Referentialität
- Intertextualität und Fiktionalität
- Intertextualität und Autorschaft
- Intertextualität und Lesbarkeit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die vorliegende Arbeit entstand aus einem Vortrag im Rahmen des Seminars zur Metafiktionalität fiktionaler Texte. Sie soll als theoretische Grundlage dienen und einen groben Überblick über gängige Intertextualitätstheorie bieten. Dabei werden im wesentlichen drei Felder behandelt: Die Begriffs - und Bedeutungsentstehung des Phänomens Intertextualität, der erste bedeutende Versuch einer Klassifikation durch Gerard Genette und schließlich ein modernerer Ansatz von Peter Stocker.

Als einziger einer Reihe von Autoren bietet Peter Stocker einen Überblick über die Entstehungsgeschichte der Intertextualität. In der Definition der Intertextualitätsformen bezieht er sich nur partiell auf Genette, wohingegen Gerda Hassler die Genette´sche Definition der Intertextualitätsformen übernimmt.1

Es scheint daher sinnvoll, die bahnbrechende Ausführung Genette´s darzustellen und dann exemplarisch, für weitere Möglichkeiten des Modifizierens dieser Theorie, Peter Stockers Erweiterung zu thematisieren. Stockers Ansatz erhebt zwar keinen Anspruch auf absolute Vollständigkeit, eignet sich jedoch gut, um der Aufgabenstellung einer Einführung in die Intertextualität gerecht zu werden.

1. Geschichte der Intertextualität

a. Der Begriff

Seit den 80er Jahren taucht ein Diskurs um Intertextualität immer häufiger auf. Von einem wissenschaftlich „gesicherten“ Begriff kann jedoch noch nicht gesprochen werden.2Nach wie vor bestehen erhebliche Divergenzen zwischen verschiedenen Intertextualitätskonzeptionen. Ein Hauptgrund dafür liegt in der Geschichte des Begriffs.

Ursprünglich stammt dieser aus einem Aufsatz von Julia Kristeva, über das Dialogizitätskonzept Michail Bachtin`s. In diesem Aufsatz von 1967 “Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“ wird erstmalig das Wort „intertexte“ erwähnt.3

Es reicht jedoch nicht aus, dass die Forschung jetzt einen Untersuchungsgegenstand hat, denn „als Sache ist Intertextualität erst dann eine „Tatsache“, seit (als) man sich einen Begriff von ihr zu machen sucht“4

Es gilt also zu klären, was Intertextualität ist und nicht ob dieses Phänomen existiert.

b. Der Inhalt

Inhaltlich findet sich das Phänomen „Intertextualität“ schon weit vor 1967. Beispielsweise in den Formen Zitat, Anspielung, Parodie, Travestie, Imitatio, Tradition, Erbe, Quelle, Einfluss, etc.

Der Sensationswert des Begriffs Intertextualität in den 60er Jahren lag vor allem darin begründet, dass versucht wurde Intertextualität als Globalbegriff zu etablieren, der alle Formen in einem Wort zusammenfassen könnte.

Hermann Meyer verwies in seiner Untersuchung zum „Zitat der Erzählkunst“ auf die Gefahren einer Globaltheorie:

„Allgemeine Begriffe sind weite Begriffe und laufen leicht Gefahr, „ins Uferlose [zu] geraten.“5

Und obwohl Intertextualität nicht als Globalwort für alle unterschiedlichen Phänomene eingesetzt werden kann, bilden diese doch

- modifiziert in ihrer Definition - die wichtigsten Bausteine der Intertextualität. Insbesondere stellen die rhetorischen Figuren „Zitat“ und „Anspielung“ eine Art Kernbereich dar.

c. Die Bedeutung

In der Debatte um die Bedeutung des Begriffs Intertextualität, herrscht Unstimmigkeit. Vor allem die Frage, wie weit der Begriff zu fassen sei, wird kontrovers diskutiert. Mittlerweile steht der Begriff Intertextualität als Homonym für zwei völlig verschiedenen Sachverhalte:

- ganz bestimmte Zitate oder zitatähnliche Beziehungen und
- Textbeziehungen im weitesten Sinne.

Die Polyvalenz des Intertextualitätsbegriffs rührt keineswegs nur daher, dass dieser für viele ältere Betrachtungsweisen steht. Es hängt auch davon ab, welche Funktion erfüllt werden:

- wird eine Eigenschaft bezeichnet,
- eine Beziehung,
- eine Funktionsweise von Texten, oder
- der Textsinn bzw. die Erzeugung von Sinn?6

2. Gerard Genette

a. Formen der Intertextualität

Es ist also ratsam erst einmal zu gliedern, was alles zu Intertextualität gehört und wie man diese Formen ordnen könnte.

Eine der umfassensten intertextualitätstheoretischen Arbeiten stammt von Gérard Genette7. Genette beschreibt die Gesamtheit aller möglichen Beziehungen zwischen Texten als Transtextualität. Innerhalb dieser werden fünf Gruppen unterschieden:

a. Intertextualität (Zitat)
b. Paratextualität (Motto)
c. Metatextualität (Buchrezension)
d. Hypertextualität (Parodie)
e. Architextualität (Gattungszusammenhänge)

Intertextualität steht vor allem für die traditionelle Praxis des Zitierens, aber auch für das Plagiat und die Anspielung. Paratextualität meint die Beziehung zwischen dem Text und den ihn unmittelbar einrahmenden Versatzstücken, wie Überschriften, Einleitung, Nachwort, Anmerkungen etc.

Metatextualität beschreibt den Kommentar eines Textes über einem anderen - für Genette die kritische Beziehung par excellence.8 Hypertextualität ist die kommentarlose Transformation eines Prätextes in die Form einer Parodie, eines Pastiche oder einer Anspielung etc. Architextualität ist die abstrakteste und impliziteste Form, sie betrifft die allgemeineren Gattungsbezüge zwischen den Texten.

3. Peter Stocker

a. Formen der Intertextualität

Peter Stocker hat den Ansatz Gerard Genette`s weiter ausgearbeitet, 1988 verfasste er folgende Modifikation:

„Ein literarisches Phänomen heißt genau dann intertextuell, wenn es

a. auf einer palintextuellen und/oder
b. auf einer metatextuellen und/oder
c. auf einer hypertextuellen und/oder
d. auf einer similtextuellen und/oder
e. auf einer thematextuellen und/oder
f. auf einer demotextuellen und/oder

Beziehung zwischen zwei oder mehr Texten beruht.“9

Palintextualität (Zitat und Anspielung)

Bei dieser Form fungiert die Wiederholung als wesentliche Bestimmungsgröße. Palintextualität wird als Beziehung zwischen zwei oder mehr Texten verstanden, die auf Wiederholung beruht. Dabei gilt: „Ein Zitat ist die Wiederholung einer Äußerung.“10

Eine palintextuelle Wiederholung von Äußerungen impliziert jedoch nicht die Wiederholung von Äußerungsinhalten. Die wiederholten Textelemente müssen für den Prätext spezifisch sein. Auf diese Weise können banale sprachbedingte Kongruenzen und textuelle Übereinstimmungen, die einer anderen Form der Intertextualität angehören, ausgeschlossen werden. So zum Beispiel der Märchen-Anfang „Es war einmal...“.

Stocker definiert Palintextualität folgendermaßen:

„Eine Beziehung zwischen zwei Texten heißt genau dann palintextuell, wenn ein Text (Palintext) spezifische Textelemente eines anderen oder mehrerer anderer dieser Texte (Prätexte) im Wortlaut oder in abgewandelter Form zitiert.“11

Metatextualität (Rezensionen)

Metatextualität kann, wie Intertextualität, verschiedenfach definiert werden. Bei Stocker wird es als eine Form der Intertextualität verstanden bei der nicht mit den Wörtern eines Textes sondern über diese gesprochen wird. Berufsmäßig findet man Verfasser metatextueller Texte meistens in der Literaturkritik und -wissenschaft. Der Unterschied zwischen Palintextualität und Metatextualität besteht darin, dass ein Text, der zitiert, die Wörter gebraucht. Ein Metatext dagegen benennt diese nur. Stocker definiert Metatextualität so:

„Eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Texten heißt genau dann metatextuell, wenn ein Text (Metatext) einen oder mehrere dieser Texte (Prätext) thematisiert, namentlich indem er Prätexte als ganze oder in Teilen metasprachlich benennt.“12

Hypertextualität und Similtextualität (Imitation)

Ebenfalls eine Form der Intertextualität bilden Texte die andere Texte imitieren. Dazu gehören Formen wie Pastiche, Parodie, Travestie und Kontrafaktur. Bisher fanden sich diese literarischen Schreibweisen vor allem in der Gattungstheorie wieder, da sie aber ausschließlich auf Intertextualität beruhen, bedürfen sie auch in der Intertextualitätstheorie besonderer Aufmerksamkeit.

Stockers Definition lautet:

„Eine Beziehung zwischen zwei Texten heißt genau dann hypertextuell, wenn einer dieser Texte (Hypertext) den anderen (Prätext) in augenfälliger Weise imitiert.“13

Wichtig ist hier, dass der Nachahmungscharakter offensichtlich ist und nicht, wie bei der „imitatio“ der Antike vorgegeben, verborgen bleibt.

Hypertextualität bezieht sich auf Einzeltexte; zitiert, thematisiert oder imitiert wird jeweils nur ein einzelner Text. Werden Textklassen, Autoren oder Epochenstile imitiert, handelt es sich um Similtextualität. Auch bei Gerard Genette gibt es eine Aufteilung zwischen Einzeltext bezogenen Transformationen und System bezogenen Imitationen. Jedoch geschieht dies innerhalb einer Intertextualitätsform. Stocker scheint es sinnvoller, eine Grenze so zu ziehen, „dass keine Intertextualitätsform sowohl Text als auch System bezogen sein kann, d.h. so, dass jede Form entweder das eine oder das andere ist“14

Aus dieser Überlegung ergibt sich eine neue Intertextualitätsform, die Stocker Similtextualität nennt und folgend definiert:

„Der Bezug eines Textes (Similtext) auf bestimmte Stile, Genres, Schreibweisen oder allgemein auf poetische Muster, heißt genau dann similtextuell, wenn diese Muster in augenfälliger Weise imitiert werden.“15

Hypertextualität bezieht sich also auf den Bereich „Einzeltext“, Similtextualität auf den Bereich „Textklasse“.

Thematextualität und Demotextualität

Romane können sich auf typische Muster einer Gattung beziehen indem sie diese zum Beispiel anwenden. Eine intertextuelle Implikation ergibt sich jedoch aus der Anwendung von Gattungsmustern erst dann, wenn der Bezug über die bloße Anwendung hinaus geht. Das heißt eine Form der Intertextualität entsteht erst dann, wenn der Bezug auf das System über das Aktualisieren hinaus eine reflexive Komponente enthält.

Stocker nennt dies Thematextualität.

„Der Bezug eines Textes (Thematext) auf bestehende Stile, Genres, Schreibweisen oder allg. auf poetische Muster heißt genau dann thematextuell (oder poetologisch), wenn diese Muster thematisiert werden.“16

Neben diesem muss aber noch einem weiteren Phänomen Rechnung getragen werden. Wenn nämlich der Stil oder das Genre, auf das der Text bezug nimmt, nicht thematisiert, sondern demonstriert wird, d.h. wenn keine reflexive sondern eine typologische Anwendung des Genres erfolgt. Stocker nennt das Demotextualität:

„Der Bezug eines Textes (Demotext) auf bestehende Stile, Genres, Schreibweisen oder allgemein auf poetische Muster heißt genau dann demotextuell (oder poetologisch), wenn diese Muster demonstrativ angewendet werden.“17

Alle bis jetzt aufgeführten Intertextualitätsformen lassen sich in einem Schema veranschaulichen und ergänzen. Sowohl der Modus des Thematisierens, als auch der des Imitierens lässt sich von der Einzeltext- bezogenen Intertextualitätsform auf die System bezogene Form übertragen. Das Zitieren muss auf der System - Ebene durch Demonstrieren ersetzt werden, um die Gegenform der Palintextualität zu spezifizieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten18

Es ist durchaus möglich, dass neben den beschriebenen Phänomenen weitere Bereiche gebildet werden könnten, auf die sich Intertextualität bezieht. Deshalb kann diese Systematisierung der Intertextualitätsformen durch Stocker den Anforderungen einer Klassifikation im strengen Sinne nicht genügen.

Die vorläufige Einteilung eignet sich jedoch als Arbeitsgrundlage, die hilft, Intertextualität präziser zu spezifizieren und anzuwenden. Zusammenfassend definiert Stocker am Ende seiner Ausführung noch einmal:

Intertextualität

„Ein literarisches Phänomen heißt genau dann intertextuell, wenn es

a. auf Zitieren und /oder

b. auf Thematisieren und /oder

c. auf Imitieren eines Textes oder mehrerer Texte (Prätexte) durch einen anderen Text beruht, (Palin-, Meta-, Hypertextualität) und/oder, wenn es

a. auf Imitieren und/oder

b. auf Thematisieren und /oder

c. auf Demonstrieren

von poetischen Mustern beruht (Simil-, Thema-, Demotextualität).“19

b. Funktionen der Intertextualität

Ebenso wie die Formen sind auch die Funktionen der Intertextualität sehr vielfältig. Nicht selten treten verschiedene Funktionen in einem Text zur gleichen Zeit auf. Diese reichen von der Figurencharakterisierung und der Beschreibung über die Kommentierung der Erzählinhalte und Antizipation bis hin zur Dramatisierung eines Textes und der Erzeugung von Komik. Für jeden Text lässt sich eine solche Liste von Intertextualitätsfunktionen erstellen, die aber immer unvollständig bleiben wird.20

In diesem Zusammenhang bezieht sich Funktion jedoch nicht auf die Polyvalenz der Intertextualität sondern auf die verschiedenen funktionalen Konzeptionen der Intertextualität. Jede der folgend aufgeführten drei Funktionen beansprucht dabei für sich, die Leistung der Intertextualität in „ihrem Wesen“ zu erfassen, unabhängig vom Beitrag den sie zur Figurencharakterisierung, zur Ortsbeschreibung oder zum Erzählkommentar leistet.

Kulturelle Funktion - „Gedächtniskunst“

Hat Intertextualität den Sinn einer Gedächtniskunst?

Betrachtet man Intertextualität anhand der Frage nach ihrer kulturellen Funktion stößt man auf zwei Richtungen:

a. Das Schlagwort „simulacrum“ rückt die Intertextualität in die Nähe des Totengedenkens, dem zu Folge sich die Hinterbliebenen die Toten als gegenwärtig vorstellen.

b. Die Mnemonik (Erinnerungskunst) sieht die intertextuelle „Kunst“ als eine Errungenschaft mit der die Kultur ihr eigenes Erinnerungsvermögen erhöht; mit der sie ihre Identität und Kontinuität gewährleisten kann.

Die Mnemotechnik findet besonders in jüngster Zeit neue konzeptionelle Betrachtung in der Intertextualitätstheorie. „Literarische Texte sind die Gedächtnisstifter einer Kultur. Der Bezug zur Intertextualität ergibt sich aus der Vermutung, der Raum zwischen den Texten könnte der eigentliche Gedächtnisraum sein.“21

Haverkamp/Lachman bezeichnen die Vielzahl der Texte - in unterschiedlichen Graden intertextueller Verwobenheit - als Gedächtnisort. Wenn jedoch Kultur ihre Identität durch Intertextualität bzw. Literatur gewährleistet, dann stellt sich unweigerlich die Frage, nach dem Wesen der Kultur.

Die Bestimmung der kulturellen Funktion von Literatur ist also abhängig vom vorausgesetzten Kulturbegriff. Wird Kultur als ein Prozess der Ansammlung betrachtet, dann müsste Literatur und Intertextualität als eine Art Vehikel für Kulturgüter gesehen werden.22

Während die Literatur - selbst ein Kulturgut - sowohl Vehikel, als auch Frachtgut darstellen müsste, kann Schrift schon eher als Vehikel gesehen werden.

Nun ist aber Literatur nicht die einzige Form von Schrift und sie erschöpft sich auch nicht in dieser. Somit mag es noch genügen, die Schrift als Vehikel zu instrumentalisieren. Der Literatur wird dieses Bild aber keines Falls gerecht. Stocker hält es an diesem Punkt für fragwürdig, ob sich die These vom kulturellen Gedächtnisraum der Intertextualität noch halten lässt. Viel aussichtsreicher sei es, zunächst die poetische Funktion zu klären und im zweiten Schritt die kulturelle Funktion von Literatur zu untersuchen. Erst dann könne man auch nach dem Anteil der Intertextualität an dieser kulturellen Funktion fragen.23

Insofern bleibt unklar, ob die Literatur bzw. die Intertextualität im Prozess der Desemiotisierung und Resemiotisierung eine bestimmte Rolle spielt. Es kann aber zumindest festhalten werden, dass Intertextualität, wenigstens in einem kleinen Teilbereich der allgemeinen Semiose, nicht unwesentlich an diesen semiotischen Zirkulationsprozessen beteiligt ist.24

Poetische Funktion: „Semantischer Mehrwert“

Hat Intertextualität den Sinn einer poetischen Funktion? Ist Intertextualität dazu da, einen semantischen Mehrwert herzustellen?

Da Intertextualität einen Faktor literarischer Sinnkonstruktion darstellt, ist zweifellos, dass intertextuelle Phänomene, dort wo sie auftreten, einen „semantischen Mehrwert“ versprechen.

Der Begriff „semantischer Mehrwert“ fordert allerdings eine nähere Darstellung von der semantischen Natur des Poetischen. Bevor also Intertextualität in ihrer Poetizität beschrieben werden kann, muss erst der Begriff des Poetischen erklärt werden.

Zunächst kann festgehalten werden, dass zwischen Sprache und Literatur keine wesentliche, sondern nur eine funktionale Differenz besteht. Die literarische Sprache „ist eine Sonderform der Sprachverwendung“.25

Wodurch zeichnet sich also diese „poetische“ Sprachverwendung aus? Entgegen der lange herrschenden Vorstellung von der Reinheit der Poesie, der wertvollen poetischen Sprache gegenüber der negativ definierten Alltagssprache, stellt Stocker fest:

„Literatur ist nicht die reinere sondern die reichere Sprache.“26

Denn die poetische Qualität der Intertextualität findet sich gerade nicht in der Wohlgeformtheit des Ausdrucks. Und so rekurriert so gut wie jeder moderne Funktionsbegriff auf den Reichtum der Poesie.

Intertextualität ist nach Fricke eine externe poetische Funktion durch die eine Beziehung zu einem außerhalb liegenden Sachverhalt hergestellt wird. Dieser Sachverhalt kann auch ein anderer Text sein.

Die poetische Sprachverwendung sieht Stocker gekennzeichnet durch eine Verletzung sprachlicher Normen.

„Das Besondere der poetischen Abweichung besteht in einem Sanktionsverzicht der Sprachgemeinschaft“27

So wird eine Normverletzung der Grammatik in einem Aufsatz mit einer Note sanktioniert, eine Normverletzung in einem Gespräch vielleicht mit dem Abbruch desselben; eine Normverletzung der Grammatik in einem Gedicht wird jedoch nicht sanktioniert.

„Eine poetische Abweichung ist eine Verletzung sprachlicher Normen, die eine nachweisbare Funktion erfüllt und deretwegen somit überwiegend keinerlei Sanktionen akzeptiert werden.“28

Eine dieser Funktionen ist z.B. Intertextualität. Stocker fasst zusammen:

„Intertextualität, die nun als funktionale Abweichung

von einer bestimmten pragmatischen

Sprachhandlungsnorm zu verstehen ist, entfaltet ihre Wirkung in der pragmatischen Ausrichtung von Texten auf ihre Leser. Nur in einzelnen Fällen lässt sich die Funktion der Intertextualität als textuelles Phänomen beschreiben, aber selbst dann bleibt die Beschreibung unvollständig, da sie den pragmatischen Aspekt außer Acht lässt“29

Textstrategische Funktion: „Leserlenkung“

Ist Intertextualität dazu da den Leser zu lenken? Hat Intertextualität den Sinn einer Textstrategie?

Lektüre ist Leserabhängig. Wie ein Text gelesen wird, hängt von den persönlichen Voraussetzungen des Lesers ab. Das ist in der Theorie allgemein anerkannt, unklar ist jedoch welche methodischen und theoretischen Konsequenzen diese Abhängigkeit hat.30

Eine weitere Leserlenkung ergibt sich direkt aus dem Text. Indem dieser sich einem bestimmten Stil oder Genre unterwirft, wird der Leser indirekt aufgefordert den Text in gewünschter Art zu lesen. Ein Detektivroman wird mit anderen Eigenschaften gelesen als ein Science Fiction. Nach Iser teilt der Text dem Leser einen „Code“ mit, der es ihm erlaubt, das im Text angelegte Wirkungspotential zu entfalten

Stocker kritisiert diesen Ansatz. Es sei unangemessen, die Textstrategie als Code zu bezeichnen, da dem Code eine determinierende Wirkung zukommt, während die Textstrategie die Rezeption nicht bestimmen sondern nur beeinflussen könne. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass ein Text in der Regel nicht über eine, sondern mehrere Textstrategien verfügt:

„Intertextualität kann in diesem Rahmen als eine mögliche Teilstrategie aufgefasst werden, die durch das Markieren von intertextuellen Bezugsfeldern mit anderen Textstrategien zusammen die Erfahrungsbedingungen des jeweiligen Posttextes beeinflusst.“31

c. Debatte Intertextualität

Intertextualität und Referentialität

Texte können sich nicht nur auf andere Texte, sondern auch auf die „Dinge der Welt“ beziehen.

Die antike Poetik sowie die neuzeitliche Rezeption seit der Renaissance beschäftigen sich sowohl mit der Referentialität, als auch mit der Intertextualität im Einzelnen, nicht aber mit beiden Phänomenen im Zusammenhang. Hinzukommt, dass es lange Zeit für beide extratextuellen Bezüge nur einen einzigen Ausdruck gab, nämlich „Mimesis“. Der lateinische Begriff dafür lautet „imitatio“. Heute versteht man unter „mimesis“ den referentiellen und unter “imitatio“ den intertextuellen Bezug von Texten.32

Das Problem der „mimesis“ besteht darin, dass nach Aristoteles nicht nur auf das Wirkliche, sondern auch das Mögliche und das Unmögliche referiert werden kann.

„Demnach besteht der Weltbezug der Literatur weniger in der Darstellung von Wirklichem, als vielmehr darin, der Darstellung von Möglichem durch eine geeignete Darstellungsweise den Anschein abgebildeter Weltbezogenheit zu geben.“33

Wenn von Intertextualität als „Bezug“ gesprochen wird, so stellt sich die Frage, ob dieser Bezug im semantischen Sinn nicht gleich Referenz ist. Da Intertextualität aber sämtliche Sprachzeichen bestimmt, sowohl hinsichtlich ihrer Bedeutung als auch hinsichtlich ihrer Referenz, wären Referenz und Bedeutung eins. Das klassische triadische Zeichen - Modell geht jedoch davon aus, dass sprachliche Zeichen mittels Begriffen auf eine außersprachliche Wirklichkeit referieren. Referenz und Bedeutung sind hier nicht dasselbe, denn abhängig von seiner Bedeutung referiert das sprachliche Zeichen auf eine andere außersprachliche Wirklichkeit (eventuell mittels desselben Begriffs).

Intertextualität kann also nur dann als Referenz betrachtet werden, wenn man den Referenzbegriff neu definiert.34

Intertextualität und Fiktionalität

Stellt Intertextualität jene Referentialität, welche durch Fiktionalität aufgehoben wird, wieder her?

Um diese Frage zu beantworten, versucht Stocker das Verhältnis von Intertextualität und Fiktionalität zu klären.

Er nutzt dazu in erster Linie Petrarcas „Laura“ Gedicht. Der Name Laura referiert hier nicht auf eine außersprachlich existierende Person - wenn auch nicht ausgeschlossen wird, dass eine solche existiert - sondern auf eine Fiktion. Zwar enthält der Name Laura eine identifizierende Funktion, er kann jedoch nichts identifizieren, das außerhalb des Textes liegt. Hier ist es wichtig, das es sich um einen fiktionalen Text handelt. Laura wird durch Fiktionalität zum „Scheineigennamen“, nicht durch Literarizität.

Schreibt nun Schiller ein Gedicht über Laura, kommt zu den eben genannten noch der Fakt hinzu, dass dieser Name schon in Petrarcas Gedicht vorkommt. Auch als intertextueller Name ist Laura bloß ein Scheinname, der so tut, als ob er einen wirklichen Referenten hätte. Folglich wird durch Intertextualität weder Referentialität hergestellt, noch Fiktionalität aufgehoben.35

Diese These lässt sich verallgemeinern und auch auf Sprachverwendung im Allgemeinen anwenden.

Intertextualität und Autorenschaft

Ist der Autor wirklich Ursprung seines Werkes?

Oder setzt sich die Intertextualität an die Position des Autors?

Roland Barthes verkündete unlängst den Tod des Autors und ließ lediglich noch einen Schreiber gelten. Es sei jedoch sinnvoller, so Stocker, die Frage, ob es einen Autor gibt, durch die Frage:“ Was ist ein Autor?“ zu ersetzen.36Bei der Analyse von Texten mit unbekannten Autoren lässt sich klar erkennen, dass ein Text niemals nur einen Autor hat, sondern immer mehrere. Eine Lösung wäre vielleicht, von einer kollektiven Autorenschaft zu sprechen. Man entgeht so der harten Kritik Barthes, den Autor durch einen Schreiber zu ersetzen und wird gleichzeitig dem Umstand gerecht, dass jeder Text das Merkmal Intertextualität trägt.

Intertextualität und Lesbarkeit

Ob ein Text verstanden wird hängt immer auch davon ab, wie viel vorher gelesen wurde und wie viel von dem vorher Gesagten mit dem Jetzigen in einen Kontext gebracht werden kann. Sowohl bezogen auf die innere Struktur des Textes, als auch auf die außersprachliche Wirklichkeit gilt:

„Intertextualität kann also zum Problem der Verständlichkeit von Texten überhaupt führen.“37

Zum Verhältnis Lesbarkeit und Intertextualität wurden heftige Kontroversen geführt, auch weil nicht klar ist, was als Lesbarkeit vorausgesetzt werden kann und soll. Umberto Eco stellt die Lesbarkeit in Abhängigkeit zur Offenheit. Die Offenheit wiederum ergibt sich aus dem Informationswert einer Nachricht. Je höher die Redundanz, desto geringer der Informationswert und umgekehrt.

Intertextualität kann diese Offenheit in zwei Richtungen beeinflussen: Je nachdem mit welcher Motivation angewendet, schafft sie durch Redundanzen größeres Verständnis und erschwert durch Zuwachs an Informationen die Lektüre.38

Literaturverzeichnis

Hassler, Gerda: „Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihren sprachlichen Formen“; Nodus Publikationen; Münster 1997

Metzler Lexikon: „Literatur - und Kulturtheorie“; Metzler; Weimar 1998

Pechlivanos, M., Riger, S., Struck, W., Weitz, M.: „Einführung in die Literaturwissenschaft“; Metzler; Weimar 1995

Stocker, Peter: „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“; Ferdinand Schöningh; Paderborn 1998

[...]


1siehe auch Hassler, Gerda: „Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihre sprachlichen Formen“; S.15

2siehe auch: Stocker, Peter: „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“; S.16

3siehe auch : Kristeva, Julia: „Bakhtine, le mot, le dialogue, et le roman.” ; In : „ Critique ” ; S.438-465

4zitiert nach: Stocker, Peter: „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“ S. 18

5zitiert nach: Meyer, Hermann: “Das Zitat in der Erzählkunst“ in Stocker, Peter: „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.18

6siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.24

7siehe auch: Gerard Genette in: Metzler Lexikon: „Literatur - und Kulturtheorie“; S.242, Spalte 2

8siehe auch: Metzler Lexikon: „Literatur - und Kulturtheorie“; S.242, Spalte 2

9zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“ S.50

10zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“ S.51

11zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“ S. 54

12zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“ S.58

13zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.60

14zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 64

15zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.64

16zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.66

17zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 68

18Graphik zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 69

19zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.72

20siehe auch Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.75

21zitiert nach Lachmann 1990: 35 in Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 76

22siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 77

23siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 78

24siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 79

25zitiert nach Stocker S.80; Stocker zählt an dieser Stelle noch einige Ansätze auf, nach denen in der Tat versucht wurde der Literatur ähnlichen Systemcharakter zuzuordnen, wie der Sprache. Dazu gehören u.a. Jackobson und Tynjanov. Siehe auch S. 81 ff.

26zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.83

27zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.84

28zitiert nach Fricke in Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.84

29zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.87

30siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.90

31zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.92

32siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 29

33zitiert nach: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.30

34siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 32

35siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S. 38

36siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.42

37siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.45

38siehe auch: Stocker, Peter; „Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien“, S.48

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Intertextualität
Hochschule
Universität Leipzig
Veranstaltung
Hauptseminar
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V104473
ISBN (eBook)
9783640028078
Dateigröße
376 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Intertextualität, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Janna Plote (Autor:in), 2001, Intertextualität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104473

Kommentare

  • Gast am 14.12.2001

    Nur Zusammenfassung von Peter Stockers Theorie.

    Diese Hausarbeit ist eine Zusammenfassung von Stockers Buch - nicht weniger, aber auch nicht mehr. (Sachlich falsch ist die Feststellung, es gebe keine frühere Darstellungen der Geschichte des Begriffs, vgl. etwa die Einleitung in den Sammelband von Broich/Pfister 1985). Aus meiner Sicht fehlt mehreres; das Wichtigste:
    1. Wie hilft der Begriff bzw. die Theorie bei der Analyse von Einzeltexten? Das scheint nur auf, wenn Plote von den Funktionen von Intertextualität (semantischer Mehrwert) spricht. Auch die Frage danach, ob Intertextualität das Gedächtnis einer Kultur sei, ist eine völlig theoretisch-abgehobene Frage.
    2. Wie erkennt man Intertextualität? Wer Stocker gründlich liest, wird feststellen, dass er meint, man erkenne Intertextualität sozusagen "automatisch", weil sie sich selbst zu erkennen gibt. Tut sie das wirklich?
    3. Die Fiktionalitätstheorie von Stocker ist ziemlich eigenwillig, die Bemerkungen zur Referenz darum auch. Bitte mit Vorsicht behandeln!

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