Arbeiterjugend im Widerstand


Referat / Aufsatz (Schule), 2000

17 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Lage der Arbeiterjugendlichen

3. Die HJ und ihr Anspruch als totalitäre Erziehungsinstanz

4. Arbeiterjugendcliquen und Widerstand

5. Formen des jugendlichen Widerstands

B. Zusammenfassung

C. Anhang - Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Alle Jahre wieder am 20.Juli werden offizielle Gedenkfeiern zum xx-ten Jahrestag des leider erfolglosen Putsches gegen die Nazi-Diktatur stattfinden. In den meisten Schulbüchern wird die zentrale Bedeutung des 20.Juli 1944 als die deutsche Widerstandsbewegung betont. Daneben wird zumeist die „Weiße Rose„ als Widerstandsgruppe von Jugendlichen gegen das „Dritte Reich„ genannt. Diese Herausstellung einzelner bürgerlicher Gruppen und Personen läßt andere Widerstandsgruppen in den Hintergrund treten. Zum Beispiel die „Edelweißpiraten„ und Cliquen von zumeist Arbeiterjugendlichen, die bislan immer noch zu wenig erforscht sind.

Vorliegendes Referat wird sich deshalb mit dem Widerstand von Arbeiterjugendcliquen gegen das „Dritte Reich„ beschäftigen. Der alltägliche Widerstand dieser Jugendlichen gegen den Faschismus und ihre Erfahrungen mit einem totalitären System können meiner Generation in der Auseinandersetzung mit Faschismus und Neofaschismus konkret dienen.

Häufig entsteht der Eindruck, Jugendliche im Nationalsozialismus wären nur willfährige und unkritische Hitlerverehrer gewesen. In Wirklichkeit waren es aber gerade die Jugendlichen, die sich dem NS Regime tagtäglich verweigerten. Und ganz besonders Arbeiterjugendliche aufgrund ihres Elternhauses, ihrer Arbeitsumstände und ihres alltäglichen Lebens. Unabhängig ihrer sozialen Herkunft aber hatten die meisten Jugendlichen ein gemeinsames Ziel, sich kämpferisch einem autoritären System zu widersetzen, das ihre Freiheiten in wachsendem Ausmaß einschränkte und sie systematisch in den Krieg hineinzog.

Mit „jugendlich“ bezeichne ich hier im Kern die Generation der 14 - 19- Jährigen, also der Jugendlichen zwischen Schule, Lehre und Beruf. Das ist nicht unwesentlich. Erstens hatte dies Auswirkungen auf die zumeist spontane und unorganisierte Form des Widerstands: durch das Älterwerden, was häufig das Ausscheiden älterer Jugendlicher aus der Clique zur Folge hatte, wurde ein organisierter Prozess des Widerstands immerwieder unterbrochen. Doch durch die „Tradition„ der Clique und den „natürlichen„ rebellischen Charakter dieser Altersgruppe von Jugendlichen hielt sich auch die Tradition des Widerstands weiter am Leben.

Zweitens lassen sich dadurch im Kern 3 verschiedene Jugend-Generationen während der zwölfjährigen Herrschaft des „Tausendjährigen Reichs" unterscheiden.

Um den täglichen Widerstand besser verstehen zu können, möchte ich zunächst die Bedingungen und den Alltag von Jugendlichen unter dem NS-Regime näher bestimmen

2. Die Lage der Arbeiterjugendlichen

Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterjugendlichen bestimmte deren Alltag und kann in drei Phasen faschistischer Politik eingeteilt werden:

1. Das Bemühen des NS Regimes die in der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik entstandene hohe Arbeitslosigkeit zu beseitigen - 1933-1936

2. Die gesteigerte Aufrüstungs- und Kriegspolitik mit Beginn des zweiten Vierjahresplans September 1936 -1939

3. Der Beginn der offenen militärischen Angriffspolitik mit dem Überfall auf Polen 1939 und der Zeit des 2. Weltkriegs 1939 - 1945

Weil die Nazis zu Beginn ihrer Herrschaft ihr Versprechen, die Arbeitslosigkeit sofort abzuschaffen, nicht einhalten konnten, ergriffen sie Maßnahmen, sogenannte „Arbeitsbeschaffungsprogramme„, die die Arbeitslosigkeit kurzfristig verringerten: diese Programme sahen vor, Arbeitslose und „Notstandsarbeiter„ zu Instandsetzungs- und Landeskultivierungsarbeiten heranzuziehen. Um möglichst viele Arbeitslose einsetzen zu können, bestimmte das Programm, die Arbeiten ohne den Einsatz von größeren Maschinen durchzuführen, um so möglichst viele Arbeitskräfte beschäftigen und damit die Arbeitslosenzahlen senken zu können. Der „Lohn„ bestand aus der Arbeitslosenunterstützung, einem „Bedarfsdeckungsschein„ von 25 Mark im Monat und einer warmen Mahlzeit pro Tag.

Weitere Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit war der sogenannte „freiwillige Arbeitsdienst„- FAD und das „Notwerk der deutschen Jugend„ aus der Weimarer Republik, die „Landhilfe„ (März 1933) und der „Göring-Plan„ (Mai 1934): das „Notwerk„ erfasste alle 14-25 jährigen Arbeitslosen zur täglichen 4-5-stündigen Arbeitspflicht bei geringster Bezahlung, die „Landhilfe„ verschicktete sie in landwirtschaftliche Betriebe, und der „Göring-Plan„ sah vor, daß Jugendliche ihren Arbeitsplatz in den Betrieben Familienvätern zur Verfügung stellten und statt dessen in der „Landhilfe„ oder im FAD arbeiteten. Eine Zusatzverordnung (August 1934) beinhaltete, die Nichteinstellung bzw. Entlassung von Jugendlichen, die nicht mindestens ein Jahr in FAD oder „Landhilfe„ gearbeitet hatten. Diese Maßnahmen der ersten Phase riefen bei den Jugendlichen Widerstand hervor.

Die zweite Phase brachte den Jugendlichen die Einführung der endgültigen Arbeitspflicht und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Zusammen mit der verstärkten Rüstungsproduktion begann eine Wende auf dem Arbeitsmarkt. Die hohe Arbeitslosigkeit zu Beginn des „Dritten Reiches„ wendete sich jetzt in einen Arbeitskräftemangel. Dieser drückte sich in besseren Verdienstchancen, höherer Fluktuation und nachlassender Arbeitsmoral bei den Beschäftigten aus, da der Verlust des Arbeitsplatzes keine Existenzgefährdung mehr nach sich zog. Bummelei, Krankfeiern und Streiks waren die Folgen, welche akut die Rüstungsproduktion, die Produktivität und den Arbeitsfrieden der „Volksgemeinschaft„ im faschistischen Staat gefährdeten.

Das NS- Regime reagierte mit drastischen Disziplinar- und Überwachungsmaßnahmen im Arbeitsprozess: mit der Verordnung zur Sicherstellung des Arbeitskräftebedarfs wurde die Dienstpflicht eingeführt und der Wechsel des Arbeitsplatzes den Arbeitern verboten. Mit Beginn des 2. Weltkriegs als dritter Phase verschärfte sich die Lage der Arbeitenden: Die Einberufung zum Wehrdienst entzog allein den kriegswichtigen Betrieben in den ersten 12 Kriegstagen 640.000 Arbeitskräfte1und bedeutete für die zurückgebliebenen jugendlichen und erwachsenen Beschäftigten Überstunden, Sonderschichten und erhöhtes Arbeitstempo. Dazu kam die stets vorhandene Drohung gegen die männlichen Arbeitskräfte, an die Front verschickt zu werden, als weiteres Zwangsmittel der faschistischen Diktatur.

Für die Arbeiterjugendlichen bedeutete dies konkret, dass sie durch Zwangsarbeit, Militärdienst und Arbeitszeitverlängerung in ihrer Freiheit stark eingeschränkt wurde.

3. Die HJ und ihr Anspruch als totalitäre Erziehungsinstanz

Das Gesetz über die Hitler-Jugend (Dezember 1936) zielte auf die „körperliche, geistige und sittliche„ Erziehung aller Jugendlichen außerhalb von Schule und Elternhaus ab. Der Anspruch des Nationalsozialismus auf totale Erfassung und Organisation des Jugendlebens sollte durch Hitler-Jugend, Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht durchgesetzt werden. Offiziell wurde zwar auf das „Freiwilligkeitsprinzip„ der HJ verwiesen, aber der Alltag brachte Jugendlichen, die nicht in der HJ organisiert waren, Nachteile in Schule und bei der Lehrstellensuche. Im März 1939 wurde mit der „Jugenddienstordnung„ jeder Schein von Freiwilligkeit auch offiziell aufgegeben: Die 2. Durchführungsverordnung zum HJ-Gesetz zwang alle Jungen und Mädchen im Alter von 10-18 Jahren zur Jugenddienstpflicht, die nunmehr der Pflicht zu Arbeits- und Wehrdienst gleichgestellt war. Der zunehmende Zwangscharakter der HJ löste bei vielen Jugendlichen Widerspruch aus. Zwar führte die HJ- Fahrten durch, doch standen diese unter einer starken Reglementierung mit wehrsportlichen Übungen: körperliche Ertüchtigung, militärische Ordnungsübungen, Marschdienst von Einheiten, Antreten, Exerzierübungen, Appelle. Dazu kamen noch in den Kriegsjahren Geländekampfspiele und Schießausbildung.

Neben der starren Ordnung der HJ-Fahrten und des HJ-Lagerlebens wurde der Alltag der Jugendlichen begleitet von weiteren Verboten, Überwachung und Zwangsdiensten: das Verbot des „Trampens„ als Möglichkeit kostenlosen Fahrens, die strenge Überwachung der HJ-Fahrten durch den HJ-Streifendienst, Teilnahmepflicht an Sammlungen und Propagandaveranstaltungen, weltanschauliche Schulungen in Rassenkunde, deutschen Geschichtslegenden und Geschichte der NSdAP, Ernteeinsatz in den Ferien etc. Die Mitgliedschaft in der HJ bedeutete für die Jugendlichen insgesamt: absoluter Gehorsam, Reglementierung ihrer Freizeit bis ins Kleinste, keine Möglichkeit ihre Pubertät und die damit verbundenen Probleme altersgerecht auszuleben. Besonders bei den Arbeiterjugendlichen, die zusätzlich durch Überstunden, Arbeitshetze und die Disziplinierung am Arbeitsplatz, wie beschrieben, in ihren Freiräumen eingeschränkt waren, erzeugte der Zwangscharakter der HJ verstärkt oppositionelles Verhalten.

Auch die Möglichkeit HJ-Führer zu werden, war für die Arbeiterjugendliche stark eingeschränkt: für die ehrenamtlichen Aktivitäten fehlte ihnen die Zeit wegen ihrer zunehmend verlängerten Arbeitszeiten, so dass für die hauptamtlichen Tätigkeiten innerhalb der HJ fast nur Gymnasiasten oder Jugendliche mit ähnlicher Ausbildung oder Voraussetzung in Frage kamen. So stand der HJ die Oppositionshaltung der Arbeiterjugendlichen in doppelter Form gegenüber: einmal als Zwangsorganisation, die ihre Freiräume beschränkte, zum zweiten in Gestalt kaum älterer Gymnasiasten, die ihnen Befehle erteilten, selber aber nicht arbeiten mußten. Alles in allem blieb den Arbeiterjugendlichen nur die Möglichkeit, sich in wilden Cliquen selbst zu organisieren, um sich Freiräume zu erhalten und ihren Wünschen nach jugendgemäßer selbstbestimmter Freizeit gerecht werden zu können.

4. Arbeiterjugendcliquen und Widerstand

Der Nationalsozialismus rief durch seinen totalen Erfassungsanspruch, seine Zwangsmaßnahmen und den Kriegsalltag bei einer starken Minderheit von Jugendlichen Widerstand hervor. Dass die NS-Führung Probleme hatte mit den Arbeiterjugendcliquen als Form des spontanen jugendlichen Widerstands, zeigt die Denkschrift der Reichsjugendführung über „Cliquen und Bandenbildung unter Jugendlichen„ vom September 1942. Dort werden Verbreitung und Einfluss der Cliquen im gesamten Reichsgebiet als örtlich nicht begrenzte Erscheinung geschildert. Auch der interne Schriftverkehr zwischen HJ und Gestapo, die bis Kriegsende schärfer werdenden Verfolgungen und Verurteilungen sowie der wachsende Zwang zur Erfassung von Jugendlichen, unterstreichen die Bedeutung der Cliquen und deren aufmerksame Beobachtung durch den NS-Staat.

Denn alle Jugendlichen, die sich außerhalb der HJ zu Gruppen Gleichaltriger zusammenfanden, sei es auch nur zum Zweck gemeinschaftlicher Freizeitgestaltung oder um der Vereinzelung zu entgehen, galten als mögliche Gegner des Nationalsozialismus. Zu den „Gefährdetengruppen„ zählten Jugendliche aus gelegentlichen Freundescliquen in Schule und Beruf, Straßenbanden, Arbeiterjugendcliquen und die sogenannte „Swing-Jugend„, die sich hauptsächlich aus Jugendlichen der gehobenen Mittelschicht zusammensetzte. Letztere war im Gegensatz zu den Arbeiterjugendcliquen ausgesprochen unpolitisch, jedoch ihre offen demonstrierte Gleichgültigkeit gegenüber NS-Parolen und -Propaganda genügte für das NS- Regime, die Swing-Jugend zu unterdrücken.

Die Behinderung ihrer selbstbestimmten Freizeitgestaltung und die Kriminalisierung des Cliquenlebens durch die NS-Organe entwickelte bei den Jugendlichen allmählich eine konsequente Anti-Haltung gegenüber dem NS-Staat. Die Clique gab ihnen dazu den nötigen Rückhalt. Trotz der Verfolgung durch die Behörden konnten die Cliquen nicht aus der Öffentlichkeit verdrängt werden. Ab 1939/40 bis zum Kriegsende vergrößerte sich ihre Anzahl in den Gebieten, in denen sie bereits bestanden hatten, um ein Vielfaches. Zusätzlich breiteten sie sich auf bislang unberührte Gegenden aus. In ihren Hauptverbreitungsgebieten entwickelten sich die Arbeiterjugendcliquen zur ernsthaften Gegenbewegung zur Staatsjugend. Die Anzahl der bei Großrazzien verhafteten jugendlichen Cliquenmitglieder beweist das enorme Ausmaß der Arbeiterjugendcliquen: im März 1940 wurden in Köln 600 jugendliche Cliquenangehörige festgenommen, von denen 115 Jungen in Gefängnisse und 14 Mädchen in Erziehungsanstalten überwiesen wurden. 1943 wurden allein im Bereich des Landgerichts Köln 250 Jugendliche verhaftet und 1200 verwarnt.

Am 7. Dezember 1942 wurde bei einer behördlichen Großaktion in vier Städten - Düsseldorf, Duisburg, Essen, Wuppertal - gegen 28 Gruppen mit insgesamt 739 Jugendlichen ermittelt. In einigen Städten zählten bis zu einem Drittel aller Jugendlichen, besonders bei den 14- 17 - Jährigen zu den Cliquen. So beteiligten sich in Oberhausen fast 400 Jugendliche an einzelnen Aktionen gegen die HJ. Oberhausener Jugendbanden bestanden zeitweise aus drei- bis viertausend Jugendlichen, während in Dortmund die Anzahl der Cliquenmitglieder auf 600 geschätzt wurde und in Bottrop umfasste eine Clique 150 Jugendliche. Aber nicht nur an Rhein und Ruhr gab es solche Arbeiterjugendcliquen, sondern auch in Bayern, insbesondere in München und in Nürnberg. Von einer Jugendbande in Nürnberg wurde 1943 gemeldet, daß sich dort „seit einigen Wochen ein Club junger Burschen im Alter von 15 bis 19 Jahren gegründet (hat), die darauf ausgingen, Angehörige der HJ zu verhauen oder deren Heime zu stürmen.„2 Selbst in Kleinstädten wie Minden bildeten sich noch im April 1943 Arbeiterjugendcliquen, die Gummiknüppel und einen Totenkopf an der Mütze tragen, laut Vernehmungsprotokoll der örtlichen Behörde.

Auch die NS-Behörde für das Münsterland als ländlicher Raum mußte sich noch Anfang Januar 1944 mit jugendlichen Oppositionellen auseinandersetzen:

„In einem Zusammenschluß bestimmter Gruppen von Jugendlichen, die sich neben kriminellen und sonstigen Vergehen auch staatsfeindlich betätigen, ist es innerhalb der Kreise Emscher- Lippe in dem Verband der sogenannten ‘Edelweißpiraten’ gekommen. In der Anlage übersenden wir eine Urteilsabschrift in einer Strafsache gegen 34 Jugendliche mit der Bitte um Rückgabe. Mit dieser Strafsache ist jedoch nach Mitteilung der Kreisamtsleitung der illegale Verband nicht ausgelöscht. Es kommt auch jetzt noch häufig zu Festnahmen und Verfahren gegen jugendliche ‘Edelweißpiraten’, die sich ausser in Gelsenkirchen auch im Kreis Recklinghausen ungebührlich aufgeführt und an verschiedenen Stellen staatsfeindlich betätigt haben. Jugendliche sind von ihnen überfallen und geschlagen worden. Eine Parteiversammlung wurde gestört und ein Teil der Besucher hinterher ebenfalls überfallen. Auch im Kreisgebiet Münster- Warendorf sind Jugendliche verhaftet worden, die in grösseren und kleineren Gruppen gemeinsam Diebstähle verübten, sich als GPU.- Banditen ausgaben und eine staatsfeindliche Haltung erkennen liessen.„3

Die Jugendlichen gaben ihren Cliquen die verschiedensten Bezeichnungen, die allerdings auch andernorts auftauchen konnten: Navajos und Kittelbachpiraten vor allem an Rhein und Ruhr ab 1936/37, später ab 1938/39 ‘Edelweißpiraten’ benannt, zu denen auch die Essener ‘Fahrtenstenze’ und die Dortmunder ‘Latscher’ gehörten. Andere Cliquennamen dieses Gebiets waren ‘Kanalpiraten’, ‘Ruhrpiraten’ oder ‘GPU-Banditen’, wie im Münsterland. In Halle gab es die ‘Proletengefolgschaften’, als bewußte Provokation der HJ, in Hamburg die ‘Totenkopfbande’, in Leipzig die ‘Meute’, in Dresden den ‘Mob’ und in München die ‘Blase’. Die Cliquen gaben sich zusätzliche Namen um ihr Einflußgebiet zu bezeichnen und von anderen abzugrenzen, wie zum Beispiel in Leipzig, wo sich die Meuten entsprechend ihrer Zusammenkünfte in ‘Hundestart’, ‘Reeperbahn’ und ‘Lille’ unterteilten. In ihrem Gemeinschaftsleben und ihren Traditionen unterschieden sich vor allem Leipziger Meute und Hallenser Proletengefolgschaften, die stark unter kommunistischem Einfluß standen, von den ‘Edelweißpiraten’ an Rhein und Ruhr und den Münchner Blasen, bei denen sich eine Übernahme kommunistischer Traditionen nicht nachweisen läßt.

Die Cliquen im „Dritten Reich„ bestanden überwiegend aus der Arbeiterjugend. Bürgerliche Jugendliche zählten zu den Ausnahmen. Untersuchungen aus Vernehmungsprotokollen der Gestapo lassen über den Bildungsstand der Cliquenangehörigen folgendes aussagen: der Großteil der Jugendlichen war 15- 19 Jahre alt, besaß mehrheitlich Volksschulabschluß, nur ein minimaler Teil besuchte die Hilfsschule, während der Rest auch weitergehende Schulen besuchte. Auffallend war dabei die verhältnismäßig große Anzahl von berufstätigen Jugendlichen und die hohe Zahl vaterloser Cliquenmitglieder.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung widerlegen die Erklärungen der Nationalsozialisten, dass die Cliquen sich aus „sozial Verelendeten„ zusammensetzten. Ziel einer solchen Erklärung dürfte gewesen sein, jede Form von Widerstand und damit die große Minderheit oppositioneller Arbeiterjugendlicher zu verleumden.

Die Altersstruktur weist auf einen gewissen Freiraum in der totalitären Erfassung Jugendlicher durch den NS-Staat hin: die 14 bis 19- Jährigen stellten eine Gruppe Jugendlicher dar zwischen Schulentlassung und Einzug zum Reichsarbeitsdienst bzw. zur Wehrmacht. Aufgrund ihrer Lehr und Arbeitsverhältnisse konnten diese Jugendlichen sich der Kontrolle von Schule und Elternhaus, als auch der direkten Kontrolle der HJ entziehen. Schließlich läßt sich aus der Studie für die Mehrzahl der Cliquenmitglieder belegen, dass sie einer Vielzahl von Familien entstammten, die in Verbindung zur Arbeiterbewegung standen.

Das Gemeinschaftsleben der Cliquen war bestimmt von den gemeinsamen Alltagserfahrungen. Unterdrückung erfuhren die Arbeiterjugendlichen bereits im NS- Schulalltag und setzte sich fort auf die Alltagskultur. Die Auflösung der Arbeitersportvereine, die systematischen Razzien in den Arbeitersiedlungen, die Ausschmückung ganzer Arbeiterviertel mit NS- Symbolen, das Blockwartsystem - das alles waren Mittel der Zerstörung der Alltagskultur bei den Arbeitern und ihren Familien.

Diese Politisierung des Alltags war umfassend und duldete kein abweichendes Verhalten. Allein schon die Zugehörigkeit zur traditionellen Arbeiterschicht konnte bereits zur Abweichung werden. Weil die Jugendlichen einer proletarischen Kultur entstammten gerieten sie unmittelbar mit der faschistischen Diktatur in Konflikt. Durch die Verhaltensweisen der Arbeiterjugendcliquen, ihre Kleidung, Lieder und Gemeinschaftsleben grenzten sie sich daher vom NS-System und seinen Jugendorganisationen bewußt ab.

5. Formen des jugendlichen Widerstands

Die Kleidung der jugendlichen Cliquenmitglieder setzte sich bewußt ab von den Uniformen der HJ: Farbige Kluften, bunte Pullover mit Namens„stickern„, bunte Sporthemden, kurze Lederhosen Lederjacken, Bundschuhe oder russische Ziehharmonika-Stiefel, in deren Schaft man Pfeife und Messer versteckte. Zum bewußt langen Haar trugen die Jugendlichen Skimütze oder Hüte mit abgeschnittenen Krempen. Bereits die Lederhosen galten bei den Nationalsozialisten als Ausdruck von Opposition und mit den Mitteln von Gewalt wurden die Cliquenmitglieder gezwungen, diese abzugeben. Den NS-Symbolen setzte die Cliquenjugend ihre eigenen Symbole entgegen: Edelweiß, Totenkopf oder eine bestimmte Anordnung von Stecknadeln am linken Rockaufschlag. Besonders das Edelweiß war geradezu ideal, da es als offizielles Emblem (Winterhilfswerk) einfach zu erhalten war und während des Krieges als offizielle Leuchtplakette bei Verdunkelung getragen wurde. Dadurch konnte es zumindest in Kriegszeiten nicht als „gegenvölkisches„ Zeichen verfolgt werden.

Die Lieder knüpften an die Tradition der Bündischen-Jugend an, deren Lieder von den Nazis verboten worden waren. Die meisten Lieder wurden ebenso wie die aktuellen Schlager zeilenweise oder strophenweise verändert und für die eigenen Ziele der Jugendlichen umgewandelt. Besonders häufig wurden dabei die Staatsorgane in die Liedtexte montiert, die die Cliquen als ihre Hauptgegner in ihrem Bestreben nach selbstbestimmter Freizeit betrachteten, nämlich Gestapo und HJ-Streifendienst. Umgetextete Nazi-Lieder und betont politische Lieder, die den Freiheitsdrang der Jugendlichen ausdrückten, gehörten auch zum Repertoire. Wenn es bei den Nazis hieß: „Hei, seht wie die weißen Wagen löschen den Roten Brand„ sangen die Arbeiterjugendlichen die letzten Zeilen dieses Lieds„Wir müssen uns verbergen vor Gestapo und ihren Schergen, dürfen nur noch heimlich werben„4. Die Navajos sangen bewußt politisch militant:

„Des Hitlers Zwang, der macht uns klein Noch liegen wir in Ketten.

Doch einmal werden wir wieder frei Wir werden die Ketten schon brechen. Denn unsere Fäuste, die sind hart Ja - und die Messer sitzen los, Für die Freiheit der Jugend kämpfen Navajos„ Die HJ und ihr Alleinerziehungsanspruch sowie der HJ- Streifendienst, der die Cliquen zu überwachen hatte, bekamen das massive Selbstbewußtsein der Cliquenmitglieder auch in den Liedern zu spüren. So lauteten zwei verschiedene Spottlieder auf die HJ:

„Kurze Haare, große Ohren So ward die HJ geboren Lange Haare, Tangoschnitt da kommt die HJ nicht mit! Oho,oho! Und man hört’s an jeder Eck - die HJ muß wieder weg! Oho, oho!„

Die HJ wurde in den Liedern aber nicht nur verspottet, sondern ihr wurde bewußt Gewalt angedroht. Daß es dabei nicht nur bei der Drohung blieb, beweisen die fast täglichen Schlägereien mit der HJ. Die Gewalt, die die Jugendlichen als Kinder wehrlos in der Schule über sich hatten ergehen lassen müssen, ließ sie als Jugendliche mit offener Gegengewalt antworten. In Umkehrung und Wendung des Nazi- Liedes gegen die Nationalsozialisten selbst, sangen beispielsweise die Frankfurter ‘Edelweißpiraten’:

„Ja wenn die Messer blitzen Was kann das Leben und die Nazis flitzen Schönres geben Und die Scheiben klirren drein, Wir wollen Freie sein!„

Die Jugendlichen dichteten und reimten nicht nur verbotene bündische Lieder, Schlager und NS- Militärlieder um, sondern sangen auch bewußt traditionelle Lieder der Arbeiterbewegung, häufig als offene Provokation von HJ und anderen NS-Organisationen. So sangen in Oberhausen die Cliquen bei sich anbahnenden Auseinandersetzungen antifaschistische Kampflieder der von den Nazis verbotenen KPD. In Dortmund war das „Nationallied„ der ‘Edelweißpiraten’ die kommunistische „Internationale„ und in Düsseldorf sangen die ‘Edelweißpiraten’ das Lied sogar auf dem Flur der NS-Dienststelle, um die Nazis zu provozieren. Von den Meuten und Mobs in Leipzig und in Dresden berichtet die bereits erwähnte Denkschrift der Reichsjugendführung vom September 1942 das Singen der „Internationale„ und anderer kommunistischer Lieder.

Treffs und Fahrten nutzten die Jugendlichen um der strengen Reglementierung zu entkommen. Nach der Polizeiverordnung zum Schutz der Jugend vom 9. März 1940 durften Jugendliche unter 18 Jahren sich nicht in der Dunkelheit auf öffentlichen Plätzen und Straßen oder sonstigen öffentlichen Orten aufhalten. Das bedeutete, dass für die arbeitenden Jugendlichen nach 10 -12 Stunden täglicher Arbeitszeit oft nur ein bis zwei Stunden übrig blieb, sich öffentlich mit Gleichaltrigen zu treffen und diese kurze Zeit gemeinsam zu verbringen. Die täglichen Treffs waren bestimmt von gemeinsamen Kommunikationsformen wie Erfahrungsaustausch, Musizieren, Abhören ausländischer Radiosendungen und Aktionen gegen die HJ. Mit der HJ kam es zwangsläufig zu Auseinandersetzungen, da sich die Jugendlichen in ihren wenigen freien Stunden weder überwachen noch reglementieren lassen wollten. Denn die HJ und Schutzpolizei waren beauftragt, für die Einhaltung der Polizeiverordnung zum Schutz der Jugend zu sorgen, während die Clique diese Reglementierung gerade nicht akzeptierte und somit Auseinandersetzungen an Der Tagesordnung waren.

Traf die Clique sich vor dem Krieg in öffentlichen Anlagen und Lokalen - häufig Orte antifaschistischer Tradition - wurden ab 1941 die Bunker zum Cliquentreffpunkt oder man traf sich während Fliegeralarm und Bombenangriffe bewußt außerhalb der Bunker, um sich frei zu entfalten und ungestört das Gemeinschaftsleben zu pflegen.

Unkontrolliertes und unüberwachtes Zusammensein war ebenfalls auf den Fahrten möglich. Die Wochenendfahrten boten den Jugendlichen die Gelegenheit, zumindest für kurze Zeit dem bedrückenden Wohn- und Arbeitsalltag zu entfliehen. Zudem entzogen sich die Jugendlichen besser der ständigen örtlichen Kontrolle des Alltags durch den Nationalsozialismus in Gestalt von NS-Lehrer in der Schule, DAF-Obmann im Betrieb oder HJ-Bannführer bzw. Gestapobeamter oder Blockwart in der Freizeit. An manchen Tagen des Jahres trafen sich dort über 1000 Jugendliche. Obwohl der HJ- Streifendienst versuchte, die beliebtesten Ausflugsziele der Cliquen zu überwachen und insbesondere Treffs mit Arbeiterjugendlichen aus anderen Orten zu verhindern, gelang es den Cliquen ihre Anliegen auf den Fahrten besser durchzusetzen.

Gerade die überörtlichen Treffs mit anderen Cliquen stärkte ihr Selbstbewußtsein und ihren Zusammenhalt gegen das NS-Regime. Dabei setzten die Cliquen oftmals ihren Anspruch nach selbstbestimmter Freizeit mit Gewalt gegen HJ und Gestapo durch, ohne Rücksicht auf die nachfolgenden polizeiliche Verfolgungsmaßnahmen. Die militante Verteidigung ihrer selbstbestimmten Freizeit gründete sich auf die besonderen Angebote der Clique, die ihnen vom Faschismus verwehrt wurde: gemeinsame Wochenendfahrten von Jungen und Mädchen, erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und der ungezwungene Austausch ihrer Erfahrungen stand die Verklemmtheit und die starre Geschlechtertrennung des Nationalsozialismus gegenüber. Die Wochenendfahrten boten darüber hinaus überörtliche Kommunikationsstrukturen und eine Vereinheitlichung des Auftretens der Cliquen in der Öffentlichkeit.

Die Organisation der Clique bestand zumeist aus 10 - 12 Jungen und einigen Mädchen und war nicht hierarchisch aufgebaut. Hierarchische Strukturen konnten sich, wenn überhaupt nur ansatzweise entwickeln - es gab keine Führer mit Privilegien bestenfalls Leitbilder mit Führungsqualitäten - da das Gemeinschaftsleben der 14 - 19 Jährigen nur einen kurzen Zeitraum gemeinsamer Erfahrungszusammenhänge umfasste und aus verschiedensten Gründen immerwieder aufgebrochen wurde (Alter, Militär etc.). Daraus wird auch verständlich, weshalb sich aus den Cliquen kein organisierter politischer Widerstand entwickelte, zumal bei den Jugendlichen dieser Altersgruppe kein entwickeltes politisches Gesellschaftsverständnis erwartet werden darf, die eine Strategie des Widerstands hätte entwerfen können. Die Opposition der Arbeiterjugendlichen mußte daher uneinheitlich, unorganisiert und politisch unklar bleiben. Aber sie bildete doch einen, wenn auch geringgradig organisierten- Widerstand von jugendlichen Oppositionellen gegen das totalitäre faschistische System, der dem Nationalsozialismus Probleme bereitete. Von organisationsähnlichen Strukturen innerhalb der Clique kann nur bei Auseinandersetzungen mit der HJ gesprochen werden. Als Antwort auf die alltäglichen Verfolgungen durch den HJ-Streifendienst entwickelten die Jugendlichen einen „Cliquenselbstschutz„, der häufig als Wachposten, Späher oder nur als Retter wertvoller Musikinstrumente fungierte. Aufgrund der nazistischen Verfolgungspraxis entwickelte die Clique spezifische Verhaltensweisen: Cliquenmitglieder redeten sich bewußt nur mit fiktiven Namen an und fertigten weder schriftliche noch fotografische Erinnerungen an, womit den NS- Behörden die Verfolgung der Cliquen erschwert wurde.

Mädchen stellten in den Cliquen zumeist eine Minderheit dar, aber keine unwesentliche. Manche Cliquen scheinen ausschließlich Jungengruppen, doch werden verschiedentlich auch Gruppen genannt in denen der Anteil von Mädchen bis zu 50 Prozent betrug bis hin zu einer reinen Mädchenclique von‘Edelweißpiratinnen’ in Velbert. In Gestapo- Akten und Urteilen werden Mädchen in den letzten Kriegsjahren häufiger erwähnt, was eine gestiegene oppositionelle Aktivität von Mädchen oder aber eine verstärkte Verfolgung auch von Mädchen bedeuten kann. Cliquen - Mädchen die aufgegriffen wurden, wurden nicht inhaftiert, sondern erfasst und in Fürsorgeheime eingewiesen. Vereinzelt wurden aber auch die Rädelsführerinnen vor Gericht gebracht. Aufgabe der Mädchen in der Clique waren häufig Ablenkungsmanöver bei Soldaten, um den Jungen in der Clique zu ermöglichen Waffen und Lebensmittel zu stehlen. Oft war auch der Waffendiebstahl selbst die Aufgabe der Mädchen. Aus Offenbach wird von ‘Edelweißpiratinnen’ berichtet, die aktiv und bewußt Widerstand gegen das Nazi- Regime leisteten. Eine von ihnen, Gretel Meraldo, wurde am 24.März 1945 hingerichtet.

Im Arbeitsprozess zeigten die Mitglieder der Arbeiterjugendcliquen ihre Geringschätzung kapitalistischer Lohnarbeit. Nicht Stolz auf ihre Leistungen oder der Wunsch nach Erhaltung des Arbeitsplatzes kennzeichneten ihre Haltung, sondern non-konformes Verhalten, Auflehnung und Aufsässigkeit. Mit der individuellen Verweigerung der innerbetrieblichen Arbeitsdisziplin durch Krankfeiern, Blaumachen und Bummelei versuchten die Cliquenjugendlichen, ihre eigene Situation zu verbessern.

Mit der Notdienstverordnung 1938/39, die die Wochenarbeitszeit von 54 auf über 60 Stunden erhöhte und die für jugendliche Lehrlinge und Gesellen die Zwangsvermittlung durch die Arbeitsämter auch an unbeliebte Betriebe vorsah, ging die verstärkte Arbeitsunwilligkeit der Jugendlichen einher. So hatten 15 Kittelbachpiraten in einem Oberhausener Metallbetrieb in einem Zeitraum von 7 Monaten insgesamt 1400 Arbeitsstunden blau gemacht durch absichtliches Fernbleiben vom Arbeitsplatz. Diese Verhalten war keine Ausnahme, eher schon die Regel, so dass diese Form von Bummelei die Rüstungsproduktion in erheblichem Maße sabotierte. Diese Form passiver Sabotage ging manchmal auch in aktive Sabotageaktionen über, die auf die Beendigung des Krieges hinzielten.

Jugendliche Auflehnung äusserte sich besonders in den Kriegsjahren nicht mehr nur durch Bekämpfung der HJ und Disziplinlosigkeit am Arbeitsplatz sondern in Form von Aktivitäten gegen die Fortsetzung des Krieges. So wurden in Wuppertal von den Cliquen systematisch NS- Plakate von den Hauswänden gerissen, Schaukästen der NSDAP zertrümmert und Cliquenzeichen und sozialistische oder kommunistische Symbole in den Häusern der NSDAP- Ortsgruppen angebracht. Auch antifaschistische Flugblätter die zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und den Krieg aufriefen, verteilten sie. In einem Flugblatt Wuppertaler Edelweisspiraten aus dem Jahre 1942 mit dem Titel „An die geknechtete deutsche Jugend„ war zu lesen:

„Das heutige Nazi-Deutschland will euch in die `Hitler-Jugend` stecken. Wo ihr Militärisch und Fachlich ausgebildet werdet im marschieren, Schießen, Karten- und Geländekunde u.s.w. Das Ziel, worauf dies alles zurück geht, ist: Kanonenfutter für Hitlers unersättliche Machtgier! Deutsche Jugend erhebe dich zum Kampf für die Freiheit und Rechte eurer Kinder und Kindeskinder, denn wenn Hitler den Krieg gewinnt ist Europa ein Chaos, die Welt wird geknechtet sein bis zum jüngsten Tage. Bereitet der Knechtschaft ein Ende ehe es zu spät ist.„5

In Köln verteilten Arbeiterjugendliche ebenfalls Flugblätter und malten antifaschistische Parolen an die Wände. Kölner Navajos verbreiteten 1942 mehr als 2000 Flugblätter mit dem Aufruf zu einem Treffen der verbotenen bündischen Jugend. Cliquen von Edelweißpiraten in Düsseldorf- Gerresheim blockierten abends und nachts die Straße für NSDAP- Mitglieder und beschrieben Wände der Eisenbahnunterführung mit Losungen wie „Nieder mit Hitler“ oder „Nieder mit den Nazi- Banditen“ etc. In Dortmund malten sie Parolen an Eisenbahnbrücken und selbst an das Gebäude der Gestapo.

Die Aktivitäten der Edelweißpiraten in Köln- Ehrenfeld reichten von Überfällen auf die HJ bis zu politischer Untergrundarbeit gegen den Nationalsozialismus. Im März/April 1944 hörten sie jede Nacht die Sendungen der BBC und verbreiteten die neuesten Informationen auf SchuhKartons als Flugblätter. Mit ihren Flugblättern trugen sie zur Aufklärung der Bevölkerung über die Kriegssituation bei und forderten die Beendigung des Krieges. Darüber hinaus versorgten sie Zwangsarbeiter, KZ- Häftlinge und Deserteure mit Lebensmitteln. Mit ausländischen Zwangsarbeitern führte sie auch gemeinsame Sabotageaktionen aus.

Am 20.4.44 machten sie dem Führer zum Geburtstag ihr eigenes Geschenk: sie brachten einen Nachschubzug der Wehrmacht zum Entgleisen, um den Nachschub an die Front zu verzögern. Weitere Pläne der Ehrenfelder Edelweißpiraten sahen vor, kriegswichtige Betriebe zu sprengen und einen Anschlag auf das Gestapo- Hauptquartier in Köln, kamen aber nicht zur Ausführung, weil die Clique vorher von der Gestapo zerschlagen wurde. Da sie aufgrund ihrer Widerstandsaktionen in die Illegalität getrieben wurden, bewaffneten sich die Jugendlichen dieser Clique und benutzten die Waffen auch um den Verfolgungsmaßnahmen der Gestapo zu entgehen.

Auch mit dem organisierten Widerstand arbeiteten die Arbeiterjugendcliquen sporadisch zusammen. In Bonn beteiligten sie sich gemeinsam mit der illegalen KPD an militanten Aktionen, in deren Verlauf im Jahre 1941 ein SA-Sturmbannführer erschossen wurde. In Düsseldorf beschlossen 1942 die Edelweißpiraten eine langfristige Zusammenarbeit mit der KPD. Diese enge Kooperation im Widerstand in Düsseldorf war jedoch die Ausnahme. Gegen Ende des Krieges wurden die sogenannten Rädelsführer der oppositionellen Arbeiterjugendcliquen, die sich bewusst an gemeinsamen Aktionen des politischen Widerstands beteiligten, scharf bestraft: entweder wurden sie in Arbeitslager eingewiesen oder mit Jugend-KZ bestraft oder aber auch, wie einige der Köln- Ehrenfelder Edelweißpiraten, exekutiert.

B. Zusammenfassung

Arbeiterjugendcliquen im „Dritten Reich“ bestanden in der Mehrzahl aus 14 - 19 jährigen Jugendlichen traditioneller Arbeitersiedlungen der Großstädte. In den vier Jahren zwischen Schulentlassung und Einberufung zum Wehr- oder Reichsarbeitsdienst verfügten die Jugendlichen über einen größeren Freiraum, weil sie in diesem Zeitraum zum einen der elterlichen Einflussnahme zum anderen der direkten Kontrolle der HJ entzogen waren. In ihrem Arbeitsalltag und in ihrer Freizeit machten sie Erfahrung mit der starren Reglementierung und Unterdrückung des faschistischen Systems. Der straffen Hierarchie und dem stumpfen Drill des HJ-Dienstes, setzten die Arbeiterjugendlichen das selbstbestimmte Gemeinschaftsleben in der Clique gegenüber. Gerade die hierarchielose Struktur ihrer Cliquen, ihre spontanen Handlungsweisen und das Bedürfnis der Jugendlichen nach Selbstbestimmung führte zum Aufbegehren gegen das totalitäre System des Faschismus. Dabei entwickelten sie Formen des Widerstands, die sich in typischer Kleidung, Liedern und der Art ihrer Freizeitgestaltung ausdrückte. Weil das faschistische System keine Abweichung duldete, waren Konflikte vorprogrammiert. Die Erfahrungen der Jugendlichen mit den Verfolgungsmaßnahmen durch die NS-Organe, ihre Auflehnung und Aufsässigkeit gegen die Obrigkeit, ihre vielfältigen Formen des Widerstands führten schließlich einige Cliquenjugendliche in den bewussten politischen Widerstand.

Für viele von ihnen endete dieser mit der Einweisung ins KZ oder sie bezahlten es mit ihrem eigenen Leben.

Weil hinter den Aktionen der 14 - 19- jährigen Jugendlichen kein politisch ausformuliertes Programm stand - was von Jugendlichen auch kaum erwartet werden kann - galten in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang die Cliquenmitglieder als Kriminelle und ihnen wurden politische Widerstandshandlungen gegen den Faschismus abgesprochen. Doch schon vor Kriegsende erkannten die Alliierten die Bedeutung des Widerstands der Arbeiterjugendcliquen. So berichtete die BBC bereits im Januar 1945:

„Es erreichen uns viele Nachrichten vom Geist einer Revolte gegen die Nazis bei Burschen und Mädels Deutschlands. Die Zahl dieser jungen Menschen, über ganz Deutschland verstreut, ist offenbar groß genug, um Himmler große Schwierigkeiten in einem kritischen Augenblick zu verursachen. Die deutsche Jugend (...) tut viel, die Älteren aufzuwecken und ihnen die Möglichkeiten einer Behinderung der Gestapo zu zeigen. In mehreren Städten sind diese antifaschistischen Burschen und Mädchen in enger Fühlung mit ausländischen Arbeitern. Französische Künstler, Zwangsarbeiter in Deutschland, haben ihnen geholfen, Anti- Nazi- Flugblätter herzustellen.(...) Eine wachsende Anzahl junger Deutscher wünscht lebhaft das Ende des Dritten Reiches. Viele darunter wagen Leben und Freiheit, um gegen die Untaten der Nazis anzugehen. Manchmal kann man die Angehörigen an bestimmten Zeichen erkennen. Das verbreitetste Zeichen ist das Edelweiß unterm Rockaufschlag.“6

C. Anhang - Literaturverzeichnis

Battmer, Gerd et al.: Faschismus in Deutschland und Neonazismus oder: Warum die „Holocaust“-Diskussion nicht ausreicht. Unterrichtseinheiten und Materialien für die Sekundarstufe I und II - Materialien für den Politikunterricht. Dortmund, 1981

Bergschicker, Heinz: Deutsche Chronik. Alltag im Faschismus 1933 - 1945. Berlin, 1983

Helmers, Gerrit/ Kenkmann, Alfons: „Wenn die Messer blitzen und die Nazis flitzen...“. Der Widerstand von Arbeiterjugendcliquen und - banden in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“. Lippstadt, 1984

Jahnke, Karl Heinz: Geschichte der deutschern Arbeiterjugendbewegung 1904 - 1945. Dortmund, 1973 Derselbe: Jungkommunisten im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus. Dortmund 1977

Kammer, Hilde et al.: Jugendlexikon Nationalsozialismus. Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933 - 1945. Hamburg, 1982

Klönne, Arno: Gegen den Strom. Ein Bericht über die Jugendopposition im Dritten Reich. Hannover/Frankfurt am Main, 1958

Derselbe: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. München, 1990

Derselbe: Jugendprotest und Jugendopposition. Von der HJ-Erziehung zum Cliquenwesen der Kriegszeit in: Bayern in der NS-Zeit. Bd.IV, Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil C hrsg von Martin Broszat u.a., München/Wien 1981 (S.527 - 620).

Mammach, Klaus: Widerstand 1939 - 1945. Berlin, 1987

Mason,Timothy Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft Opladen 1977

Peukert, Detlev: Die Edelweisspiraten. Protestbewegungen jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Köln, 1980 S.81

Staatsarchiv Münster: Jugendgefährdung im Kriege Akten der Gauleitung Westfalen- Nord vom 13.1.1944

[...]


1 Mason,Timothy Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft Opladen 1977 S.225

2Klönne, Arno: Judendprotest und Jugendopposition. Von der HJ-Erziehung zum Cliquenwesen der Kriegszeit in: Bayern in der NS-Zeit. Bd.IV, Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil C (S.527 - 620). hrsg von Martin Broszat u.a., München/Wien 1981 S.609

3 Jugendgefährdung im Kriege Staatsarchiv Münster: Akten der Gauleitung Westfalen- Nord vom 13.1.1944

4nach dem bekannten Lied „Hoch auf dem gelben Wagen„ „Wir bilden ein’ Idiotenclub und laden herzlich ein. Bei uns ist jeder Gern gesehen, nur blöde muß er sein, und wer der Allerblödste ist, wird Oberidiot.„

5 Peukert, Detlev: Die Edelweisspiraten. Protestbewegungen jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Köln, 1980 S.81

6 BBC- Sendung vom Januar 1945 zitiert nach Klönne, Arno: Gegen den Strom. Ein Bericht über die Jugendopposition im Dritten Reich. Hannover/Frankfurt am Main, 1958 S.108

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Arbeiterjugend im Widerstand
Note
1,2
Autor
Jahr
2000
Seiten
17
Katalognummer
V104488
ISBN (eBook)
9783640028207
Dateigröße
377 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Relativ unbekannte Formen des Widerstands unter Arbeiterjugendlichen gegen Faschismus und Krieg
Schlagworte
arbeiterjugendliche im widerstand gegen den hitlerfaschismus
Arbeit zitieren
Sebastian Hudelmaier (Autor:in), 2000, Arbeiterjugend im Widerstand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104488

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